HT 2008: Ungleichheiten oder Gleichheiten? Transkulturelle Vergleiche zwischen Ost und West

HT 2008: Ungleichheiten oder Gleichheiten? Transkulturelle Vergleiche zwischen Ost und West

Organisatoren
Jenny Rahel Oesterle, Ruhr-Universität Bochum; Wolfgang Drews, Humboldt-Universität zu Berlin, Universität zu Köln; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Berner, Ruhr-Universität Bochum

Im 19. Jahrhundert wurde in der geschichtswissenschaftlichen Forschung, bedingt durch Imperialismus und Kolonialismus, die Trennung von Europa und Nicht-Europa festgeschrieben. Seitdem wurden allgemeine Aussagen über historische Strukturen und Entwicklungen stets aus europäischer und nordamerikanischer Sicht entwickelt. Diese Aussagen waren allerdings in Methodik und Inhalten defizitär, wurde doch die Perspektive Nicht-Europas nicht berücksichtigt. Der Göttinger Arbeitskreis für transkulturelle Geschichte der Vormoderne hat es sich zum Ziel gesetzt, diese Defizite mit interdisziplinärer Forschung und geschärfter Methodik auszugleichen. Die Gründungsmitglieder des Arbeitskreises (Wolfram Drews, Almut Höfert, Jenny Rahel Oesterle, Dorothea Weltecke) ergänzt von Dirk Jäckel und Eva-Maria Stolberg luden ein zu der Sektion „Ungleichheiten oder Gleichheiten? Transkulturelle Vergleiche zwischen Ost und West“ und gaben sechs Kostproben ihres Vorhabens und Könnens.

Die Sektion wurde von WOLFRAM DREWS (Humboldt-Universität zu Berlin/Universität zu Köln) eröffnet, der mit seinem Vortrag über „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Problem historischer Komparatistik am Beispiel frühmittelalterlicher Herrschaftslegitimation“ den programmatischen und komplexen methodischen Rahmen der Sektion absteckte. Konkret zeigte Drews anhand frühmittelalterlicher Herrschaftslegitimation im lateinischen Christentum und im Islam, wie die Methode des transkulturell angelegten historischen Vergleichs die „Voraussetzungen und Bedingungen der Handlungsoptionen von Zeitgenossen“ für die Forschung erhellen kann.

In der anschließenden Diskussion wurde bemerkt, dass die westliche Forschung auch bei transkulturellen Vergleichen eine kulturell bedingte spezifische Perspektive einnimmt – folglich ist eine gleichgewichtige Behandlung der Forschungsgegenstände nur schwer zu erreichen.

ALMUT HÖFERT (Universität Basel) sprach im Anschluss über „die Politik des Sakralen im transkulturellen Vergleich“. Nach einer kurzen methodischen Einleitung, die den Beitrag ihres Vorredners zum Teil aufgriff und betonte, die Ungleichheiten vor der Folie der Gleichheiten betrachten zu müssen, gelangte sie zu ihrer eigentlichen Fragestellung: Wie positionierte sich das sakrale Königtum im Islam und Christentum zwischen weltlich-politischer und religiöser Sphäre im historischen Verlauf? In einem ersten Arbeitsschritt legte Höfert dar, dass bereits seit der Spätantike (die sie bewusst weit fasst) sowohl in der lateinischen Christenheit als auch in Byzanz und im Islam eine „Dualität von weltlichem und religiösem Bereich innerhalb der göttlichen Ordnung“ vorlag, zeitgenössisch unter anderem formuliert durch Papst Gelasius I., Johannes v. Damaskus und Ibn al-Muqaffa. In einem zweiten Schritt untersuchte sie die konkrete Verortung des jeweiligen Herrschers im beschriebenen Spannungsfeld. Höfert kam zu dem Schluss, dass in allen drei Kulturkreisen ein Prozess zu beobachten ist, in dem der sakrale Herrscher zunächst Einfluss auf die religiöse Sphäre ausüben konnte. Ab einem gewissen Punkt in der jeweiligen historischen Entwicklung in Lateineuropa, Byzanz und dem abbasidischen Kalifat war die religiöse Elite so weit, „ihr Monopol auf dogmatische Fragen oder kirchenpolitische Vorgänge zu verteidigen“ bzw. ein auch faktisches Monopol auf solche Vorgänge zu errichten. Auch wenn sich kulturelle Eigenheiten in diesem Prozess als Ungleichheiten im transkulturellen historischen Vergleich auffassen lassen, kann man mit Höfert dennoch von einer überwiegenden Ähnlichkeit der historischen Entwicklung sprechen. Diskutiert wurde im Anschluss insbesondere, ob der Begriff „sakral“ überhaupt ohne weiteres gleichermaßen auf den islamischen wie christlich-jüdischen Bereich angewendet werden kann.

„Institutionen des Schutzes. Formen und Funktionen des Asyls im christlichen und islamischen Kulturraum des Mittelalters“ lautete der Titel des nächsten Vortrags. JENNY RAHEL OESTERLE (Ruhr-Universität Bochum) demonstrierte die Möglichkeiten des transkulturellen historischen Vergleichs anhand der Schutzgewährung in Lateineuropa und im arabisch-islamischen Kulturraum. Sie begann ihre Ausführungen mit der Kategorisierung der Schutzgewähr als anthropologische Konstante in menschlichen Gesellschaften. Als solche ist sie ein transkulturelles Phänomen, allerdings in ihrer Form oder institutionellen Ausprägung stark abhängig von den spezifischen Vorstellungswelten einer bestimmten Kultur und Zeit, insofern keine historische Konstante. Nicht nur deshalb, sondern auch wegen ihrer wichtigen gesellschaftlichen Funktionen („Indikator des Umgangs einer Gesellschaft mit Krisen“, „Sollbruchstelle des sozialen und politischen Ordnungszusammenhangs“, „institutionelle Spannungsverarbeitung faktischer Ordnungskollisionen, Gewaltlatenzen und Konfliktpotentiale“) ist die Schutzgewähr prädestiniert für eine Untersuchung aus transkultureller historisch-komparatistischer Perspektive. Oesterle blieb bei der zu erwartenden Feststellung der Andersartigkeit des Phänomens in den verschiedenen Kulturkreisen allerdings keinesfalls stehen. Statt dessen verwies sie weiter auf die Ungleichheiten der Funktionen der Schutzgewähr in den verglichenen Kulturräumen. Während in Lateineuropa Ordnungs- und Friedensstiftung bzw. –wahrung im Vordergrund standen, fungierte der Schutzstatus „Aman“ als temporärer Integrationsmechanismus von Fremden in das Ordnungsgefüge des Dar al-Islam. In der Diskussion wurde die Perspektive unter anderem auf den Missbrauch der Schutzgewähr in Lateineuropa und dem Abbasidenkalifat ausgeweitet.

Nach dieser eindrucksvollen Demonstration der Möglichkeiten der transnationalen historischen Komparatistik übernahm DOROTHEA WELTECKE (Universität Konstanz) das Rednerpult. Der Titel ihres Vortrages lautete „Christliches Abendland und orientalische Christen: Ungleichheiten, Narrative und wissenschaftliche Perspektiven“, und in diesem vertrat Weltecke sechs pointierte Thesen über die Ungleichheiten, Narrative und die historischen Perspektiven, die sich aus dem „lateineuropäischen Alleinvertretungsanspruch des Christentums gegenüber Orthodoxie und orientalischen Christen“ ergeben. Die Hartnäckigkeit der größtenteils selbstreferentiellen Tradition innerhalb der lateinischen Historiographie habe sich, so ihre erste These, auch auf moderne Interpretationen der Geschichte des gesamten Christentums übertragen, so dass bis heute kein historisches Narrativ existiere, das ein geschichtswissenschaftlich begründbares Konzept für die Geschichte des ganzen Christentums in seiner mittelalterlichen Vielfalt bietet. Lediglich in der historiographischen Behandlung von Häresien fänden die orientalischen Kirchen Beachtung, was sich heute in der immer noch häufigen Nutzung von pejorativen Fremdbezeichnungen für beispielsweise die Angehörigen der Orthodoxen Kirche des Ostens als „Nestorianer“ äußere. Daran werde sich, laut Welteckes zweiter These, auch so bald nichts ändern, da es fast keine Historiker gebe, die sich als solche der Erforschung der orientalischen Kirchen widmen – der Stellenabbau in den Orientinstituten tue sein Übriges, so dass die Orientchristen bald völlig im wissenschaftlichen Interpretationsraum der Theologen und Philologen liegen könnten. Welteckes dritte These besagte, dass man das lateinische Christentum endlich als Teilmenge der gesamten Christenheit begreifen müsse, wenn man es historisch verstehen wolle. Die historische wie aktuelle Relevanz der orientalischen Kirchen (Ausschreitungen gegen Christen in Indien, Exodus der Christen aus dem Nordirak) gebe dazu genügend Anlass. Über diesen Gedanken gelangte sie zu ihrer vierten These: Theologisch legitimierte Gewalt sei innerhalb des Gesamtchristentums ein ausschließlich dem lateinischen Christentum eigenes Konzept (zum Beispiel in Form des Heiligen Kriegs). Dieser Befund solle Anlass geben, über seine historischen Bedingungen und Ursachen nachzudenken, und zwar im Vergleich mit Orthodoxie und den orientalischen Kirchen und über den Hinweis auf eine essentialistisch oder aus ihren Offenbarungstexten begründete Natur der monotheistischen Religionen hinaus. Mit diesem Gedankengang gab sie zugleich ein Beispiel für die Fruchtbarkeit des transkulturellen Vergleichs, erweiterte Weltecke ihren Blick doch von hier aus auf Fragen der Spezifik des lateinischen Christentums in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kirche und Welt, Schriftlichkeit und Mündlichkeit und mehr. In ihrer fünften These warnte sie aufgrund der extrem unterschiedlichen Forschungslage vor Schwierigkeiten bei transkulturellen Vergleichen zwischen lateinischem und orientalischem Christentum – eine Entwicklung von ergebnisoffenen Forschungsfragen durch den Vergleich erscheine allerdings ausgesprochen fruchtbar. In ihrer letzten These schlug Weltecke vor, das grundsätzlich papstzentrierte Bild der Geschichte des Christentums zugunsten einer die gesamtchristliche Entwicklung stärker berücksichtigenden Perspektive fallen zu lassen. Damit schloss sie ihr Plädoyer für eine Überarbeitung der historischen Narrative des Christentums.

Das Plenum interessierte anschließend, ob die momentan starke Immigration der orientalischen Christen der Forschung neue Impulse gebe. Weltecke sieht diesbezüglich kein Licht am Ende des Tunnels, da schlicht und einfach der wissenschaftliche Nachwuchs fehle.

DIRK JÄCKEL (Regesta Imperii Köln/Ruhr-Universität Bochum) sprach über „Deutungen der christlichen Niederlagen im Heiligen Land (12. Jahrhundert): Ein Vergleich okzidentaler und christlich-orientalischer Bewältigungsstrategien“ und löste damit eine der gerade formulierten Forderungen Dorothea Welteckes ein, nämlich die stärkere Einbeziehung der Orientchristen in die Narrative des Gesamtchristentums. Jäckel konzentrierte sich bei der Untersuchung der orientalischen Christen auf Armenier und Syrisch-Orthodoxe. Er demonstrierte in seinem Vortrag anhand der Deutungsmuster christlicher Niederlagen im Heiligen Land einerseits, wie der transkulturelle Vergleich Ähnlichkeiten (in der Typologisierung der Muslime) und Unähnlichkeiten (bei der Rolle christlicher Gewalt) zwischen Lateinern, Armeniern und syrisch-orthodoxen Christen herausarbeiten kann. Andererseits legte er durch seine unterschiedlichen Befunde bei Armeniern und Syrisch-Orthodoxen dar, wie gesellschaftliche und historische Besonderheiten bereits das Konstrukt der „christlichen Orientalen“ konterkarieren können.
In der Diskussion wurde versucht, die religiöse Dimension von Gewalt als „Argument der Starken“ auf den aktuellen US-Wahlkampf zu beziehen. Jäckel bremste hier den Elan der Diskutanten und verwies in Ergänzung zu seinen Ausführungen darauf, dass auch im apokalyptischen Schriftgut innerhalb der militärisch irrelevanten syrisch-orthodoxen Kirche die Hoffnung auf eine endzeitliche Rache an den Muslimen mitschwang.

Den Abschluss dieser Sektion markierte der Vortrag von EVA-MARIA STOLBERG (Universität Duisburg-Essen). Sie sprach über „Nomaden und Sesshafte: Kulturelle Un(-gleichheiten) zwischen Steppenislam und russischer Orthodoxie". Nach einer knappen Einleitung spezifizierte sie ihr Thema genauer: Besonders die „orthodoxe Kirche als identitätsstiftendes Element und Reichseinigerin“ sowie die „Entstehung von Parallelgesellschaften von christlich-orthodoxen Russen und Steppenislam“ als „Aspekte der Beziehungen Russlands zur Steppe und die Einbeziehung in den Kontext eurasischer Beziehungen“ standen im Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Sie kam zu dem Schluss, dass die orthodoxe Kirche ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (zum Beispiel in Gestalt des Metropoliten Makarij I.) auf Unabhängigkeit sowohl von Byzanz als auch von den Tataren zielte, womit sie den ideologischen Grundstein für eine eigenstaatliche Entwicklung der Rus‘ und die moskovitische Expansion nach Osten legte. Weiterhin stellte sie fest, dass eine Akkulturation zwischen Tataren und russisch-orthodoxen Christen nicht stattgefunden hatte – zum einen waren die sozioökonomischen Strukturen zu unterschiedlich, zum anderen war die Kulturkonkurrenz der islamischen Herrschaften des Nahen und Mittleren Ostens bedingt durch umfassende Handelsbeziehungen zu stark, sodass sich die Goldene Horde kulturell nach Süden orientierte.

In der Diskussion wurde die Rolle der tatarischen Toleranz beim Aufstieg Moskaus hinterfragt. Stolberg legte dar, dass diese Toleranz auch in Gestalt von Steuerbefreiungen und der Vergabe des Großfürstentitels nach Moskau sehr wohl eine Rolle gespielt habe.

Die hier zusammengefasste Sektion „Ungleichheiten oder Gleichheiten? Transkulturelle Vergleiche zwischen Ost und West“ bestach einerseits durch ihr methodisch ausgefeiltes Gesamtkonzept, andererseits wurde dieses Konzept von erfreulich vielen Vortragenden vorbildlich umgesetzt. Die hier durchgeführten transkulturellen Vergleiche machten nicht bei der reinen Feststellung Halt, das Gleichheiten oder Ungleichheiten bestanden und wie diese aussahen, sondern eröffneten davon ausgehend zum Teil neue Perspektiven historischer Forschung mit hoher Anschlussfähigkeit an bestehende Diskurse. In jedem Fall bleibt der Gesamteindruck, dass der Göttinger Arbeitskreis für transkulturelle Geschichte der Vormoderne auch in Zukunft Antworten finden und Fragen entwickeln wird, die bisher von der Forschung übersehen worden sind. Aus dieser Richtung ist also noch viel zu erwarten.

Sektionsübersicht:

Wolfgang Drews (Köln/Bonn): Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ als Problem historischer Komparatistik am Beispiel frühmittelalterlicher Herrschaftslegitimation

Almut Höfert (Basel): Die Politik des Sakralen im transkulturellen Vergleich (10./12. Jahrhundert)

Jenny Rahel Oesterle (Bochum): Institutionen des Schutzes. Formen und Funktionen des Asyls im christlichen und islamischen Kulturraum des Mittelalters

Dorothea Weltecke (Konstanz): Christliches Abendland und orientalische Christen: Ungleichheiten, Narrative und wissenschaftliche Perspektiven

Dirk Jäckel (Hagen): Deutungen der christlichen Niederlagen im Heiligen Land (12./13. Jahrundert): Ein Vergleich okzidentaler und christlich-orientalischer Bewältigungsstrategien

Eva-Maria Stolberg (Duisburg-Essen): Nomaden und Sesshafte: Kulturelle Ungleichheiten zwischen Steppenislam und russischer Orthodoxie


Redaktion
Veröffentlicht am