'Mitteleuropa' und 'Südosteuropa' als Planungsraum. Deutsche und österreichische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege

'Mitteleuropa' und 'Südosteuropa' als Planungsraum. Deutsche und österreichische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege

Organisatoren
Carola Sachse, Carl Freytag, Mitteleuropäischer Wirtschaftstag-Projekt MWT, Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
26.06.2008 - 27.06.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Carl Freytag, Ian Innerhofer, Tamara Scheer, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Im Krisenjahr 1931 übernahm die rheinisch-westfälische Schwerindustrie, vertreten durch den Langnamverein, die in Berlin ansässige „Deutsche Gruppe“ des 1925 in Wien gegründeten „Mitteleuropäischen Wirtschaftstags“ (MWT), um mit dem Verein, hinter dem die mächtigsten deutschen und österreichischen Unternehmen standen, den Export von Industriegütern aus Deutschland in den „Ergänzungsraum Südosteuropa“ anzukurbeln, welcher wiederum mit seinen Agrarüberschüssen und Bodenschätzen den deutschen „Kernraum“ versorgen sollte.
Die Geschichte des MWT, die Bewertung seiner Erzabbau- und Agrarprojekte im Südosten und die Analyse seiner Wirtschafts- und Raumplanungen, die in Artikeln, Denkschriften, Reden und Gutachten formuliert wurden, stehen im Mittelpunkt einer Monographie (Carl Freytag), die im Rahmen des Forschungsprojekts „’Ergänzungsraum Südosteuropa’ - Konzepte und Strategien des ‚Mitteleuropäischen Wirtschaftstags’ und die Europapolitik im Zeichen der Südosterweiterung“ (kurz: „MWT-Projekt“) entsteht. Die zeitgleiche Bevölkerungsplanung und insbesondere den Umgang mit der „agrarischen Über(be)völkerung“ in Südosteuropa wird Ian Innerhofer in einer Dissertation untersuchen. Ergänzt werden diese Arbeiten durch vertiefende Beiträge von Gastforscher/innen und Kooperationspartner/innen des Projekts.
Ende Juni 2008 fand am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien eine Tagung statt, auf der erste Zwischenergebnisse des „MWT-Projekts“ 1 präsentiert wurden. Im Zentrum der Diskussion stand zunächst der europäische Raum, der in der Zwischenkriegszeit als „Mitteleuropa“ oder auch „Südosteuropa“ bezeichnet wurde und Gegenstand zahlreicher planerischer Aktivitäten war. Die Referate zeichneten die Arbeit der zeitgenössischen Südost-Experten nach, verfolgten die Aktivitäten der Akteure des MWT und der parallel zu ihm (oder auch gegen ihn) arbeitenden Institutionen und untersuchten die Medien, die sich an der deutschen Kulturarbeit im Südosten beteiligten.
Zunächst ging es auf der Tagung darum, Begriffe wie „Mitteleuropa“, „Südosteuropa“ und „Raum“ näher zu beleuchten. CAROLA SACHSE (Wien) wählte in ihrer Einführung einen polarisierenden Zugang und zeigte auf, dass eine Definition nichts Statisches ist, sondern sowohl in ihren geographisch-territorialen Zuschnitten als auch in ihren politisch-kulturellen Bedeutungszuweisungen einem historischen Wandel unterliegen kann, immer aber mit hierarchischen Setzungen verbunden ist und – wie auch der Rektor der Universität Wien, GEORG WINCKLER, in seiner Eröffnungsansprache anmerkte – zumeist politischen Interessen folgt. Romantisierende Formulierungen wie die des polnischen Historikers Aleksander Gieysztor: „Mitteleuropa ist unter anderem dort, wo man den Damen die Hand küsst und eine ungerade Anzahl Blumen schenkt“ unterstreichen dies auf eine ironische Weise. Als nützlich, um dem zeitgenössischen Verständnis von Begriffen auf die Spur zu kommen, hob Sachse die Enzyklopädien hervor. So stellte der Brockhaus von 1932 noch lapidar fest: „Mitteleuropa wird überwiegend von Deutschen bewohnt“ und versuchte damit kommentarlos den politischen Kampfbegriff der „konservativen Revolution“ der 1920er– und 1930er–Jahre zum verbindlichen -enzyklopädischen Wissen zu erklären. Ganz anders hingegen die Ausgabe von 2006, die sich, nach Sachse, jeder zeitgenössischen Definition enthält und „Mitteleuropa“ nur mehr als historischen „Siedlungsraum der Neandertaler“ zwischen Pyrenäen und Karpaten verortet.
ULRICH PREHN (Hamburg) knüpfte in seinem Vortrag an die „Mitteleuropa“-Diskussion an. Die von ihm analysierte Zeitschrift „Volk und Reich“ vertrat die Position des „Jungen Deutschland“ um den Herausgeber Friedrich Heiß und von Volkstumsforschern wie Max Hildebert Boehm und Karl Christian von Loesch2. Deren Sehnsucht nach einer neuen „mitteleuropäischen Ordnung“ traf sich mit den wirtschaftspolitisch orientierten Vorstellungen des MWT und zielte auf die Revision von „Versailles“ und den „Anschluss“ Österreichs. Prehn zeigte, wie dann in den 1930er-Jahren das völkische „Mitteleuropaparadigma“ mehr und mehr aus der Debatte verschwand und der Idee eines unter deutscher Hegemonie stehenden kontinentalen „Groß(wirtschafts)raums“ und mythisch aufgeladenen „Reichs“-Gedanken Platz machte.

Der MWT hatte bei seiner „Umgründung“ 1931 „Volk und Reich“ zu seinem Organ erklärt, verlor aber zunehmend das Interesse an dem Blatt. Die Hauptakteure des Vereins – Tilo v.Wilmowsky, Max Hahn, Max Ilgner und später Ulrich v.Hassell – verzichteten auf die völkische Verbrämung ihrer in Richtung Südosteuropa zielenden Planungen und zogen andere Publikationsorgane vor. Wie OLIVER RATHKOLB (Wien) in seinem Kommentar unterstrich, profitierte "Volk und Reich" wie kaum eine andere Zeitschrift des rechtsintellektuellen völkischen Milieus der Zwischenkriegszeit von den politischen Netzwerken ihres Verlegers Friedrich Heiß, der nach 1933 zu einem der Großverleger in der nationalsozialistischen Propagandaproduktion aufstieg und 1938 in die direkte finanzielle und strategische Nähe zum Auswärtigen Amt gelangte. Signifikant für diese "Aufwertung" war auch die professionelle Gestaltung ab 1933 mit einer Erweiterung 1938, wobei zunehmend die Bebilderung die bisher eher starren schriftlichen Darstellungen ablöste.

„Volk und Reich“ war auch der Ausgangspunkt für KRISTIN KOPP (Missouri), die in ihrem Beitrag die „kolonialistische“ Kartographie Arnold Hillen Ziegfelds analysierte und damit den Blick auf die Mittel lenkte, mit denen in dem Blatt die revisionistischen Forderungen und die deutsche Expansionspolitik propagandistisch untermauert wurden. Sie analysierte die „suggestiven“ Karten Ziegfelds, der das Kartenbild dynamisierte – ganz im Sinne der „Bewegung“, als die sich die Völkischen verstanden: „Die neue Karte ist gewalttätig“ (Ziegfeld). Die „Kartographik“ Ziegfelds war also ein Kampfmittel, mit dem auf die offenen und stets gefährdeten Grenzen Mitteleuropas ebenso verwiesen wurde, wie man mit ihm das MWT-Konzept von Kern- und Ergänzungsraum als Lösung aller Probleme untermalte. 1933 verließ Ziegfeld aus bislang ungeklärten Gründen „Volk und Reich“, publizierte aber weiter und zog mit Werken wie „1000 Jahre Deutsche Kolonisation und Siedlung“ den Bogen von der deutschen Ostexpansion der 1940er-Jahre zur Ostkolonisation 1000 Jahre zuvor. Auf diese Entwicklung bezog sich auch PETRA SVATEK (Wien), die in ihrem Kommentar besonders unterstrich, wie wichtig es ist, die Verbindung von (kartographischer) Wissenschaft und Politik zu untersuchen.

CARL FREYTAG (Wien) stellte in seinem Vortrag die Schriften des MWT im Kontext der zahlreichen Großraumentwürfe vor, die insbesondere nach der Siegeseuphorie von 1940/41 den „Markt“ überflutet hatten. Die Vorstellungen des MWT von Südosteuropa als einem „Ergänzungsraum“ gingen weitgehend mit denen der wirtschaftlich orientierten Großraumstrategen konform, und es stand auch für den MWT außer Frage, dass es im kontinentaleuropäischen Großwirtschaftsraum eine Führungsmacht (ein „Reich“) geben musste. Die Mittel zum Erreichen der Ziele unterschieden sich aber erheblich: Der MWT setzte auf eine langfristig angelegte „pénétration pacifique“, die erst nach Jahren Profit abzuwerfen versprach. Dies stand in deutlichem Widerspruch zu den Absichten von weiten Teilen der deutschen Industrie, die auf sofortige Erfolge aus waren und zudem eine unliebsame Konkurrenz im Südosten befürchteten. Die dortige Bevölkerung war für den MWT „nur“ ökonomisches Subjekt/Objekt, wobei die „agrarische Über(be)völkerung“ in die heimische Industrie „abgesaugt“ werden sollte.3 Die deutschen Strategen der Kriegswirtschaft, über die MITCHELL ASH (Wien) in seinem Kommentar anmerkte, dass sie bei ihren Planungen neben wirtschaftspolitischen regelmäßig auch rassistische Zielvorstellungen berücksichtigten, wollten hingegen die „überzählige“ Bevölkerung des Südostens lieber als „Wanderarbeiter“ nach Deutschland holen.
IAN INNERHOFER (Wien) knüpfte an diese Problematik an und erörterte die Stellung von Otto Franges und Rudolf Bicanic zum Problem der „agrarischen Über(be)völkerung“ in Südosteuropa zwischen 1931 und 1941 anhand der Biographien dieser beiden kroatischen Wirtschaftswissenschaftler. Obwohl auf unterschiedlichen ideologischen Seiten stehend, versuchten beide die Existenz der „agrarischen Über(be)völkerung“ nachzuweisen und boten ähnliche Lösungsvorschläge an: Wie der MWT plädierten sie in erster Linie für den Aufbau neuer Industrien auf dem Land, welche die „ungenützten“ Arbeitskräfte „absorbieren“ sollten. SUSANNE HEIM (Berlin) setzte dieser „Binnenperspektive“ in ihrem Kommentar die erwähnten deutschen Vorschläge entgegen, nach denen die „Lösung“ des Problems nicht in der Beseitigung der Armut und einer Konsumsteigerung der Bevölkerung bestand, sondern in der Nutzbarmachung der „überschüssigen“ Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft. Dabei sollte der Lebensstandard der südosteuropäischen Agrarländer nicht erhöht, sondern sogar gesenkt werden, was euphemistisch als unvermeidliche „Konsumeinschränkung“ umschrieben wurde.4

Auch MILAN RISTOVIC (Belgrad) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Vorstellungen der mit dem MWT konkurrierenden Großwirtschaftsraum-Planer und die Beiträge von Planern in den „betroffenen“ Ländern Südosteuropas. Er ging dabei besonders auf die 1940 in Wien gegründete Südosteuropa-Gesellschaft (SOEG) ein, die rassistisch unterfütterte Planungsarbeiten für den Südosten in Angriff nahm, die auf einen Markt ohne „raumfremde“ Konkurrenten abzielten. Eine Industrialisierung des Südostens hielt man für „unnatürlich“; eine Verbesserung der Lebensbedingungen und die „alten Tendenzen der Industrialisierung“ würden für Deutschland keine Vorteile bringen. Die SOEG und die ihr nahe stehenden Kreise standen damit im Gegensatz zum MWT und gingen weit über die Grenzen hinaus, die dieser sich setzte. So erwog man die Annullierung der Ländergrenzen in Südosteuropa und brachte die Verwandlung der Länder in Kolonien ins Spiel. Die von der SOEG initiierte „Generalplanung“, die kriegsbedingt über Entwürfe nicht hinauskam, hätte zur theoretischen Rechtfertigung der inzwischen längst stattfindenden Praxis der Kriegsplünderung werden können. BOGDAN MURGESCU (Bukarest) unterstrich in seinem Kommentar die großen Diskrepanzen zwischen den Planungen der diversen Institutionen und wies auf die großen politischen und wirtschaftlichen Unterschiede der einzelnen Regionen hin.

MARKUS WIEN (Blagoevgrad) widmete sich den Beispielsdörfern des MWT in Bulgarien im Kontext des bulgarischen landwirtschaftlichen Ausbildungswesens, aber auch anderen Plänen des MWT, die bereits in den „1930er-Jahren“ in Bulgarien in die Praxis umgesetzt wurden: Die Gründung der „Bulgarischen Schafzucht AG“ und die Vergabe von Stipendien an junge Volkswirte sind hier zu nennen. MARIA A. STASSINOPOULOU (Wien) wies in ihrem Kommentar darauf hin, dass in Bulgarien bereits unter Aleksandar Stambolijski (in den frühen 1920er- Jahren), aber auch danach, im Vergleich zu anderen Ländern Südosteuropas eine besonders intensive landwirtschaftliche Ausbildungspolitik betrieben wurde. Im Laufe der Zeit wurden für die wirtschaftliche Entwicklung Partner gesucht und eben im MWT auch gefunden. Dennoch wurden in Bulgarien nach 1939 die Projekte der Zwischenkriegszeit mit weniger Nachdruck fortgesetzt, als zum Beispiel in Rumänien5. Ab Oktober 1942 wurden dann, so Wien weiter, nach deutschem Muster Beispielsdörfer mit dem Fernziel eingerichtet, die Bauern für die Düngemittel der IG Farben zu begeistern und ihnen die modernen Landmaschinen näher zu bringen, die Krupp den Projekten anfangs gratis zur Verfügung gestellt hatte. Der MWT operierte diskret, weshalb sein Name in bulgarischen Quellen kaum auftaucht und auch in der zeitgenössischen Presse nur selten erwähnt wurde. Seine Nennung im Zusammenhang mit den Beispielsdörfern in der Zeitschrift „Dnes“, war daher eher eine Ausnahme. WILLI OBERKROME (Freiburg im Breisgau) schloss die Diskussion des Vortrags mit der Bemerkung: „Man darf sich nicht scheuen, Modernisierung mit Mist und Kunstdünger zu erklären, denn diese führten letztendlich zu Aufklärung und Modernität.“ Er wies darauf hin, dass Wirtschaftsraum und Kulturraum unlösbar verknüpft waren: Stets ging die wirtschaftliche mit der durchaus beabsichtigten geistigen Beherrschung eines Raumes einher.

Mit den kulturpolitischen Aktivitäten der Deutschen in Südosteuropa, die auf diese geistige Beherrschung abzielten, befassten sich drei weitere Vorträge. STEPHEN GROSS (Berkeley) untersuchte vor allem das als private Organisation 1927 gegründete „Mitteleuropa-Institut“ (MEI) in Dresden. Er rückte dabei die regionalen Spezifika der deutschen Auslandskulturpolitik in der Zwischenkriegszeit in den Mittelpunkt. Das MEI sollte die Pläne des früheren ungarischen Staatssekretärs Elemér Hantos vereiteln, Deutschland aus mitteleuropäischen Wirtschaftsinstitutionen und -bündnissen fernzuhalten. Es stand somit in direkter Konkurrenz zu den von Hantos in Brünn, Budapest und Wien gegründeten Mitteleuropa-Instituten. Das MEI sah anfangs den Kulturaustausch als rein wirtschaftliches Instrument, hatte sich aber dann bis 1939 zu einem politisch orientierten Planungsinstitut für NS-Großraumwirtschaftsideen gewandelt, das – wie HEIDEMARIE UHL (Wien) in ihrem Kommentar unterstrich – mit seinen Ideen die Gesellschaft durchdringen wollte. Es sicherte sich in der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Südosteuropa-Forschungseinrichtungen in Deutschland und Österreich eine gute Ausgangsposition und machte gemeinsam mit dem Leipziger Messeamt, dem Institut für Mittel- und Südosteuropäische Wirtschaftsforschung und dem Südost-Institut in Leipzig Sachsen zu einem Anwärter auf die Ehre, das „Tor zum Balkan“ zu sein.
TIM KIRK (Newcastle) erörterte die deutsche Kulturpolitik und öffentliche Meinung in Südosteuropa anhand der Presse-, Kultur- und Wirtschaftsberichte Südosteuropa, die von der Wiener Pressestelle des Auswärtigen Amtes herausgegeben wurden. Als Mittler deutschen Kulturgutes sollten die Berichte das Verständnis für die sich anbahnende „neue Entwicklung“ in Europa wecken und aufzeigen, dass das Ziel deutscher auswärtiger Kulturpolitik auf dem Balkan nicht nur die Anpassung von südosteuropäischen Kulturinstitutionen an die Kulturpolitik des Reichs war, sondern auch die ideologische Untermauerung der politischen Kultur eines neuen, post-liberalen Europa.6 SANDRA PAWERONSCHITZ (Wien) ergänzte, dass die deutsche Kulturpolitik in Südosteuropa nicht nur im Dienste des Antiliberalismus agierte, sondern auch anti-bolschewistische Propaganda betrieb. Diesen beiden ideologischen Feindbildern (demokratische Plutokratien und Kommunismus) setzte die deutsche Kulturpolitik in Südosteuropa eine „deutsche Ordnung“ in einem „neuen Europa“ entgegen.

ELIZABETH HARVEY (Nottingham) behandelte in ihrem Beitrag die praktische Kulturpolitik im Südosten. Sie analysierte anhand von studentischer Presse, unveröffentlichten Berichten und Korrespondenzen die deutsche „Volkstumsarbeit“ und die Rolle von studentischen Aktionen bei der Produktion von Wissen über die auslandsdeutschen Volksgruppen und bei der Verbreitung von NS-Gedankengut in ihnen. Harvey beleuchtete die Widersprüche und Spannungen in der Volksgruppen-Politik des Nationalsozialismus, z.B. den Widerspruch zwischen dem Bestreben, die Interessen der Volksgruppe als „Vorposten“ im Streit gegen die „fremde Staatsmacht“ zu verteidigen und der gleichzeitigen Tendenz, die Lebensfähigkeit der Volksgruppen zu negieren, um Argumente für ihre Umsiedlung zu liefern. JOHANNA GEHMACHER (Wien) richtete in ihrem Kommentar den Blick auf andere mögliche Transformationen in den Strategien der als „ethnopolitical entrepreneurs“ entsandten Studentinnen und Studenten und die Rückwirkungen der im Ausland geleisteten „Volkstumsarbeit“ auf das „Reich“.
TAMARA SCHEER (Wien) schloss mit ihrem Vortrag den Kreis. Sie ging in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück und zeigte an einem Fallbeispiel, dass planerische Ideen der 1930er-Jahre häufig auf Erfahrungen und Maßnahmen vergangener Zeiten zurückzuführen waren. Im Ersten Weltkrieg besetzten Österreich-Ungarn und Bulgarien Serbien und teilten es auf. Während die Donaumonarchie von Serbien aufgrund der guten Requisitionsergebnisse als ihrer erfolgreichsten Besatzung im Ersten Weltkrieg sprach, herrschte in dem von Bulgarien besetzten Gebiet bald Hungersnot. Doch ein Vergleich und die Bewertung der wirtschaftlichen Maßnahmen beider Länder sind nur möglich, wenn die unterschiedlichen Voraussetzungen und Interessen berücksichtigt werden. Österreich-Ungarn war eine alte Dynastie, unter deren Dach viele Nationen lebten. Bulgarien war dagegen ein junger Nationalstaat - zwei Kriterien, die auch FELIX SCHNEIDER (Wien) in seinem Kommentar als besonders grundlegend für eine Besatzungspolitik unterstrich. So stellte Österreich-Ungarn die feindliche Bevölkerung unter Arbeitszwang, während Bulgarien sie als Bulgaren deklarierte und an die Front entsandte. Die dritte Fremdmacht in Serbien war das Deutsche Reich. Zwar trat es nicht als Besatzungsmacht in Erscheinung, übte aber entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche Lage Serbiens aus. Professionelle Händler wurden etwa ausgeschickt, um im bulgarisch besetzten Teil, ohne Rücksicht auf den Eigenbedarf der Bevölkerung, Güter anzukaufen. Österreich-Ungarn hingegen untersagte von vornherein jeglichen freien Handel auf seinem Gebiet.7
Oberkrome zog in seinem Abschlusskommentar einen weiten Bogen und markierte vor allem jene Fragen, die während der Tagung aufgeworfen wurden und die weitere Forschung im MWT-Projekt mitbestimmen werden. Er betonte zunächst die Kontinuität von Planungen und Planern, wie sie in einigen der Vorträge deutlich wurde. Wer etwa im Ersten Weltkrieg in Serbien als Hauptmann eingesetzt war, plante mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf in der Zwischenkriegszeit und setzte seine Pläne möglicherweise als Oberst im Zweiten Weltkrieg um – und fand dann auch nach 1945 seinen Platz als „Planungsexperte“.

Als weiteren Schwerpunkt benannte Oberkrome die Entstehung des Forschungswissens bei den Wirtschafts- und Raumplanungen für den Südosten: Es müsse stets nachvollzogen werden, wer beauftragt und zahlt, wer die Forschung konzipiert, die Resultate diskutiert und letztendlich ihre Umsetzung veranlasst. Im Hinblick auf die Planungen des MWT ist ein wichtiger Gesichtspunkt, dem Austausch mit Wissenschaftlern in den Zielländern nachzugehen und zu untersuchen, wie mit Kritik und Vorschlägen von dieser Seite umgegangen wurde. Ein weiterer Hinweis Oberkromes galt der kultur- und gesellschaftshistorischen Bedeutung von Institutionen wie dem MWT. Es müsse herausgearbeitet werden, welche Bedeutung sie tatsächlich als Institution hatten, und ob nicht einflussreiche Einzelpersonen Ähnliches erreicht hätten.

Die Tagung näherte sich dem MWT quasi von den Rändern her und zeigte ihn zunächst eingebunden in Raumvorstellungen, die bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgingen und in der Mitteleuropa-Diskussion der 1920er-Jahre ihren Ausdruck fanden. Als Propagandist des „Anschlusses“ Österreichs und schließlich als Verfechter einer europäischen Großraumwirtschaft mit der Kombination „Kernraum Großdeutschland“ / „Ergänzungsraum Südosteuropa“ als Keimzelle bezog der Verein Position unter den Großraumplanern der 1930er- und frühen 1940er-Jahre. Dass die Großraumideologien den Hintergrund für die eigentlichen Ziele des MWT - der Förderung des Südost-Handels und der Sicherung strategischer Positionen und guter Profite für seine Mitglieder - abgaben, wurde deutlich, als es um die praktische Umsetzung der Südosteuropa-Pläne ging und darum, wie sich die „betroffenen“ Länder gegen und mit dem MWT positionierten, welchen Austausch es mit Wissenschaftlern in den Zielländern gab und wie die deutschen Planer mit Kritik und Vorschlägen von dieser Seite umgingen. Die Tagung zeigte den MWT im Kontext der Konkurrenz und erlaubt eine Einordnung und vergleichende Wertung der eigentlichen MWT-Aktivitäten, über die auf der Abschlusstagung des Projekts berichtet werden soll. Kommenden Untersuchungen muss auch das gewichtige Thema der Rolle von Rassismus und Vernichtungspolitik in den Südost-Planungen vorbehalten bleiben.
Eine Publikation ausgewählter Tagungsbeiträge ist in Vorbereitung.

Konferenzübersicht:
Moderation: Ingo Haar (Universität Wien)
Carl Freytag (Universität Wien):
„Ergänzungsraum“ - „Großwirtschaftsraum“ - „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“.
Wirtschafts- und Raumplanungen des MWT 1939-1945 für Südosteuropa
Kommentar: - Mitchell ASH (Universität Wien)

Kulturpolitische Akteure in Südosteuropa
Moderation: Gerhard Botz (Universität Wien)

Stephen Gross (University of California, Berkeley):
Non-state Actors in Germany’s „Kultur- und Wirtschaftspolitik“ 1925-1933: Saxon Research Institutes and Southeastern Europe
Kommentar: Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften)

Tim Kirk (University of Newcastle):
Deutsche Kulturpolitik und öffentliche Meinung in Südosteuropa: die „Presse- Kultur- und Wirtschaftsberichte Südosteuropa“
Kommentar: Sandra Pawerinschitz (Ludwig Boltzmann Institut für Historische Sozialwissenschaft, Cluster Geschichte)

Elizabeth Harvey (University of Nottingham):
Studentischer Aktivismus und die Radikalisierung der deutschen „Volkstumsarbeit“ in Jugoslawien und Rumänien, 1933-1941
Kommentar: Johanna Gehmacher (Universität Wien)

Sozioökonomische Planungen für Südosteuropa
Moderation: Carola Sachse (Universität Wien)

Tamara Scheer (Universität Wien):
Gelenkte Wirtschaft: Das besetzte Serbien während des Ersten Weltkrieges
Kommentar: Felix Schneider (Landesverteidigungsakademie Wien)

Milan Ristovic (Universität Belgrad):
Frage der "Modernisierung" und Wirtschaftsstrukturänderung in den Diskussionen über die "Neue Ordnung" in Südosteuropa (1940-1943)
Kommentar: Bogdan Murgescu (Universität Bukarest)

Moderation: Carl Freytag (Universität Wien)

Ian Innerhofer (Universität Wien):
Otto Franges und Rudolf Bicanic zum Problem der „agrarischen Überbevölkerung“ in Südosteuropa 1931-1941
Kommentar: Susanne Heim (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin)

Markus Wien (American University Blagoevgrad):
Beispielsdörfer des MWT in Bulgarien im Kontext des bulgarischen landwirtschaftlichen Ausbildungswesens
Kommentar: Maria A. Stassinopoulou (Universität Wien)

„Mitteleuropäische Raumordnung“: Publizistik - Kartographie – „Volkstumspolitik“
Moderation: Bogdan Murgescu (Universität Bukarest)

Ulrich Prehn (Universität Hamburg):
„Grenzdeutsch“ - großdeutsch - mitteleuropäisch? Geopolitische und „volkstumspolitische“ Implikationen der Raumordnungsentwürfe aus dem politisch-intellektuellen Umfeld der Zeitschrift "Volk und Reich"
Kommentar: Oliver Rathkolb (Universität Wien)

Kristin Kopp (University of Missouri):
Die „kolonialistische“ Kartographie Arnold Hillen Ziegfelds
Kommentar: Petra Svatek (Universität Wien)

Abschlussdiskussion
Moderation: Carola Sachse (Universität Wien)
Abschlusskommentar: Willi Oberkrome (Universität Freiburg

Anmerkungen:
1 Weiterführende Informationen unter <www.univie.ac.at/wmg> (17.11.2008).
2 Vgl. Ulrich Prehn, Metamorphosen radikalen Ordnungsdenkens im "europäischen Großraum". Ethnopolitische und "volkstheoretische" Konzepte Max Hildebert Boehms vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Michael Garleff (Hrsg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 2, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 1-70.
3 Vgl. Carl Freytag, Stoßrichtung Südost. Deutsch geführtes europäisches Wirtschaftsbündnis, in: NachRichten, Nr. 24 vom 2.7.2008, S. 4.
4 Götz Aly / Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Frankfurt am Main 1993, S. 349.
5 Vgl. Karl Brandt, Management of Agriculture in the German-Occupied and other Areas of Fortress Europe, Stanford 1953.
6 „Kulturbericht Südosteuropa“ 21-22 und 38; siehe auch Tim Kirk, Film and Politics in South-East Europe. Germany as “Leading Cultural Nation”, 1933-1945, in: Roel Vande Winkel / David Welch (Hrsg.), Cinema and the Swastika, Basingstoke 2007.
7 Vgl. Tamara Scheer, Frieden im Krieg. Erfahrung Österreich-Ungarns mit Militärverwaltung und Besatzung im Ersten Weltkrieg, Erscheint im Frühjahr 2009.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts