HT 2008: Ungleichheit der Gleichen. Religiöse Egalität und soziale Distinktion in sakralen Räumen des Spätmittelalters

HT 2008: Ungleichheit der Gleichen. Religiöse Egalität und soziale Distinktion in sakralen Räumen des Spätmittelalters

Organisatoren
Matthias Meinhardt / Andreas Ranft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
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Von
Gerrit Deutschländer, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Das Wissen um den Eintritt in einen sakralen Raum wird längst nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt. Besucher der wiedererstandenen Dresdner Frauenkirche werden am Eingang auf großen Schrifttafeln darauf hingewiesen, dass sie ein Gotteshaus betreten und sich entsprechend zu verhalten haben. Die meist von Schaulust getriebenen Besucher erleben ein Gebäude, das sie durch seine Ausmaße und Schönheit beeindruckt. Wer von ihnen aber wird die Grabdenkmäler und sonstigen Ausstattungsgegenstände vermissen, die sich in anderen Kirchen über die Zeiten angesammelt haben und die von denen zeugen, die sich ausgerechnet im Versammlungsraum der Gemeinde aus der Masse der Gläubigen herausheben wollten? In der Frauenkirche findet sich kaum Platz für die bildliche Darstellung von gesellschaftlichen Unterschieden. An die Stifter der Sitzbänke erinnern lediglich Schildchen von einheitlicher Größe und Gestalt.

Die Historikertagssektion über soziale Distinktion in sakralen Räumen des Spätmittelalters wurde indes gerade angeregt durch die Spannung, die entstehen musste, wenn sich die Gläubigen in ihrer Pfarrkirche versammelten und daran erinnert werden sollten, wie unnütz das Streben nach irdischen Gütern sei und gleichzeitig, wenn sie ihre Blicke schweifen ließen, soziale Ungleichheit vor Augen hatten. Diese zeigte sich etwa darin, wer welche Kleidung trug, wer welchen Sitzplatz oder Begräbnisplatz beanspruchte oder wer wie viel Aufwand bei Hochzeiten und Begräbnissen trieb bzw. treiben durfte. Behandelt worden ist dieses wichtige Themenfeld bisher vor allem für die Frühe Neuzeit. Nun sollte es fachübergreifend für das ausgehende Mittelalter in den Blick genommen werden, wie Andreas Ranft in seiner Einführung darlegte, in der er Forschungsstand und Fragehorizonte umriss.

Sodann machte der Theologe und Kirchenhistoriker THOMAS LENTES (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) deutlich, dass die Sakralität des Kirchenraumes nicht von Anfang an gegeben war, denn die frühen Christen hatten in Abgrenzung zu den jüdischen Vorstellungen die Heiligkeit der Gemeinde betont. Erst im Laufe des Mittelalters sei eine zunehmende Sakralisierung des Raumes zu beobachten gewesen, die anfangs in der Anwesenheit der Heiligenkörper begründet lag und schließlich durch Kirchweihrituale bewusst erzeugt wurde. Häretiker und Kirchenreformer stellten diese Heiligkeit des Raumes freilich immer wieder in Frage – und auch dadurch die kirchlichen Hierarchien. Bei Luther, der eine Sakralität des Raumes ebenfalls verneinte, bleibt freilich der Ordnungsgedanke. Entscheidend ist für Lentes jedoch, dass sich eine gestufte Sakralität des Raumes herausbildete: Kirchenschiff, Chor und Sanktuarium erforderten einen unterschiedlichen Grad an Reinheit. Diese gestufte Sakralität, so Lentes’ These, habe Distinktion geschafft, die auch nach außen wirkte. Andererseits betonte er, dass im Kirchenraum nicht nur Grenzen gezogen, sondern ebenso aufgehoben worden seien: zwischen Diesseits und Jenseits, Vergangenheit und Gegenwart, Orstgebundenheit und Universalität sowie zwischen öffentlichem Kultus und persönlicher Frömmigkeit.

In den von Lentes ausgewerteten Liturgiekommentaren und theologischen Traktaten findet sich allerdings ebenso wenig Kritik an sozialer Ungleichheit wie in dem Bericht, den Joachim von Pflummern, altgläubiger Kirchmeister der einzigen Pfarrkirche zu Biberach, über die Gewohnheiten an seiner Kirche vor der Reformation aufzeichnete. Gestützt auf diesen Gewährsmann und ergänzende Quellen aus anderen Städten, vor allem Rechnungen, Testamente und Stiftungsbriefe, konnte ARND REITEMEIER (Georg-August-Universität Göttingen) eine Vielzahl an Möglichkeiten vorführen, die genutzt wurden, um soziale Unterschiede im Kirchenraum zur Schau zu stellen. Das Nebeneinander von Arm und Reich sei in diesem Bild und auf dieser Quellengrundlage sehr wohlgeordnet und nahezu konfliktfrei erschienen, als wäre die Spannung zwischen religiöser Egalität und sozialer Distinktion nicht zu spüren gewesen, aber genau darauf kam es dem Biberacher Kirchmeister wohl an: Während die Alte Kirche ein geordnetes Nebeneinander ermöglicht hat, haben gerade diejenigen, die auf religiöse Gleichheit verwiesen, größte Verwirrung gestiftet.

Aus kunsthistorischer Sicht stellte auch ANTJE HELING-GREWOLLS (Lübeck) eindrucksvolle Zeugnisse sozialer Distinktion vor. In den von ihr untersuchten Kirchen des Hanseraums wurde erheblicher Aufwand für Seitenaltäre und den Bau und Ausbau von Seitenkapellen oder Kirchstühlen betrieben. Hervorzuheben ist dabei, dass die Seitenkapellen räumlich abgetrennt und dennoch mit dem Gesamtraum verbunden waren, sowohl dauerhaft durch bildliche und architektonische Bezüge als auch vorübergehend durch Prozessionen und andere performative Handlungen. Gitter und Schranken ermöglichten Zurückgezogenheit, aber noch keine Privatheit.

Kapellen waren es schließlich auch, wo am frühesten kunstvoll durchgestaltete Kirchenmusik aufgeführt wurde. Wie der Musikwissenschaftler WOLFGANG HIRSCHMANN (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) zeigte, gehörten mehrstimmige Kompositionen seit dem 15. Jahrhundert zu den wirkungsvollsten und exklusivsten Mitteln sozialer Distinktion im Kirchenraum, wobei geradezu eine musikalische Trennung von Chor und Kapelle feststellbar sei. Im Übergang zu einer zunehmend individualisierten Andachtspraxis, die sich übrigens auch in der Entwicklung der Stifterporträts zeigte, verlangte es hochrangige Stifter nach musikalischer Ausschmückung feststehender Texte, ohne dass die Musik sofort ihre Funktionalität verloren hätte und als eigenständiges Kunstwerk aufgefasst worden wäre.

Der Kirchenraum, so lässt sich festhalten, war im Spätmittelalter ein öffentlicher Raum, der sich trotz religiöser Gleichheitsvorstellungen zu einem bevorzugten Darstellungsraum sozialer Ungleichheit entwickelte. Als solcher ist er Ergebnis und Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit, denn durch die Formierung der Pfarrgemeinden waren Ungleichheiten und Unterschiede nicht aufgehoben. In seiner Zusammenfassung verwies Matthias Meinhardt auf die Notwendigkeit, die in der Sektion vorrangig in den Blick genommenen Pfarrkirchen mit anderen öffentlichen Darstellungsräumen zu vergleichen und den interdisziplinären Zugang auszuweiten. Zuvor hatte er die zentralen Begriffsfelder in Erinnerung gerufen: Raum, Sakralität und Ungleichheit, die bereits im Sektionstitel aufschienen, sowie eng damit verbunden die Begriffe der Repräsentation, Öffentlichkeit und Kommunikation.

Eindrucksvoll dargelegt wurden in dieser Sektion die theologischen Grundlagen sowie die Formen und Medien sozialer Distinktion im Kirchenraum. Anregend war sie auch in Bezug auf den Dualismus von Sakralität und Profanität: Es gab anscheinend keine sakrale Ganzheit, in die das Profane wie ein ungebetener Gast von Außen eindrang. Vielmehr gab es eine gestufte Sakralität des Raumes, so dass profane Nutzungen unterschiedlich geduldet werden konnten.

Weiterhin schwer zu fassen bleibt allerdings die Spannung zwischen religiöser Gleichheit und gesellschaftlicher Ungleichheit. Möglicherweise trug gerade der Umstand, dass im spätmittelalterlichen Kirchenraum „alles getrennt und trotzdem zusammen“ (Lentes) war, dazu bei, diese Spannung auszuhalten. In der sozialen Ungleichheit ist jedoch nach wie vor die Hauptantriebskraft für die Ausgestaltung des Kirchenraums zu sehen, doch ist dabei nicht nur an Geltungssucht zu denken. Oftmals bestand für die Reichen ein sozialer Zwang zur Repräsentation und zur Leistung ihres Beitrags für die Gemeinde. Antworten auf die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Reicher in den Himmel kommt, oder ob die Überwindung von Ungleichheit Erlösung bringt, brauchte diese „profane Sektion“ zum Glück nicht liefern.

Sektionsübersicht:

Andreas Ranft (Halle-Wittenberg): Raumperspektiven. Eine Einführung

Thomas Lentes (Münster): Templum und Corpus. Die Sakralhierarchie des Kirchenraumes zwischen Ungleichheit und Einheit

Arnd Reitemeier (Kiel): Die Pfarrkirche als Ort sozialer Distinktion

Antje Heling-Grewolls (Lubeck): Privat und privilegiert – Seitenkapellen und Nebenaltäre in norddeutschen Kirchen

Wolfgang Hirschmann (Halle-Wittenberg): Chorus und capella – musikgeschichtliche Implikationen einer räumlichen Dichotomie

Matthias Meinhardt (Halle-Wittenberg): Reflektierte Räume. Zusammenfassung und Ausblick


Redaktion
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