Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität

Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität

Organisatoren
Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK), Sektion 1: "Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskulturen"
Ort
Gießen, Justus-Liebig-Universität
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.05.2003 - 09.05.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Birgit Neumann, Gießen

Was hält Erinnerungen lebendig? Eine Tagung zu „Medien des kollektiven Gedächtnisses“

„Ohne Medien kein Kollektivgedächtnis.“ Unter dieser Prämisse stand die Tagung „Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität“. Die Konferenz war bereits die zweite bundesweite Veranstaltung, die im Rahmen des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) von DoktorandInnen organisiert wurde. Im Jahre 2001 unter der Leitung von Professor Ansgar Nünning ins Leben gerufen und durch die Justus-Liebig-Universität sowie das Hessische Ministerium für Wissenschaft gefördert, stellt das GGK ein bislang einzigartiges Modellprojekt zur Neustrukturierung der Doktorandenausbildung in Geistes- und Sozialwissenschaften dar. Unter dem Leitmotiv „Promovieren mit System!“ offeriert das GGK ein klar strukturiertes, auf die individuellen Bedürfnisse der Promovierenden abgestimmtes Ausbildungsprogramm. Das zentrale Ziel des GGK besteht darin, NachwuchsforscherInnen möglichst früh in aktuelle Forschungskontexte einzuführen. Gewährleistet werden soll diese Einbindung durch so genannte Sektionen, die den Promovierenden ein Forum für die Diskussion eigener Forschungsvorhaben bieten. An der Justus-Liebig-Universität haben sich mittlerweile neun interdisziplinär besetzte Sektionen gebildet. Mit organisatorischer und finanzieller Unterstützung des Graduiertenzentrums erforschen die Sektionen unter anderem „Literatur- und Kulturtheorien“, „Moderne/Postmoderne“, „Medialität – Theatralität – Performativität“ und eben „Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskulturen“.

Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskulturen, so der auf der Konferenz in seinen unterschiedlichen Facetten erprobte Grundgedanke, sind maßgeblich von Medien abhängig. Allererst Medien ermöglichen die Bewahrung und Weitergabe von erinnerungswürdigem Wissen innerhalb sozialer Gruppen – sei es der Familie, der Religionsgemeinschaft oder der Nation. In klassischen Theorien zum kollektiven Gedächtnis, wie sie etwa von Maurice Halbwachs, Pierre Nora oder Jan und Aleida Assmann formuliert wurden, nehmen Medien daher auch eine wichtige Stellung ein. Allerdings liegen diesen Gedächtniskulturtheorien sehr unterschiedliche, teils vage und in einigen Fällen gar nicht explizierte Medienbegriffe zugrunde. Aus der Diskrepanz zwischen der Allgegenwart der Medien in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kollektivgedächtnis einerseits und dem Mangel an einem klaren Medienbegriff andererseits ergab sich die Zielsetzung der Tagung: Hier sollten Medienbegriffe der Gedächtnistheorien (durch VertreterInnen der Kulturwissenschaft, Geschichtstheorie und Sozialpsychologie) als auch Gedächtnisbegriffe der Medientheorien (durch VertreterInnen der Medien- und Kommunikations-, Literatur-, Geschichts- und Politikwissenschaft) vorgestellt und diskutiert werden. Zu den Vortragenden gehörten neben DoktorandInnen und PostdoktorandInnen der Sektion 1 auch renommierte GedächtnisforscherInnen wie Aleida Assmann, Gerald Echterhoff, Claus Leggewie, Erik Meyer, Rolf Reichardt und Jens Ruchatz.

Um der Gefahr einer Verwässerung des Gegenstandsbereichs zu entgehen, wurde der vielfältig bestimmbare Medienbegriff vorab durch drei richtungsweisende Annahmen eingegrenzt. Erstens sind Gedächtnismedien durch ihre eminente Konstruktivität charakterisiert. Medien sind keine neutralen Speicher, die Daten abbilden und über die Zeit hinweg unverändert verfügbar halten; vielmehr sind sie aktiv an der Bedeutungskonstitution der zu vermittelnden Botschaft beteiligt. Die spezifische Materialität, die Besonderheiten und Charakteristika des jeweiligen Mediums prägen demnach die zu erinnernden Inhalte entscheidend mit. Zudem sind Formen, Inhalte und Funktionen von Gedächtnismedien von je bestimmten soziokulturellen Kontexten ihrer Produktion sowie Rezeption geprägt. Da Medien des Kollektivgedächtnisses mithin als historisch und kulturell distinkte Phänomene zu konzipieren sind, muss daher zweitens ihre Kulturspezifität und drittens ihre historischer Wandelbarkeit berücksichtigt werden. Inhalte und Funktionen von Gedächtnismedien lassen sich folglich nur im Rahmen bestimmter historischer Kontexte erfassen.

Die theoretischen Vorraussetzungen und praktischen Folgen dieser grundlegenden Prämissen wurden in den einzelnen Vorträgen disziplinär perspektiviert. Es fällt schwer, von den insgesamt 15 Präsentationen die herausragendsten auszuwählen – den Vortragenden gelang es bis zum Ende, interessante Ansatzpunkte für Diskussionen zu bieten.

Für die Psychologie, das zeigte der Vortrag des Kölner Psychologen Gerald Echterhoff, wirft der Begriff „Gedächtnismedien“ vor allem die Frage auf, inwiefern individuelle Gedächtnisleistungen von externen Faktoren wie psychisch-materiellen, sozialen oder kulturellen Kontexten geprägt sind. Sind Erinnerungen nur von internen, also von kognitiven Formaten, abhängig, oder spielen bei ihrer Aktualisierung nicht auch externe Erinnerungsanlässe eine Rolle? Dass und wie der Umgang mit Erinnerungen von Form und Intensität der Berichterstattung abhängig ist, illustrierten Echterhoffs vergleichende Studien zu den Terroranschlägen des 11. September 2001. In New York City prägte im Unterschied zu Deutschland auch ein halbes Jahr nach den Anschlägen offenbar die hochgradige kollektive Relevanz, die sich vor allem der medialen Berichterstattung verdankt, die Bewertung der Erinnerungen an den 11. September.

Erinnerungen an den 11. September und ihre Implikationen für Erinnerungskulturen standen auch im Zentrum des Vortrags der Gießener Politologen Claus Leggewie und Erik Meyer. Deutlich wurde hier, dass nicht nur die Terroranschläge selbst, sondern auch die Formen ihres Gedenkens in einem Maße durch ihre mediale Vermittlung geprägt waren, dass sie letztlich nur als Medienereignis erfahrbar wurden. Die zunehmende Bedeutung medialer Darstellungen verweist paradigmatisch auf grundlegende Tendenzen heutiger Erinnerungskulturen, in denen Gedenkanlässe mehr und mehr aus ihren ursprünglichen Kontexten gelöst und so für eine „virtuelle Weltöffentlichkeit“ als transnationale Ereignisse inszeniert werden. Ob diese Entwicklung letztlich zu einer Globalisierung oder aber im Gegenteil zu zunehmend lokalen Formen der Erinnerung führt, bleibt abzuwarten.

Welche weitreichenden Möglichkeiten gerade das Medium Internet für die Konstitution eines personalisierten, auf individuelle Präferenzen abgestimmten Erinnerungskultes bietet, verdeutlichte die Präsentation von Angela Sumner (Politikwissenschaft, Gießen). Hypermedia-Anwendungen führen nicht nur zu völlig veränderten Rezeptionsbedingungen eines ehemals öffentlichen und kollektiv geteilten Erinnerungsereignisses, sondern auch zu einem denkwürdigen Wandel der Gedenkinhalte selbst. So können auf der Internet-Site „My Virtual Wall“ Teilstrukturen des Washingtoner Vietnam Veterans Memorial nahezu beliebig zu individualisierten Erinnerungsorten kombiniert werden (http://www.thevirtualwall.org/mywall/my_index.htm).

In der Präsentation der renommierten Gedächtnistheoretikerin Aleida Assmann ging es dann weniger um die Spezifika eines Mediums als vielmehr um einen diachronen Abriss von Formen und Funktionen unterschiedlicher Gedächtnismedien. Das kulturelle Gedächtnis, so Assmann, konstituiere sich auf der Basis zweier unterschiedlicher Gedächtnisformen, nämlich dem Funktionsgedächtnis auf der einen und dem Speichergedächtnis auf der anderen Seite. Den historischen Wandel der Gedächtnisformen sowie -medien veranschaulichte Assmann anhand dreier Zeitschnitte – um 1800, um 1900 und um 2000. Deutlich wurde, dass und wie digitale Medien die herkömmliche Differenz zwischen Funktions- und Speichergedächtnis mehr und mehr in Frage stellen und so neuen Formen des zeitgenössischen Gedenkens den Weg ebnen.

Die Vorträge von Astrid Erll (Anglistik, Gießen), Kirsten Prinz (Germanistik, Köln), Hanne Birk (Anglistik, Gießen) und Birgit Neumann (Anglistik, Gießen) führten schließlich vor Augen, wie vielfältig das Konzept „Gedächtnismedium“ für literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar gemacht werden kann. Literarische Werke stellen auf verschiedenen textinternen Ebenen kultur- und epochenspezifisch relevante Erinnerungsinhalte dar. Fiktionale Gestaltungsspielräume können dazu genutzt werden, auch solche Aspekte der Kollektivvergangenheit zu erschließen, die gesellschaftlich bislang unausgesprochen, weil vergessen oder tabuisiert waren. Darüber hinaus kann Literatur aber auch auf textexterner, also gesellschaftlicher Ebene Wirksamkeit entfalten und so selbst zum Medium des kollektiven Gedächtnisses werden. Dieser in der Literaturwissenschaft nur selten praktizierte Perspektivwechsel illustrierte, dass auch literarische Werke trotz oder gerade wegen ihrer Fiktionalität Einfluss auf gegenwärtige Erinnerungskulturen nehmen können.

Dass es sich bei „Medien des kollektiven Gedächtnisses“ um ein Kulturthema ersten Ranges handelt, verdeutlichten aber nicht nur die Vorträge, sondern auch die zahlreichen Kommentare, Fragen und Diskussionsbeiträge der rund 50 BesucherInnen. Immer wieder kreiste die Diskussion um Formen des zeitgenössischen Gedenkens unter dem Eindruck einer zunehmenden Medialisierung, um gesellschaftliche Erinnerungskonflikte, um die Rolle der Kanonisierung von Gedächtnismedien bis hin zu Fragen des Körpers und der Architektur als Gedächtnismedium. Insgesamt wurde deutlich, wie gewinnbringend es ist, von Gedächtnismedien nicht nur als metaphorischem Gemeinplatz, sondern als differenzierte Analysekategorie einer interdisziplinär orientierten Kulturwissenschaft zu sprechen. Auf den aus der Tagung hervorgehenden Sammelband darf man auf jeden Fall gespannt sein.

Kontakt

Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften, Sektionssprecherin der Sektion 1: Astrid Erll
E-Mail: Astrid.Erll@anglistik.uni-giessen.de

www.uni-giessen.de/graduiertenzentrum
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