Health in Europe in the Interwar Years - Perspectives, Realities and Experiences in East and West

Health in Europe in the Interwar Years - Perspectives, Realities and Experiences in East and West

Organisatoren
Prof. Wolf D. Gruner und Dr. Iris Borowy von der Universität Rostock
Ort
Groß Breesen (bei Güstrow)
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.05.2003 - 18.05.2003
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Von
Iris Borowy, Universität Rostock

Vom 15. bis 18.Mai 2003 fand in Groß-Breesen bei Güstrow ein internationales Kolloquium zum dem Thema "Health in Europe in the Interwar Years - Perspectives, Realities and Experiences in East and West" statt. Eingeladen zu der Veranstaltung hatten Professor Wolf D. Gruner und Dr. Iris Borowy von der Universität Rostock. Gefördert wurde die Tagung von der Volkswagen-Stiftung. Die Veröffentlichung von Tagungsbeiträgen ist in Vorbereitung.

Das Kolloquium begann am 15.5. mit der Begrüßung durch die Veranstalter. Einleitend gingen Professor Wolf D. Gruner und Dr. Iris Borowy auf die zunehmende Bedeutung und Profilierung der Gesundheitsforschung innerhalb der Geschichtsschreibung ein. Dabei würdigte Professor Gruner insbesondere die herausragende Rolle, die englische Historiker auf diesem Gebiet geleistet haben, und freute sich, dass mit Paul Weindling und Robert Lee zwei führende Vertreter dieser Schule anwesend waren. Daran anschließend ging er darauf ein, dass sich in Westeuropa mehrere wichtige Forschungszentren gebildet hätten, während in mittel- und osteuropäischen Staaten noch immer ein erheblicher Forschungsbedarf bestünde. Dr. Iris Borowy führte vor diesem Hintergrund aus, dass die Idee zu dieser Tagung aus der Erfahrung erwachsen sei, dass die gegenwärtige Forschungslage kein kohärentes Bild zur "Gesundheit" der Zwischenkriegszeit biete. Daraus sei der Wunsch entstanden, Wissenschaftler dieses Gebietes zusammenzuführen und den Anstoß für eine Sammlung von Forschungsergebnissen und einen weiterführenden Dialog zu bieten. Dabei wurde Wert auf die Einbeziehung interdisziplinärer Perspektiven gelegt, was dank der Teilnahme von Historikern, Medizinhistorikern, Medizinern, Demographen und Volkswirten gelungen sei. Als Unterthema bot sich die Ost-West-Thematik an, da diese mit der weitreichenden Neuordnung Osteuropas nach dem Ersten Weltkrieg prägend für die Zwischenkriegszeit gewesen sei und die Entwicklungen nach dem Ende des Kalten Krieges teilweise an diese Ereignisse anschlössen. Diese Veranstaltung sollte dazu dienen, Brücken zu schlagen und an einigen Stellen, Lücken zu füllen, aber auch, neue Fragen zu erkennen.

Die Tagung begann mit zwei einführenden Vorträgen über Bemühungen aus heutiger und damaliger Zeit, ein Bild über die Krankheits- und Sterblichkeitsentwicklung der Zwischenkriegszeit zu erhalten. Als erstes trug Dr. Ulrich Koppitz den Beitrag von Professor Jörg Vögele (Düsseldorf) zu "The Concept of Epidemiological Transition in Germany" vor (Professor Vögele selbst war leider aufgrund eines Unfalles verhindert). Darin wurden die langfristigen Mortalitätsdaten Preußens in Hinblick auf ihr Verhältnis zu Abdel R. Omrans Konzept des Epidemiologischen Übergangs untersucht. Die drei Phasen, d.h. das Zeitalter 1. der Seuchen und Hungersnöte, 2. der zurückgehenden Pandemien und 3. der degenerativen Krankheiten, ließen sich im Wesentlichen im Preußen des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisen. Dabei ging die Erhöhung der Lebenserwartung überwiegend auf den Rückgang der Kindersterblichkeit zurück, welche noch im 19. Jahrhundert aufgrund von Infektionskrankheiten, insbesondere Krankheiten des Verdauungstraktes, größere Auswirkungen auf die allgemeine Sterblichkeit gehabt habe als die Cholera. Im zwanzigsten Jahrhundert sank sie zum einen als Folge der sanitären Reformen, war zum anderen aber stets auch abhängig von dem Ausmaß, in dem Säuglinge gestillt wurden. Tatsächlich sei Stillen offenbar ein entscheidenderer Faktor für die Überlebenschancen von Kleinkindern gewesen als das Einkommensniveau des Vaters. Dadurch, dass das Stillen zudem die Fertilität senke, habe es in zweifacher Weise die kindlichen Überlebenschancen erhöht.

Der nachfolgende Vortrag von Professor Paul Weindling (Oxford) über "The Politics of Interwar Total Health Surveys" untersuchte, wie Zeitgenossen das Phänomen Krankheit zu erfassen suchten. Vor dem bereits genannten Hintergrund, dass Infektionskrankheiten gegenüber Degenerationskrankheiten an Bedeutung verloren, weckte die Erforschung von Krankheits- und Gesundheitsbedingungen international großes Interesse. Nachdem bereits 1920 der österreichische Hygieniker Rosenfeld darauf hingewiesen hatte, dass die Angaben über Tuberkuloseerkrankungen in den einzelnen Staaten ebenso national-kulturellen wie medizinischen Gegebenheiten unterworfen waren, widmeten sich in den folgenden Jahren eine ganze Reihe von Untersuchungen dem Problem der Erfassung und Messbarkeit von Gesundheit. Amerikanische Einrichtungen wie die Milbank Foundation und individuelle Medizinstatistiker wie Edgar Sydenstricker und Frank Boudreau erstellten wegweisende Studien, die die Aussagekraft von Mortalitätsraten für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung in Frage stellten und ein Umdenken in der Gesundheitspolitik anhand von Gesundheitskennziffern forderten, an deren Aufstellung sie arbeiteten. Dazu brachte der belgische Mediziner René Sand physiologische Kriterien wie u.a. Größe und Gewicht in die Diskussion ein. In einem anderen Kontext bewegte sich dagegen die Forschung im nationalsozialistischen Deutschland, die, mit einem Schwerpunkt auf Krebs, holistische Gesundheitsbetrachtungen mit ideologisch gefärbtem Gedankengut der Naturverbundenheit, "Rassegesundheit" und Industriefeindlichkeit verbanden. Alle Studien spiegelten die nationalen und weltanschaulichen Hintergründe ihrer Entstehungsorte wider und seien somit sowohl als Indikator für Perzeption, wie als Berichte über Gesundheitszustände zu interpretieren.

Die sich anschließende lebhafte Diskussion befasste sich mit der Erfassbarkeit von Gesundheit innerhalb eines nationalen Kontextes. So wurde in Frage gestellt, inwieweit Preußen als repräsentativ für Deutschland gelten könne. Zudem wurde die Zuverlässigkeit der Angaben zum Stillverhalten der Mütter problematisiert, da die Perzeption des Stillens zeitlichen und kulturellen Unterschieden unterworfen sei. Auch die Instrumentalisierbarkeit und Instrumentalisierung von Gesundheitsdaten im Interesse politischer Weltanschauungen und die Möglichkeiten des Historikers, damit umzugehen, wurden thematisiert. So mache die ideologische Komponente zeitgenössischer Angaben eine bewusste Quellenkritik erforderlich. Andererseits dürfe damit nicht deren Aussagekraft von vorneherein diskreditiert werden, zumal die Autoren der genannten Studien letztlich die Fragen stellen, die auch die heutigen Historiker interessierten.

Am 16.Mai stellten sich ähnliche Fragen im Kontext quantitativer Analysen. Professor Robert Lee (Liverpool) machte mit einer desillusionierenden Darstellung über "Cause-of-death Classification in Interwar Europe and the Quality of Mortality Data" alle Hoffnungen auf Eindeutigkeit von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten zunichte. So verhinderten eine Reihe von Faktoren die Verlässlichkeit der Daten: die begrenzte Übernahme der standardisierten Todesursachenliste, die nur in einem Teil der Staaten vollständig übernommen wurde; die verbreitete Praxis, Todesfälle insbesondere von Neugeborenen und Kindern durch Laien, oft die nächsten Verwandten, zu melden; der Mangel an post mortem Untersuchungen; Reibungsverluste durch dezentralisierte Verwaltungsstrukturen; unzureichende Finanzierung von Datensammlungen; die begrenzte Kooperation von Ärzten; unterschiedliche Verwendungstraditionen von Begriffen wie "Senilität" und "Alter" als Todesursache etc. Anschließend wurden die Auswirkungen dieser Unschärfen diskutiert. Dabei zeigten sich gegensätzliche Tendenzen, vertreten durch Paul Weindling auf der einen Seite, der argumentierte, dass die Fragestellung Bereiche von Kultur und Politik berühre und dadurch interessanter werde, die Forschung also bereichere. Dem hielt Robert Lee entgegen, dass die Probleme die Sicht auf die Fakten verstelle und somit die Forschung erschweren. In der Frage nach dem Wert der überlieferten Daten wurde die Forderung nach einer Matrix erhoben, die eine Abschätzung ihrer Zuverlässigkeit erlauben würde.

Dr. Andrea Wagner (München) hob in ihrem Beitrag über "Mortality and Morbidity in Germany between 1920 and 1938" hervor, dass die aggregierten Daten zur Mortalität in Deutschland, die eine eindruckvolle Reduktion der Sterblichkeit und den größten Zuwachs der Lebenserwartung aller westlichen Staaten darstellten, über große regionale und zeitliche Unterschiede hinwegtäuschten. So begannen die frühen zwanziger Jahre zunächst mit Verschlechterungen der allgemeinen Daten. Zudem standen große Verbesserungen in der Lebenserwartung in Hessen weniger positiven Entwicklungen im Osten (Schlesien) und Süden (Bayern) gegenüber. In den dreißiger Jahren nahmen zwar die Sterberaten für Säuglinge und Kleinkinder ab, die für Kinder dagegen zu. Auch stiegen die Diphtherieerkrankungen im Gegensatz zu den USA in Deutschland. Schließlich gab es große Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Gebieten, wobei die allgemein positive nationale Entwicklung vor allem auf Erfahrungen in den Städten zurückging. Insgesamt müsse daher jede allgemeine Aussage über größere Gebiete kritisch hinterfragt werden.

Eine gegensätzliche Herangehensweise verfolgte Dr. Iris Borowy, die über das Internationale Gesundheitsjahrbuch der Gesundheitsorganisation des Völkerbundes referierte. Diesem Jahrbuch, das 1924 bis 1940 erschien, kommt als erstem Versuch einer Gesamteinschätzung der Weltgesundheit eine besondere historische Bedeutung zu. Der Schwerpunkt der Analyse lag auf der Einordnung von Gesundheitsthemen in Größenordnungen und Perzeptionen, da die gesammelten Daten lückenhaft und teilweise nicht standardisiert sind. So konnten bereits angesprochene Tendenzen bestätigt werden, dass Krebs- und Herzkreislauferkrankungen als Todesursachen gegenüber Tuberkulose an Bedeutungen zunahmen. Dessen ungeachtet wurde Tuberkulose in allen Staaten als Problem erkannt und behandelt, Krebs dagegen in einem weit geringeren Ausmaß und Herzerkrankungen gar nicht. Noch stärker gingen bei Selbstmord die reinen Daten und ihre Behandlung in den Texten auseinander. Obwohl Selbstmord in allen Staaten eine Todesursache von spürbarer Bedeutung war, in aggregierten Zahlen in etwa vergleichbar der Grippe, wurde nur letztere als Gesundheitsproblem thematisiert. Ähnliche, wenn auch regional unterschiedliche Diskrepanzen wurden für die Bereiche Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten deutlich. Insgesamt zeigte sich, dass eine Einteilung in Ost- bzw. Westeuropa nicht sinnvoll war, sondern dass jeweils regionale Gegebenheiten entscheidender waren als großräumige Faktoren. Fragen richteten sich auf die Aussagekraft stark aggregierter Daten bzw. aufgegliederter Daten. Beispielhaft vermutete Andrea Wagner, dass sich der Ausschluss von 8000 jüdischen von insgesamt 36 000 Ärzten auf lokaler Ebene bemerkbar gemacht haben mochte, national jedoch durch das rasche Nachrücken nicht-jüdischer Ärzte kompensiert worden sei. Zudem wurde diskutiert, inwieweit die Erhöhung der Geburtenraten in Deutschland auf nationalsozialistische Propaganda oder schlicht auf die Abnahme der Arbeitslosigkeit zurückginge, bzw. inwieweit eine Trennung möglich und sinnvoll sei.

Die nachfolgende Sitzung schloss an die Thematik der Wahrnehmung und Nutzung von Krankheitskonzepten durch Gesellschaften an. Zunächst analysierte Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach in "The Construction of the ‚Anti-Social Consumptive' in the Interwar Years" am Beispiel der Tuberkulose in Württemberg die sich wandelnde Perzeption von Krankheit. Vor dem Hintergrund der schlechten Rahmenbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg, in denen Tuberkuloseerkrankungen zunahmen, während gleichzeitig die Behandlungsmöglichkeiten begrenzt blieben und Sanatorienplätze teilweise für Kriegsverletzte benötigt wurden, wandelte sich das Bild der Tuberkuloseerkrankten in der Öffentlichkeit. So wurden Patienten zunehmend mit negativen Bezeichnungen wie "Egoisten" belegt. In mehreren deutschen Ländern konnten Tuberkulosekranke zwangshospitalisiert werden, wenn sie wegen "großer Boshaftigkeit" oder "rücksichtslosen Verhaltens" als Infektionsgefahr für die Allgemeinheit galten. Ein großes Problem stellte die Einsichtslosigkeit" dar, welche viele Patienten angesichts mangelnder Therapieerfolge an den Tag legten, und die von Ärzten regelmäßig hart geahndet wurde. So wurde unterschieden zwischen "wertvollen" und "wertlosen Patienten, wobei sich diese Differenz in lebensentscheidenden Unterschieden in der Betreuungsintensität niederschlagen konnte. Insgesamt lässt sich am Beispiel der Tuberkulose der Wandel vom Verständnis von Gesundheit als Zustand der Bevölkerung zum Zustand der Nation ablesen, wie sie sich unter nationalsozialistischer Herrschaft endgültig durchsetzte.

Eine ähnliche Problematik aus völlig anderer Perspektive behandelte der Vortrag von Dr. Nadav Davidovitch (Beer Sheva), "European Jewish Immigrants, Zionist Ideology and the Medical Selection Dilemma". Für die europäisch-jüdische Gemeinde im Palästina der Zwischenkriegszeit waren Konzepte von Krankheit und Gesundheit verwoben mit der Idee der Einwanderung. Dabei konkurrierte die zionistische Forderung, eine Heimstätte für alle Juden weltweit zu gründen mit dem ebenfalls zionistischen Plan, nicht nur einen neuen jüdischen Staat sondern auch einen neuen jüdischen Menschen zu schaffen. Dieser eugenisch beeinflusste Gedanke kam in den medizinischen Untersuchungen der Immigrationsbehörden zum Tragen. In dafür entwickelten Richtlinien, die auch Einwanderungsbüros in Europa zur Verfügung standen, wurde "Humanmaterial" in Gesundheitsgruppen A - C eingeteilt. Im Vergleich zu "Westjuden" wurden "Ostjuden" kritischer betrachtet. Sie galten als zivilisierungsbedürftig, und sie stellten den größten Teil der Menschen, die in ihr Ursprungsland zurückgeschickt wurden. So machten vor allem polnische Juden etwa ein Drittel aller Zurückgewiesenen aus, meist aufgrund von Tuberkulose oder Geisteskrankheiten. Insgesamt war die Anzahl der Betroffenen jedoch klein und erfolgte nur bei Auffindung von Verwandten in der Heimat, so dass die medizinische Untersuchung eher den Charakter eines Eingliederungsrituals denn einer stringenten Prüfung erhielt. Ähnlich wie bei der Tuberkulosebehandlung in Württemberg zielte die medizinische Arbeit weniger auf den Patienten als die umgebende Gesellschaft.

Die zwei folgenden Vorträge in der Nachmittagssitzung untersuchten verschiedene Versicherungsorganisationen. Dr. Martin Gorsky (Wolverhampton)und Dr. Bernard Harris (Southampton) unterstrichen in "The Measurement of Morbidity in Interwar Britain: Evidence from the Hampshire Friendly Society" die Problematik, Mortalitätsdaten als kennzeichnend für den Gesundheitsstatus einer Bevölkerung anzunehmen. Mit der Analyse von den Daten einer kleinen Versicherung in Südmittelengland war daher eine Annäherung an das tatsächliche Krankheitsaufkommen und ihre Einordnung in den gesellschaftlichen Kontext intendiert. So konnte eine generelle Zunahme der Krankheitsmeldungen vom Beginn des Jahrhunderts in die 1930er Jahre verzeichnet werden. Obgleich verschiedene Faktoren wie der Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und auch die finanzielle Ausstattung und damit das Bearbeitungsverfahren der Versicherung die Zahlen beeinflussten, so schien das Krankheitsmuster doch am stärksten mit dem Alter der Mitglieder zu korrelieren. Erste Ergebnisse unterstützen somit die These von James Riley, dass mit der Lebenserwartung auch die Morbidität steige. Allerdings seien weitere Studien zu anderen Regionen dringend notwendig.

Brigitte Widdershoven (Tilburg/Amsterdam) konzentrierte sich in "Mutual Health Insurance in the Netherlands in the Period 1920 - 1941" auf den Aufbau und die Arbeitsweise von holländischen Versicherungen am Beispiel einer jüdischen Institution in Amsterdam. Obgleich Krankenversicherungen in den Niederlanden bis 1945 freiwillig waren und keinerlei staatliche Unterstützungen erhielten, waren bereits 1920 knapp ein Viertel, zu Kriegsbeginn über die Hälfte aller Niederländer krankenversichert. Die Versicherungsträger verstanden es, durch Anpassung sowohl an individuelle (Arbeitslosigkeit, Todesfälle) als auch an gesellschaftliche Probleme (Wirtschaftskrisen) ihre zentrale Rolle in Sozialwesen des Staates zu behaupten und auszubauen. Im Anschluss wurden verschiedene Fragen zur Rolle von Krankenversicherungen diskutiert. Inwieweit verfälschen krankheitsunabhängige Faktoren die Statistiken bzw. inwieweit sind die Informationen über bestimmende Faktoren zugänglich? Warum schließen Menschen überhaupt eine freiwillige Versicherung ab? Geht mit dieser Selbstauswahl von Personen bereits eine Verfälschung des statistischen Bildes einher?

Auch die nächste Sitzung mit den Schwerpunkten England/Wales bzw. Tschechoslowakei setzte sich mit Fragen der Interpretierbarkeit von Daten auseinander. Dr. Humphrey Southall (Portsmouth) berichtete in "The Changing Geography of Death in England, Edward VII to George VI" von einem größeren Forschungsprojekt an der Universität Portsmouth. Unter Nutzung der dort vorhandenen Great Britain Historical Database können Zensusdaten und Vitalstatistiken von 1800 Distrikten statistisch ausgewertet und lokal genau aufgeschlüsselt werden. So konnten durch eine akribische Korrelation von Daten Verbindungen zwischen Kindersterblichkeit und zentralen Faktoren wie Wohndichte, Arbeitslosigkeit, Berufen der Eltern sowie Berufstätigkeit der Mutter untersucht und nachgewiesen werden. Demgegenüber unterstrich Dr. Pamela Michael (Bangor) in ihrem Vortrag "Health Variations in Interwar Wales" die Bedeutung von statistisch nicht erfassbaren Einflussfaktoren. So spielte die Haltung von Familien, Lehrern oder der Gemeinde häufig eine entscheidende Rolle für die Gesundheit von Kindern. Unter Nutzung von Bildmaterial, zeitgenössischen Reise- und Arztberichten sowie Vitalstatistiken erstellte Dr. Michael ein lebendiges Bild der erlebten Gesundheitslage und ihrem Einfluss auf das kollektive Identitätsgefühl der Walliser. Dabei verhinderten hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse, schlechte Ernährung und Bekleidung sowohl in den dicht besiedelten Industriezentren als auch in den dünn besiedelten landwirtschaftlichen Gebieten, dass die Gesundheit ein vergleichbares Niveau wie in England erreichte.

In der folgenden lebhaften Diskussion wurde insbesondere die Notwendigkeit hervorgehoben, ein breites Spektrum von Quellen zu nutzen, um wertvolle Statistiken sinnvoll zu interpretieren. Bei ausschließlicher Nutzung von Zahlenmaterial könnten gleich bleibende Daten bei Änderung eines Faktors suggerieren, dieser Faktor (z.B. Arbeitslosigkeit) habe keinen Einfluss, während er in Wirklichkeit eine Anzahl gegenläufiger Wirkungen auslöse.

Eine ähnliche Diskussion folgte auf die Vorträge von Dr. Petr Svobodny und Dr. Hana Masova (beide Prag) zu "Health and Health Care in Czechoslovakia 1918 - 1938", die sich mit der Entwicklung des Krankheitsspektrums sowie der Entwicklung der öffentlichen Gesundheitspflege in der Tschechoslowakei beschäftigten. Die staatliche Neugründung 1918 zog eine Reihe von Schwierigkeiten nach sich: so waren die Verwaltung wie auch die Menschen auf die gravierenden wirtschaftlichen Probleme schlecht vorbereitet (die als Gründe für die hohe Selbstmordrate angesehen wurden), und insbesondere die mangelnde Kohärenz des aus unterschiedlichen Teilen des Habsburger Reiches geformten Landes konnte nie überwunden werden. Mit einer Reihe von zeitgenössischen Karten demonstrierte Dr. Masova eine teilweise frappierende Teilung des Landes in einen Westen mit niedriger Kindersterblichkeit, höherem Durchschnittsalter, und hohen Todesraten durch Krebs und Herzkreislauferkrankungen sowie in einen Osten mit hoher Kindersterblichkeit, geringerem Durchschnittsalter und hoher Inzidenz von Infektionskrankheiten. Dieser Zweiteilung entsprach eine Fragmentierung des aus der Habsburger Zeit übernommenen öffentlichen Gesundheitsdienstes, in der Schwerpunktsetzungen auf kurativer bzw. präventiver Medizin sowie widersprüchliche Versicherungssysteme miteinander konkurrierten.

Verschiedene Wortbeiträge thematisierten, inwieweit die extreme Ost-West-Zweiteilung als solches akzeptiert werden könne bzw. statistisch zu hinterfragen sei. So könne eine stärkere Einbeziehung der Altersstruktur sowie der Tradition der Klassifizierung von Todesursachen zu einer Relativierung der Ergebnisse führen. Ebenso sei zu fragen, inwieweit die aus der Zeit selbst stammenden Karten politisch instrumentalisiert oder bereits mit dem Ziel erstellt wurden, um dem "fortschrittlichen Westen" einem "rückschrittlichen Osten" gegenüber zu stellen. Des Weiteren wurde diskutiert, inwieweit es sinnvoll sei, überlieferte Statistiken zu standardisieren, indem sie etwa um Unterschiede in der Altersstruktur bereinigt würden, obgleich die praktisch erfahrene Gesundheitslage der Menschen die divergierenden Altersstrukturen einschloss.

Die letzten drei Beiträge behandelten Fallbeispiele an den Schnittpunkten von Medizin, Gesundheit und Politik. Professor Esteban Rodriguez-Ocaña (Granada) behandelte in seinem Vortrag zu "The Fight against Malaria, a Show-Window for the Spanish Public Health Department in Interwar Europe" die sich wandelnde Perzeption und Behandlung von Malaria in Spanien. Als Problem insbesondere einiger landwirtschaftlich geprägter Regionen, traf Malaria ein Land wie Spanien mit zwei Drittel ländlicher Bevölkerung schwer. So gingen dem Staat in den zwanziger Jahren durch Malaria jährlich fünf Millionen Arbeitstage verloren. Nach verschiedenen alarmierenden Studienreisen wurde 1920 ein Zentrales Komitee gegen Malaria gegründet, das konsequent gegen die Krankheit vorging. So wurden durch Massenuntersuchungen Malariakranke identifiziert und verschiedene soziale Hilfsleistungen von einer vollständigen Chinin-Behandlungen abhängig gemacht. In der Diskussion wurde bedauert, dass Malaria, eine Krankheit, die in der Zwischenkriegszeit für verschiedene europäische Staaten ein gravierendes Problem darstellte, zwar in west-, nicht jedoch in osteuropäischen Ländern erforscht werde. So stellten beispielsweise Rumänien und die UdSSR mit hohen Malariazahlen eklatante Forschungsdesiderate dar.

Professor Wolfgang Eckart (Heidelberg) stellte in seinem Vortrag "Foreign Cultural Policy and Medicine between the Wars: Heinrich Zeiss and the Soviet Union, 1921 - 1930" die Arbeit des deutschnationalen Mediziners Heinrich Zeiss vor. In einer Mischung aus medizinischer und politisch-weltanschaulicher Mission kooperierte dieser mit sowjetischen Gesundheitsstellen, wurde ein volles Mitglied der Leningrader Akademie der Wissenschaften, organisierte einen bilateralen Medizineraustausch und führte Forschungsreisen ins Landesinnere durch. Obgleich er sich zweifellos als Freund Russlands fühlte, sandte er in inoffizieller Spionagetätigkeit regelmäßig Berichte über seine Beobachtungen an die deutsche Botschaft und suchte die Verbreitung deutscher Pharmaprodukte zu fördern. Dabei verfolgte er Ideen von Geomedizin, in der sich Gedankengut von holistischer Medizin, Tropenmedizin, Epidemiologie und Blut-und-Boden Ideologie mischten, die teilweise Eingang in den Generalplan Ost fanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er von sowjetischen Behörden in Ostberlin inhaftiert und 1948 hingerichtet. In der Diskussion wurde die Vermischung von medizinischem Wissen, Sendungsbewusstsein und Nationalismus, aber auch internationaler Kooperation, diskutiert und die Frage aufgeworfen, inwieweit dieses Konglomerat gerade für die Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa prägend war.

Schließlich stellte Dr. Boleslav Lichterman (Moskau) in "The Birth of the Neurosurgery Clinic in the Interwar Period (in the USSR, UK and France)" anhand eines Spezialfalles dar, wie medizinisches Wissen sich in Europa von West nach Ost ausbreitete. Ausgehend von den USA, etablierte sich die Neurochirurgie in Großbritannien bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In Frankreich wurde die erste neurochirurgische Operation erst 24 Jahre später durchgeführt. Über einzelne Experten gelangte die Technik wenig später in die UdSSR. Zeitlich versetzt entwickelte sich stets eine experimentelle Wissenschaft an der Grenze zwischen Chirurgie und Neurologie.

In der abschließenden Diskussion bestand Konsens darüber, dass die Interdisziplinarität des Treffens die unterschiedlichen Herangehensweisen, Fragestellungen und Arbeitsmethoden der Teilnehmer deutlich gemacht habe und für die Auseinandersetzung mit dem Thema außerordentlich fruchtbar gewesen sei. Insbesondere die Unterschiede zwischen stärker quantitativer und stärker qualitativer Forschung hätten die Auseinandersetzungen bereichert. Dadurch wären stellenweise zwar mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet worden, im Gesamtzusammenhang der Thematik wurde dies jedoch als positiv bewertet. Bedauert wurde, dass durch die kurzfristige Absage einiger Teilnehmer die Ost-West Komponente der Tagung weniger ausgeprägt gewesen war als geplant, und es wurde die Frage gestellt, wie bessere Kontakte zu osteuropäischen Kollegen hergestellt und ihre stärkere Einbindung trotz schwieriger Situationen im Heimatland erreicht werden könnten. Dies wurde gerade angesichts des hohen Forschungsbedarfs zur Gesundheit der Zwischenkriegszeit in ihrem sozialen, wissenschaftlichen, politischen und psychologischen Kontext gerade in Osteuropa als äußerst wünschenswert angesehen. Vor diesem Hintergrund wurde die Idee einer Fortführung des internationalen und interdisziplinären Dialogs wurde von allen Teilnehmern begrüßt, und es wurde beschlossen, ein informelles, für alle Interessenten offenes Netzwerk mittels einer Mailing-Liste zu schaffen. Ansprechpartner ist Dr. Iris Borowy, iris.borowy@philfak.uni-rostock.de.


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