Ästhetik und Alltagserfahrung, VII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik

Ästhetik und Alltagserfahrung, VII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik

Organisatoren
Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (DGAE), Lambert Wiesing, Professur für vergleichende Bildtheorie, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2008 - 02.10.2008
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Von
Martina Sauer, Bauhaus-Universität Weimar, Elke Beilfuß, Bauhaus-Universität Weimar

„Mit welchen Methoden lässt sich die ästhetische Erfahrung zum Alltag öffnen, ohne dabei den Alltag als große Kunst zu werten?“ Mit dieser Frage eröffnete der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik LAMBERT WIESING (Jena) den 7. Kongress der Gesellschaft in Jena. In 58 Referaten wurde hier vier Tage lang vom 29.09. bis 02.10.2008 zum Thema Ästhetik und Alltagserfahrung diskutiert. Neben der Natur- und Kunsterfahrung könne, so Wiesing, die Einbeziehung der Alltagserfahrung die Weite ästhetischer Empfindungen deutlich machen und zugleich zu deren Binnendifferenzierung beitragen. Hintergrund und zugleich Anlass für rege Diskussionen lieferte die immer noch Maßstäbe setzende Aussage Kants, wonach sich ästhetische Erfahrung durch interessenloses Wohlgefallen auszeichne, während im Alltag Funktionalität und Nützlichkeit bzw. lebensweltliches Interesse dominiere. Dass dem entgegen heute die Grenzen zwischen beiden Erfahrungswelten verwischen und entsprechend eine Annäherung erkennbar wird, machten zahlreiche Beiträge deutlich. Erfrischend wirkte auf dieser Tagung, dass neben etablierten Lehrstuhlvertretern aus dem breiten Kanon der kulturwissenschaftlichen Fächer einschließlich der Soziologie viele Vertreter aus dem Mittelbau und insbesondere Frauen als Referentinnen eingeladen wurden. Die Tagungsorganisation sorgte Dank großzügiger Unterstützung und Förderung durch die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Fritz Thyssen Stiftung und die Firma Reisenthel für den entsprechenden Rahmen.

Wie sehr der Alltag bereits von der ästhetischen Erfahrung dominiert ist, betonte KONRAD PAUL LIESSMANN (Wien) in seinem Eröffnungsvortrag. Demnach finde mit der Postmoderne eine „Depotenzierung der ästhetischen Erfahrung“ statt, in der statt Verstehen Genuss in den Vordergrund trete. Entsprechend charakterisieren den Alltag verklärende Stimmungen, die diesem einen „Schimmer“ verleihen und „eine Ahnung weniger Momente geglückten Lebens“ geben.

In den nachfolgenden Sektionen mit bis zu vier parallel angesetzten Referaten am Vor- und am Nachmittag standen jeweils die Abgrenzung der ästhetischen Erfahrung zum Ding, aber auch zum Spielzeug, zum Design, zur Mode, zur Fotografie und zum Film sowie zu Kunst und Kitsch und in alltäglichen Handlungen im Fokus. Positionen dazu in der Philosophie und Bildtheorie ergänzten das Programm.

Die Tendenz zur Angleichung von ästhetischen Erfahrung und Alltagserfahrung zeigte sich auch im Film. Denn die Erfahrung des „als ob“, wie sie der Film mit seinen Stars vermittelt, könne, so JOSEF FRÜCHTL (Amsterdam) als eine ästhetische Erfahrung bewertet werden, in dem den Akteuren Vertrauen geschenkt wird, die dem Zuschauer eine Übereinstimmung von Ich und Welt ermöglicht, mit der es ihm gelinge, seine Existenzangst zu überwinden. Wie sehr auch die Mode dem „als ob“ gerecht wird, zeigte PETRA LEUTNER (Hamburg) auf, in dem sie die affektive Kraft betonte, die eine sakrale Aufladung der Mode ermögliche. Sie kann, nach Leutner, als die Grundlage für eine pathologische Sucht nach permanentem Konsum angesehen werden. Das Spiel der Mode, das ursprünglich ein interessenloses Wohlgefallen erlaube, wird durch die von der Ökonomisierung betriebenen Intensivierungstechniken zum „must have“ erhöht. Statt einer Entlastung von Wahrheit und Moral finde eine Belastung statt und das Ich reduziere sich auf Wünsche. Dass Mode von Moderedakteuren „irritierend“ inszeniert auch die Möglichkeit eröffnet, dem „must have“ zu entgehen und stattdessen dem eigenen Begehren zu begegnen und damit Freiräume schaffen kann, zeigte DAGMAR VENOHR (Potsdam).

Wie der Horror im Film, aber auch die romantische Komödie, die Unerträglichkeit des Gewöhnlichen (Stanley Cavell) durchbrechen kann, arbeitete MIRJAM SCHAUB (Berlin) in ihrem Beitrag heraus. Beide Genre ermöglichen den individuellen Schutzraum jedes Einzelnen zu durchstoßen, so dass das Vertraute unheimlich wird. Hierdurch entsteht eine Distanz, die die im Alltag als unerträglich empfundene Nähe (des Gewöhnlichen) kompensiert.

Gerade das Einerlei des Alltags wurde schließlich für DIMITRI LIEBSCH (Atlanta) zur Grundlage, dieses klar von der ästhetischen Erfahrung abzusetzen. Vier Punkte führte er dafür an. Komplementär zur ästhetischen Erfahrung sei die Alltagserfahrung erstens immer zeitlicher Natur (wiederkehrend, von Dauer), habe zweitens ein sachliches Moment (z.B. Bezug zur Arbeit), was, drittens, zu seiner Abwertung beitrage. Zudem zeichne sich diese, viertens, durch ein Moment der Latenz aus, was bedeutet, „dass wir nicht sehen, was tatsächlich vor unseren Augen liegt“.

Werden die Methoden der Kunstgeschichte auf das Design angewandt, können auch dort wie GOTTFRIED GABRIEL (Jena) schlüssig am Beispiel der politischen Ikonografie von Briefmarken aufzeigte, einzelne Objekte der Alltagskultur analysiert und kunstwürdig betrachtet werden. Diesem Ansatz schloss sich indirekt BERNADETTE COLLENBERG-PLOTNIKOV (Hagen) an, in dem sie herausstellte, dass die Beurteilung von dem, ob etwas Kunst sei oder nicht, im Wesentlichen von der Interpretation des Fachkundigen abhänge. Erst die Mitglieder der Kunstwelt, so Collenberg-Plotnikov, insbesondere des Museums und der Galerie, definieren durch die Ausstellung und Musealisierung das Werk als Kunstwerk.

Dass neben der Kunst auch das Design kritisch und insofern symbolisch welterschließend wirken könne, darauf verwies KATHRIN BUSCH (Lüneburg). Deutlich werde dies über die handlungsbestimmende, formende Kraft der Dingwelt, die das lebensweltliche Gefüge der Menschen prägt und Neues ermöglicht. Dass auch im Alltag „Schönheitskonstellationen stattfinden können“, zeigte CONSTANZE PERES (Dresden). Doch im Gegensatz zu Kant zeichne sich die Schönheit eines Kunstwerks nicht durch Harmonie aus, wie Objekte des Alltags, sondern durch Diskrepanzen zu einem als unerreichbar Erfahrenen, so dass eine Spannung und Unruhe entstehe, die ein „Immer-wieder-Sehen-wollen“ auslöst.

Die Nähe zur ästhetischen Gestaltwahrnehmung von alltäglichen Handlungsweisen arbeitete BRIGITTE SCHEER (Frankfurt, emeritiert) in ihrer Analyse des Takts heraus. Im dem taktvollen Umgang miteinander und in Abgrenzung zu den Regeln der Höflichkeit, sich mit Einbildungskraft und Verstand ins Spiel zu bringen und insofern betreffend, motivierend und problemlösend zu wirken, verwebe zudem ästhetische mit ethischen Momenten.

WOLFGANG ULLRICH (Karlsruhe) skizzierte in einem kurzweiligen Vortrag seine Sicht auf die alltägliche Dingwelt, die es mittlerweile vermag Tätigkeiten groß in Szene zu setzen und damit die Handlung zu ästhetisieren. Damit werde der Alltag negiert und somit romantisiert. Ullrich spricht hier von „Doping durch Design“ und „Placeboeffekten der Produkte“. So mag sich der Radfahrer durch seinen Fahrradhelm schneller fühlen und die Studentin nach morgendlichem Gebrauch ihres Sport-Active-Showergels tatsächlich aktiver. Die Alltagserfahrung wird somit zur ästhetischen Erfahrung.

Indirekt schloss LUDGER SCHWARTE (Basel, demnächst Zürich) an diese Beobachtung an und wertete diese Entwicklung als "Konsum der Entfremdung". Ästhetik übernehme hier eine gesellschaftliche Funktion, in der Fest und Alltag unterschiedslos sind und das Leben insofern von einer Ereignis-Reihe bestimmt wird. Im alltäglichen „Bloß-Fühlen“, für das Kant mit seiner Definition der ästhetischen Erfahrung die Grundlage gelegt habe, werde Lebenszeit konsumiert und als Freiheit „verkauft“. Doch Handeln und Denken als wahrhaftig ästhetische Rationalität liegt nach Schwarte in Anlehnung an Adorno im „Sinn des Unmöglichen“, wonach „im Leben wieder etwas riskiert werden muss.“. Da Ludger Schwarte von den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik am zweiten Abend zum neuen Präsidenten gewählt und Lambert Wiesing sowie Birgit Recki als Vizepräsidenten bestätigt wurden, lässt dieser Ansatz zukünftig auf lebhafte Diskussionen nicht nur zu Kant, sondern entgegen der auf der Tagung größtenteils vollzogenen Annäherung von Kunst und Alltag schließen. In dem Fokus auf "Experimentelle Ästhetik", die das Thema der nächsten Tagung in Zürich sein soll, wie Schwarte zum Abschluss des Kongresses in Jena ankündigte, klingt dieser Impuls bereits an.

Kurzübersicht:

Lambert Wiesing: Begrüßung
Konrad Paul Liessmann: Die schönen Dinge. Über Ästhetik und Alltagserfahrung (Eröffnungsvortrag)

Sektion 1: Der präsentierte Alltagsgegenstand (Moderation: Eva Schürmann)
Martina Dobbe: Die Welt ist schön. Dingerfahrung und Bilderfahrung in der Fotografie
Rüdiger Zill: Im Schaufenster. Ephemere Installationen im Alltag
Gertrud Lehnert: Paradies der Sinne. Das Warenhaus als ästhetisches Ereignis

Sektion 2: Schein und Alltag (Moderation: Hans-Christian von Herrmann)
Wolfgang Braungart: ‚Und wenn ich hame geh /Scheint der Mond so scheeh…‘. Kitsch, Literatur, Lebenswelt
Gerhard Schweppenhäuser: Kunst als Wunscherfüllung. Zur kritischen Theorie des Kitsches
Josef Früchtl: George Clooney, Brad Pitt und ich, oder: Die schöne Illusion des Vertrauens

Forum 1: Ästhetik des Films (Moderation: Birgit Recki)
Herbert Schwaab: Stanley Cavell, King of Queens und die Medienphilosophie des Gewöhnlichen
Michaela Ott: Die Ästhetik des zeitgenössischen Unterhaltungsfilms
Mirjam Schaub: Der Horror des Alltäglichen. Das Spiel mit dem Unerträglichen im Genre Film
Jörg Sternagel: Kennen wir uns nicht? Filmschauspieler als ständige Begleiter

Forum 2: Ästhetik der Situationen (Moderation: Gerd Blum)
Catrin Misselhorn: Liebe und ästhetische Erfahrung
René Seyfarth: Unheimlich Sehenswert. Ästhetik des Stadttourismus
Marie-Luise Raters: Der Alltag und das Fest
Joachim Landkammer: Schöner töten. Zur Ästhetik der Waffen und des Waffengebrauchs

Forum 3: Form im Alltag (Moderation: Jakob Steinbrenner)
Agnes Bube: Die Neuentdeckung des Gewöhnlichen – über die lebensweltliche Relevanz der Kunsterfahrung
Helmut Hartwig: Kunst und Normalität
Hermann Pfütze: Ästhetik der Lebenswelt – Schönheit der Welt – Formprinzip der Kunst
Karen van den Berg / Markus Rieger-Ladich: Schule der Ästhetik – Ästhetik der Schule

Forum 4: Mode und Ware (Moderation: Klaus Sachs-Hombach)
Petra Leutner: Leere der Sehnsucht
Dagmar Venohr: Modehandeln zwischen Bild und Text
Julia Hasenberger: Alltag in Weiß. Das Hemd als Projektionsfläche des Möglichen (ausgefallen)
Kathrin Busch: Kraft der Dinge. Kunst als Design – Design als Kunst

Sektion 3: Die Alltäglichkeit der Schönheit und der Kunst (Moderation: Christian Bermes)
Barbara Formis: Gestures, Movement and Touch
Christian Grüny: Die Welt als Kunst zweiter Ordnung
Georg W. Bertram: Die Alltäglichkeit der Kunst
Constanze Peres: Schönheit und Alltagserfahrung
Ludger Schwarte: Ästhetik als Ideologie des schönen Alltags

Sektion 4: Erzählte und gezeigte Alltagserfahrung (Moderation: Josef Früchtl)
Christiane Voss: Anästhesierung und ästhetische Erfahrung des Kinos
Stephan Günzel: In real life – Alltagserfahrung und Computerspiel
Stefan Matuschek: Gegen das Schwachsinnigwerden der Alltagssprache. Die lebensweltliche Erkenntnisfunktion der Literatur
Jens Bonnemann: Der Roman als Ablehnung des Lebens

Forum 5: Das Alltägliche in der Kunst (Moderation: Martin Seel)
Christel Fricke / Steinar Mathisen: Transsubstantiation des Alltäglichen?
Ulrich Seeberg: Kunst und Alltag in der Moderne. Philosophische Perspektiven
Sigrid Franz: Ästhetik und Alltagserfahrung. Kurt Schwitters’ Merz-Perspektive
Bernadette Collenberg-Plotnikov: Die Musealisierung des Alltäglichen. Zur Bedeutung der
Institutionen für die Kunst

Forum 6: Philosophie und Alltagsästhetik (Moderation: Reinold Schmücker)
Ronny Becker: Der Begriff der Fragilität in der Ästhetik Oskar Beckers
Klaus Schwarzfischer: Beobachtende Systeme: Dezentrierende Gestalt-Integration als Basis einer Ästhetik des Alltags
Dimitri Liebsch: Aporien des Alltäglichen
Tilman Reitz: Grenzen der Zweckästhetik. Funktionen sinnlicher Vergegenwärtigung

Forum 7: Banalität und Alltag (Moderation: Petra Leutner)
Marita Tatari: Artikulation des Alltäglichen – Das Banale als ästhetisches Phänomen (ausgefallen)
Brigitte Scheer: Zur ästhetischen Verfasstheit alltäglicher Handlungsweisen am Beispiel des Taktes
Roland Haas: Von der Ästhetik des Alltags. Hören, Sound-Design, Sound-Scapes und Field Reports
Peter Rinderle: Über die ästhetischen Erfahrung von Alltagsgeräuschen in der Musik

Forum 8: Theorien der Alltagserfahrung (Moderation: Marie-Luise Raters
Brigitte Hilmer: Täglichkeit, Wiederholung und Gewohnheit als ästhetisches Selbstverständnis
Anna Tuschling: Ein derber Witz. Freuds ästhetische Theorie des Alltags
Harry Lehmann: Die alltagsästhetische Doppeldifferenz
Jakob Steinbrenner: Wie kommt es zu ästhetischen Alltagserfahrungen?

Sektion 5: Phänomenologie der Alltagserfahrung (Moderation: Stephan Günzel)
Thomas Rolf: Bodenständigkeit. Zur Phänomenologie eines normalen Lebenszustandes
Emanuel Alloa: Was aus dem Blick fällt. Elemente einer Phänomenologie des Unscheinbaren
Dieter Mersch: Ästhetik der Dinge
Christian Bermes: Die Ästhetik der Lebenswelt als Programm der Phänomenologie

Sektion 6: Ästhetische Erfahrung ohne ästhetische Einstellung (Moderation: Rüdiger Zill)
Wolfgang Ullrich: Fiktionen und Placeboeffekte. Wie Produktdesigner den Alltag überhöhen
Gottfried Gabriel: Ästhetik und politische Ikonographie der Briefmarke
Ulf Poschardt: Das Auge überholt mit. Raserei als existenzielle Freiheitserfahrung (ausgefallen)
Jörg H. Gleiter: Alltagspraxis und Avantgardeattitüde

Sektion 7: Ästhetik und Lebenswelt (Moderation: Birgit Recki)
Ruth Maria Sonderegger: Institutionskritik? Zum politischen Alltag der Kunst und zur alltäglichen Politik des Ästhetischen
Martin Seel: Schönheit – eine kleine begriffliche Reise
Boris Groys: Ästhetik der religiösen Fundamentalismen (ausgefallen)
Ludger Schwarte: Schlusswort

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