HT 2008: Vergessene Kategorien sozialer Integration: Ehre, Treue und Vertrauen als Aspekte einer Kulturgeschichte der Politik

HT 2008: Vergessene Kategorien sozialer Integration: Ehre, Treue und Vertrauen als Aspekte einer Kulturgeschichte der Politik

Organisatoren
Birgit Aschmann, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Nikolaus Buschmann, Eberhard Karls Universität Tübingen; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Benno Gammerl, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

Eröffnet die Betonung emotionaler Dimensionen der Historiografie neue und fruchtbare Perspektiven? Dieser Frage widmete sich am Nachmittag des deutschen Nationalfeiertags eine von Birgit Aschmann und Nikolaus Buschmann organisierte Sektion auf dem Historikertag. In ihrer Einführung sagte Aschmann, dass diese Veranstaltung das Potenzial einer Integration kulturhistorischer Ansätze in die Politikgeschichte ausloten wolle, wobei der Schwerpunkt auf Emotionen als Kategorien sozialer Integration und Differenzierung liege. Damit knüpfte sie einerseits an die tags zuvor geführte Diskussion über die „neue Politikgeschichte“ an. Andererseits bezog sie sich auf das wachsende Interesse an Gefühlen, das sich in der Psychologie und in den anglo-amerikanischen Humanwissenschaften bereits seit längerem regt und nun auch die deutschsprachige Historiografie zu erreichen scheint.

Nach einem einführenden Vortrag von GUNILLA BUDDE (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg), der den methodischen und theoretischen Rahmen absteckte, sprach BIRGIT ASCHMANN (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) über die Rolle von Ehrvorstellungen im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges von 1870, NIKOLAUS BUSCHMANN (Eberhard Karls Universität Tübingen) über die Reinterpretationen und Umdeutungen des Treuebegriffs im 19. und frühen 20. Jahrhundert und UTE FREVERT (Max-Plank-Institut für Bildungsforschung, Berlin) über die Rolle des Vertrauens in den verschiedenen deutschen Staaten und politischen Systemen der Moderne. In den Vorträgen und Diskussionen wurden zahlreiche Fragen und Aspekte angesprochen, von denen hier vier genannt sein sollen: das Problem der Definition und Beschreibung von Emotionen, das Modell der Gefühlsmanipulation, die Vorstellung von historischen Konjunkturen bestimmter Emotionen und das Konzept der Übertragung von Gefühlssemantiken.

Was ist eine Emotion und wie beschreibt man Gefühle? Diese sehr grundsätzliche Frage wurde eher angerissen als beantwortet. Einen Hinweis lieferte Budde, die zwischen Basisemotionen und komplexen Gefühlen unterschied, wobei letztere sozial erlernt werden müssten und deswegen als historisch bezeichnet werden könnten. Ob die daraus implizit folgende Annahme transhistorisch konstanter Basisemotionen für den Historiker problematisch sein könnte, wurde nicht diskutiert. Ein Redner fragte jedoch, ob Vertrauen eine Emotion oder nicht vielmehr eine Kategorie soziologischer Analyse sei. Frevert unterstrich demgegenüber ihren Begriff von Vertrauen als komplexes, historisches Gefühl. Außerdem beschrieb sie das Vertrauen als eine – im Unterschied zur Treue – begrenzte, reversible und einseitige Emotion. Damit lieferte sie zumindest Ansätze für eine beschreibende Differenzierung zwischen verschiedenen Gefühlen.

Eine weitere theoretische Positionierung bezog Budde, indem sie sich – interessanterweise mit Max Weber – von der gängigen Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität klar distanzierte. Eine historische Herangehensweise an Gefühle sollte diese demnach nicht als irrationale Phänomene verstehen, sondern vielmehr im Sinne des in der Psychologie und Neurologie geprägten Begriffs der cogmotion von einer engen Verschränkung kognitiver, verstandesmäßiger und emotionaler, gefühlsmäßiger Dimensionen menschlichen Handelns ausgehen. In einem gewissen Widerspruch zu dieser eingangs formulierten Leitlinie stand der in den Vorträgen teils stark betonte manipulative Charakter von Gefühlen in der Politik. Dieses Manipulations-Modell geht davon aus, dass einflussreiche Personen, zumeist Männer, die Emotionen des Publikums, vulgo der Massen, rational handhaben und ihren Interessen gemäß steuern können. Am deutlichsten wurde dieses Schema im Vortrag von Aschmann, die Bismarcks Aktivitäten im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges mit der Absicht erklärte, die Deutschen gleichsam durch die Produktion eines „emotionalen Integrationskitts“ zu einen. In der Diskussion wurde angemerkt, dass ein solcher Ansatz Gefahr laufe, historiografische Stereotype über den kühlen Strategen Bismarck zu reproduzieren, insbesondere weil Aschmann zugleich von der Hitzköpfigkeit seiner französischen Gegenspieler sprach. Nicht ausführlich diskutiert wurden in diesem Kontext hingegen die Fragen, inwiefern – jenseits einer Geschichte der Emotionen und des Kalküls gleichsam großer Männer – die Gefühle, die im Publikum hervorgerufen werden sollten, tatsächlich gesellschaftlich relevant wurden, und wovon der Erfolg oder das Scheitern solcher Emotionsproduktionsabsichten abhingen.

Eine im engeren Sinn historische Dimension erschloss die Vorstellung von Konjunkturen bestimmter Gefühle im Lauf der Geschichte. Buschmann wies darauf hin, dass die Treue-Semantik insbesondere in Phasen des Umbruchs und der Unsicherheit an Bedeutung gewonnen habe. Die zentrale These von Frevert postulierte in ähnlicher Weise einen Konnex zwischen politisch-juridischen Strukturen und der Ausprägung und Durchsetzung bestimmter Muster von Vertrauen. So trugen nach Frevert die Konstitutionalisierungstendenzen im Vormärz zur gleichzeitigen Ablösung des Treue- durch den Vertrauensbegriff als bestimmende Vokabel im politischen Diskurs bei. Auch für spätere Phasen beschrieb sie ähnliche Zusammenhänge zwischen Vertrauen und Demokratie, Treue und Nationalsozialismus, sowie Misstrauen und DDR-Regime. In der frühen BRD sei hingegen der Wunsch der Bevölkerung, jemandem vertrauen zu können, ausschlaggebend gewesen. Dieser habe entscheidend zur ausgeprägten Stabilität des politischen Personals beigetragen. Später sei hingegen, so Frevert, im Kontext der sozialen Bewegungen der Konnex von Selbstvertrauen und Demokratie bedeutsam geworden. Die Figur der Gefühlskonjunkturen erlaubt es also nicht nur, historischen Wandel in emotionalen Kategorien zu beschreiben. Sie liefert zugleich auch Hinweise darauf, wie diese Prozesse kontextuell eingeordnet und erklärt werden können, welche Institutionen und Strukturen jeweils dafür verantwortlich waren, dass sich bestimmte emotionale Muster etablieren konnten und erhalten ließen.

Auffällig war schließlich auch die große Bedeutung, die in allen Vorträgen dem Konzept der Übertragung zukam, obwohl diese Gemeinsamkeit nicht explizit thematisiert wurde. Aschmann sprach von Rückkoppelungen zwischen den Emotionen der Politiker und den Emotionen in der Öffentlichkeit, innerhalb derer die angestachelten Gefühle eine nicht mehr steuerbare Eigendynamik entwickeln könnten. Diese Vorstellung kommt dem sehr nahe, was Lucien Febvre in seinen Überlegungen zu „Sensibilität und Geschichte“ als Ansteckung beschrieben hat. In den anderen Vorträgen war hingegen eher von Begriffsübertragungen die Rede. Frevert sprach vom Transport der Vertrauenssemantik aus dem Nahbereich sozialer Beziehungen zwischen Individuen gleichsam in den Fernbereich politischer Relationen, wodurch abstrakten Einheiten Emotionalität und personale Züge zugeschrieben worden seien. Und Buschmann konzentrierte sich auf die Übertragung des Treuebegriffs in verschiedene historische Kontexte, wenn er von der Integration des Treuebegriffs in konstitutionelle Strukturen in Form des Verfassungseides sprach oder den anachronistischen Rückgriff auf die Treuesemantik seitens der Rechtskonservativen in den 1920er-Jahren beschrieb. Diese hätten die Treue allerdings nicht mehr auf die Institutionen der Macht, sondern auf gleichsam verinnerlichte Werte bezogen, so dass die anachronistische Wortwahl nach Buschmann trotz anti-moderner und anti-demokratischer Absichten eher zur Modernisierung des Treuebegriffs als zur Entschleunigung des politischen und sozialen Wandels beigetragen habe. In der Diskussion wurde moniert, dass sich diese Thesen und Beobachtungen fast ausschließlich auf die Übertragung von Semantiken und Begriffen konzentrierten. Eine Rednerin fragte, ob die eigentliche Chance einer Geschichte der Gefühle nicht vielmehr darin liege, jenseits diskursanalytischer Ansätze nach methodischen Zugängen zu emotionalen Erfahrungen und zu gesellschaftlich relevanten emotionalen Mustern zu suchen.

Der hier beobachtete Hang emotionshistorischer Ansätze zum Konzept der Übertragung verweist zugleich auf eine Schwäche und auf eine Stärke dieser historiografischen Perspektive. Einerseits sind Gefühle sehr volatil und nicht zuletzt deswegen, wie eingangs bemerkt, nur schwer fass- und definierbar. Andererseits stellen sie aber auch besonders interessante Gegenstände der Geschichtsschreibung dar, die neue Blickwinkel eröffnen und interessante Verknüpfungen ermöglichen. Letztlich kann man also festhalten, dass das Panel in der Tat das große Potenzial emotionsgeschichtlicher Zugänge aufgezeigt hat, zugleich aber auch deutlich wurde, dass noch einige spannende methodische und theoretische Fragen zu klären sind.

Sektionsübersicht:

Gunilla Budde (Oldenburg): Neue Wege zu einer Kulturgeschichte der Politik. Ehre, Treue und Vertrauen als Kategorien sozialer Integration

Birgit Aschmann (Kiel): Ehre – Zur Relevanz des Ehrkonzepts bei der Auslosung des deutsch-französischen Krieges 1870

Nikolaus Buschmann (Tübingen): Treue – Über den Funktionswandel des politischen Treuediskurses nach dem Untergang des Kaiserreichs

Ute Frevert (Berlin): Vertrauen – Politische Semantik zwischen Herausforderung und Besänftigung vom Vormärz bis zum Nationalsozialismus