Herrschaftsverlust und Machtverfall. Festkolloquium zu Ehren von Hans-Ulrich Thamer

Herrschaftsverlust und Machtverfall. Festkolloquium zu Ehren von Hans-Ulrich Thamer

Organisatoren
Christina Schröer, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Peter Hoeres, Historisches Institut Justus-Liebig Universität Gießen; Armin Owzar, UC San Diego
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.10.2008 - 11.10.2008
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Von
Daniel Schmidt, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vom 9. bis zum 11. Oktober 2008 fand in Münster das Festkolloquium „Herrschaftsverlust und Machtverfall“ statt, das anlässlich des 65. Geburtstages des Münsteraner Historikers Hans-Ulrich Thamer von Christina Schröer (Münster), Peter Hoeres (Gießen) und Armin Owzar (San Diego) ausgerichtet wurde. Die Veranstaltung wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung, dem Münsteraner Exzellenzcluster 212 und dem Sonderforschungsbereich 496 unterstützt. Beteiligt waren namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur aus allen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, sondern auch aus den Nachbarwissenschaften. Ziel der Tagung war es, einen interdisziplinären Dialog über das in jüngster Vergangenheit zu Unrecht vernachlässigte Thema „Herrschaftsverlust und Machtverfall“ zu initiieren. Anhand ausgewählter Beispiele sollten epochenübergreifend die spezifischen Probleme des Themas herausgearbeitet, Theorien auf ihre Validität überprüft und gegebenenfalls der Entwicklung eines die Gesetzmäßigkeiten des Machtverfalls erfassenden Modells vorgearbeitet werden. Owzar betonte in seiner Einführung, dass Machtverfall nicht nur Destabilisierung bedeuten müsse. Konservativen Erzählungen über Machtverfall und Dekadenz komme beispielsweise eine bewahrende Funktion zu.

Im Rahmen der ersten Sektion, die einen theoretischen Zugang zu Machtverfall und Herrschaftsverlust suchte, griff UTE DANIEL (Braunschweig) diesen Gedanken auf. Sie problematisierte am Beispiel von Überblicksdarstellungen zum Ende des Alten Reiches die Muster historischer Erzählungen über den Niedergang von Herrschaft. Der scheinbar zwangsläufige Untergang des Reiches erweise sich in vielen Fällen als narratives Konstrukt. Indem sein Exitus vielfach vordatiert werde, erschienen wahlweise die letzten Jahrhunderte oder Jahrzehnte des Alten Reiches als unvermeidliche Agonie. Solche narrativen Strukturen seien stets mit den passenden Aufstiegserzählungen über den Nationalstaat im Allgemeinen und Brandenburg-Preußen im Besonderen verbunden. Daniel diagnostizierte somit eine verbreitete Tendenz in der Historiographie, sich unbewusst an überwunden geglaubten teleologischen Konzeptionen und/oder borussophilen Traditionen zu orientieren. Laut Daniel könne solchen Entwicklungen nur mit einem erhöhten Maß an Selbstreflexion begegnet werden. Sie plädierte für eine neue Form offenen historischen Erzählens, die der komplexen Gegenläufigkeit des historischen Geschehens gerechter werden könne.

Bereits zuvor hatte RUDOLF SCHLÖGL (Konstanz) einen kommunikationstheoretisch fundierten Begriff von Macht vorgeschlagen. Er betrachte Macht als prozesshafte soziale Relation, die steter Symbolisierung bedürfe. Ihre Legitimation beziehe die Macht letztlich aus der Verfügung über die Gewaltmittel. Deren Offenlegung bedeute zugleich auch den Beginn ihrer Delegitimierung. Während der Frühen Neuzeit boten sich den Herrschenden neue Möglichkeiten, ihre Macht zu rechtfertigen und deren Grundlagen mittels zunehmend abstrakter Begründungen zu verschleiern. Ausdifferenzierungs- und Verrechtlichungsprozesse trugen zunächst wesentlich dazu bei, fürstliche Herrschaft unter den sich wandelnden Bedingungen zu stabilisieren. Sie bargen aber gleichzeitig den Keim des Herrschaftsverlustes in sich: Die entstehenden stabilen und entpersonalisierten bürokratischen und politischen Systeme entzogen der Monarchie die Legitimation.

Das Problem der Macht ging LUDWIG SIEP (Münster) aus philosophischer Perspektive an. Dabei fragte er primär nach den überhistorischen Motiven menschlichen Handelns und deren Folgen für den politischen Prozess und dessen Legitimation. Anhand zentraler frühneuzeitlicher Philosophen thematisierte Siep die normativen Folgen von Machtzerfall und Delegitimierung. Während Hobbes und Spinoza trotz ähnlicher Prämissen zum Verhältnis von Macht zu Recht und von Machtverfall zu Delegitimierung zu unterschiedlichen Schlüssen sowohl im Hinblick auf die von ihnen favorisierten politischen Modelle als auch bezüglich ihrer Konzeptionen eines Widerstandsrechts kämen, teile Locke bereits die Grundannahmen seiner Vorgänger nicht mehr. Bei ihm werde die Frage des Machtverfalls und damit verbunden auch die des Widerstandsrechts nicht normativ, sondern pragmatisch behandelt. Allerdings dürfe laut Siep die Begründung eines Widerstandsrechts nicht allein auf dem Faktum des Machtzerfalls fußen, es brauche vielmehr klare normative Kriterien, wolle man die in der Gegenwart zu beobachtende fortschreitende Auflösung von Souveränität bewältigen.

Zum Auftakt der zweiten Sektion über symbolische Repräsentationen von Machtverfall vertrat BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster) in Anlehnung an Nils Brunssons „Organization of Hypocrisy“ die These, das Alte Reich habe nach 1648 eine doppelbödige Struktur ausgebildet, die die Akteure zu „organisierter Heuchelei“ gezwungen habe, d.h. zu einer kollektiv geteilten Strategie, mit unvereinbaren institutionellen Ansprüchen umzugehen, bei der Normen de iure unangefochten bleiben, auch wenn de facto permanent gegen sie verstoßen werden müsse. Wie „organisierte Heuchelei“ in der Praxis aussah, verdeutlichte sie am Beispiel des Immerwährenden Reichstages in Regensburg, dessen Existenz einerseits den politischen Körper des Reiches integrieren sollte, der andererseits aber von den Gliedern genutzt wurde, um die politische Einheit in Frage zu stellen. Vor allem anhand der sprichwörtlichen Zeremonialkonflikte und der dysfunktionalen Beratungs- und Entscheidungsverfahren zeigte Stollberg-Rilinger, wie sich die Regensburger Akteure zunehmend in unüberbrückbaren Widersprüchen und ungelösten Konflikten verstrickten, die schließlich ein so hohes Maß an Energie banden und verschlangen, dass ihnen auch mittels der Konsensfassade systemstabilisierender Scheinheiligkeit nicht mehr beizukommen war.

Unter der Prämisse, dass Bilderwelten die Mentalität ihrer Zeit sichtbar machen, stellte HANS OTTOMEYER (Berlin) zentrale Topoi der Kunst im 18. Jahrhundert vor. Besonders prägend sei ein Rückbezug auf die Antike gewesen, der nicht nur in der Renaissance der Zeitallegorien in Gestalt von Chronos und Saturn, sondern auch in der Omnipräsenz antiker Ruinen und Grabmonumente in allen Kunstformen seinen Ausdruck gefunden habe. Diese Bildprogramme der Vergänglichkeit brachten nicht nur einen grundsätzlichen Geschichtspessimismus der Zeitgenossen zum Ausdruck, sondern zelebrierten gleichsam die Lust am spektakulären Untergang. Bezeichnenderweise verabschiedete sich die Kunst um 1800 von der Darstellung dekadenten Zerfalls und gestürzter Ordnungen. Vor allem um die gefeierte Leitfigur Napoleon herum entstanden neue, optimistische Bildwelten, die ihre Anleihen jedoch weiterhin aus der Antike bezogen. Beispielhaft für diese Neuorientierung steht nicht zuletzt Jacques-Louis David. Dessen berühmtes Gemälde der Krönung Napoleons schlägt die Brücke zu den Ausführungen von ROLF REICHARDT (Gießen), der sich in seinem Beitrag der Darstellungen des französischen Throns und insbesondere des Thronsturzes in der Bildpublizistik zwischen 1789 und 1848 annahm. Der Thron sei nicht nur wesentliches Element herrschaftlicher Selbstdarstellung gewesen, Throndarstellungen zeigten auch den Zerfallsprozess von Herrschaft an, so im Falle Napoleons oder Karls X., die beide auf Schandthronen gezeigt worden seien. Die publikumswirksamen Erzeugnisse der französischen Bildpublizistik illustrierten darüber hinaus eine zunehmende Demokratisierung der Symbolik. So sei das Volk bis 1848 mehr und mehr in den Mittelpunkt der Darstellungen gerückt: Als zentrale Akteure des Umsturzes übergaben die Revolutionäre schließlich den französischen Thron den Flammen.

Mit dem Umsturz, genauer: mit dessen Erfolgsbedingungen, befasste sich auch JAN-PHILIPP REEMTSMA (Hamburg), allerdings in Abwesenheit, da er kurzfristig seine Teilnahme absagen musste. Sein Manuskript konnte allerdings von Meinhard Zanger, Intendant des Wolfgang-Borchert-Theaters, verlesen werden. Anhand von Ludwig Tiecks „Hexen-Sabbath“ zeigte Reemtsma, dass ein Umsturz oftmals gelinge, gerade weil ihn niemand für möglich halte, und daher im entscheidenden Moment aus Fassungslosigkeit auch niemand handlungsfähig sei. In Tiecks Arras zeigte niemand die Bereitschaft zu kollektiver Hysterie. Dennoch brachte ein wahnhafter Bischof die Bürger dazu, Hexen zu verbrennen, indem er öffentlich das Gesetz missachtete, es so delegitimierte und faktisch außer Kraft setzte. Er führte so einen plötzlichen Kollaps des „sozialen Vertrauens“, d.h. der etablierten und unter Normalbedingungen funktionierenden Verhältnisse, herbei, auf deren Trümmern die neue Macht errichtet wurde. Reemtsma zog hier unter anderem Parallelen zum Terror Stalins: Zum einen könne niemand sicher sein, nicht selbst von diesem System verschlungen zu werden, selbst wenn er es zu beherrschen glaubte. Zum anderen diene auch scheinbar irrationales Handeln rationalen Interessen, indem durch die Imaginationen eines allgegenwärtigen Feindes bedrohte Machtpositionen behauptet werden könnten.

Die dritte Sektion der Tagung hatte Wertewandel, Herrschaftskrisen und Elitenwechsel in Antike und Vormoderne zum Gegenstand. Die Vorträge von PETER FUNKE (Münster) und HEINZ DUCHHARDT (Mainz) befassten sich mit Deutungs- und Handlungsstrategien während des Machtverfalls staatlicher Kollektive. Funke thematisierte die athenische Geschichtspolitik in Zeiten des Niedergangs, deren Fixpunkt die Perserkriege waren. Schon im 5. Jahrhundert sei deren heroische Überhöhung mit Hilfe symbolisch-kultischer Praktiken als zentraler Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der Athener verankert worden. Diese Mythisierung habe sich in der Folge als mentalitätsprägend und handlungsleitend für die athenische Außenpolitik erwiesen. Während es zunächst noch darum ging, unter Verweis auf die heroische Vergangenheit den Anspruch auf Hegemonie zu begründen, wurde der Rückbezug auf die Perserkriege mit zunehmendem Machtverfall Athens während des 4. und 3. Jahrhunderts immer mehr zum Argument, um Freiheit und Eigenständigkeit gegenüber den neuen Großmächten zu behaupten.
Duchhardt nahm Preußens Niedergang im ausgehenden 18. Jahrhundert in den Blick. Er kontrastierte die Deutungsmuster des Marquis de Mirabeau mit der Perspektive des Freiherrn vom Stein. Obwohl voll der Bewunderung für Friedrich II. seien sie hinsichtlich der Ursachen für den preußischen Abstieg zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Während Mirabeau Preußen als „Gemeinwesen auf tönernen Füßen“ interpretierte, dem bereits während der Herrschaft Friedrichs II. neben den notwendigen Ressourcen auch Dynamik und innovatives Potential fehlten, nahm Stein seinen König von jeglicher Kritik aus. Er rezipierte zwar Mirabeaus Deutung, sah aber selbst keine strukturellen, sondern persönliche Schwächen als Ursache für Preußens Niedergang: Friedrich Wilhelm II. habe mit seiner Entscheidungsschwäche und seiner Günstlingswirtschaft das Erbe des Onkels verspielt.

Im Mittelpunkt der Ausführungen von GERD ALTHOFF (Münster) und GUDRUN GERSMANN (Paris) stand der – drohende – Herrschaftsverlust vormoderner Monarchen. Althoff betonte die große Bedeutung inszenierter Freiwilligkeit bei mittelalterlichen Entmachtungsstrategien. Es habe stets im Interesse sowohl der überlegenen wie der unterlegenen Konfliktpartei gelegen, einen Machtkampf vor den Augen der Öffentlichkeit ebenso gütlich wie freiwillig zu beenden. So konnten die Entmachteten zumindest ihr Leben retten. Zudem verliehen sie durch ihre aktive Teilnahme der eigenen Entmachtung Verbindlichkeit, legitimierten so den Herrschaftsanspruch der Sieger und stabilisierten gleichzeitig die neuen Machtverhältnisse. Dem Ritual kam dabei die Funktion zu, den zugrundeliegenden Zwang ebenso zu verbergen wie die hintergründigen Aushandlungsprozesse. Diese Mechanismen enthüllen jedoch in einigen Fällen die Quellen: So versuchten die Söhne Ludwigs des Frommen diesen im Jahr 833 zu entmachten, indem sie ihn zu einer öffentlichen Kirchenbuße nötigten, die seinen Herrschaftsanspruch delegitimieren sollte. Da sich seine Söhne zerstritten, behielt Ludwig letztlich Macht und Deutungshoheit, so dass seine Chronisten der Nachwelt die Drohkulisse überlieferten, die vor ihm errichtet worden war und die im potentiellen Vatermord gipfelte.
Einen anderen Ludwig nahm Gersmann in den Blick, der sich ebenso wie sein frommer Namensvetter in einer Zwangslage befand: Allerdings wurde die Macht Ludwigs XVIII. nicht durch die potentiellen Nachfolger, sondern durch den Schatten seiner Vorgänger bedroht. Von diesen – seinem Bruder Ludwig XVI. und dessen Sohn Ludwig XVII. einerseits, von Napoleon andererseits – habe sich der 1814 auf den französischen Thron gelangte Bourbone mittels einer strategisch ausgerichteten Symbolpolitik zu emanzipieren versucht. Für den Jahrestag der Enthauptung seines Bruders, den 21. Januar 1815, plante er eine spektakuläre Funeralzeremonie in St. Denis, um seine Herrschaft zu legitimieren: Die Leichen Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes sollten von ihrer mutmaßlichen Grabstelle in die traditionelle Grablege der Bourbonen überführt werden. Auf diese Weise wollte Ludwig XVIII. zum einen an die monarchische Tradition Frankreichs anknüpfen und die durch die Revolution zerrissene Kette der Zeit wiederherstellen. Zum anderen sollte die durch die revolutionäre Grabschändung entweihte und später von Napoleon zur Grablege der Bonapartes bestimmte Kathedrale symbolisch gereinigt und erneut in Besitz genommen werden. Tatsächlich habe Ludwig XVIII. jedoch eine Farce aufgeführt, in deren Verlauf zwei unidentifizierbare Leichen zu königlichem Rang erhoben wurden, um seinen bedrohten Thron zu retten.

Zum Abschluss der dritten Sektion analysierte FRANZ-JOSEF JAKOBI (Münster) den Machtverfall einer kommunalen Elite, des Patriziats der Stadt Münster, dessen Autonomiebestrebungen in der Mitte des 17. Jahrhunderts scheiterten. Die Ausrichtung des Westfälischen Friedenkongresses habe das ohnehin nicht geringe Selbstbewusstsein der münsterschen Bürgerschaft weiter gestärkt und Hoffnungen genährt, eine dauerhafte Unabhängigkeit vom Fürstbischof erreichen zu können, der für die Dauer der Verhandlungen von der Herrschaft über die Stadt suspendiert war. Ziel sei die Errichtung einer unabhängigen Stadtrepublik gewesen. Nach dem Ende des Kongresses wollte die Stadt Münster vom Kaiser sowohl eine Verlängerung der Freistellung von der fürstbischöflichen Herrschaft als auch einen Schuldenerlass erreichen. Beide Projekte scheiterten: Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen erzwang mit Gewalt den Gehorsam der Stadt, die er in den folgenden Jahren zur Residenz umbaute. Damit verringerten sich die Handlungsspielräume des einstmals mächtigen Patriziats: Es wurde zur abhängigen Funktionselite des Hofes.

Die Referenten der vierten und abschließenden Sektion befassten sich mit der Moderne. In diesem Rahmen hielt RUPRECHT POLENZ (Berlin) einen öffentlichen Abendvortrag über „Failing States“. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags schilderte die globalen Probleme, die aus fragiler Staatlichkeit resultieren. Im Anschluss an eine Typologie schwacher, verfallender und gescheiterter Staaten analysierte Polenz die Ursachen und Folgen der Zerfallsprozesse staatlicher Ordnung. Er führte aus, dass Staatszerfall nicht nur für die direkt davon betroffenen Menschen bedrohlich sei, sondern auch für die internationale Gemeinschaft ein enormes Sicherheitsrisiko berge, das insbesondere von Terror- und Gewaltnetzwerken ausgehe. Daher sei die Intervention externer Akteure legitimiert, vor allem je weniger der scheiternde Staat in der Lage sei, seine Aufgaben wahrzunehmen. Dabei sei allerdings die Intensität der Intervention flexibel zu handhaben. Insbesondere der Einsatz militärischer Gewalt könne nur die ultima ratio sein.

Aus kunstgeschichtlicher Perspektive nahm sich RAINER SCHOCH (Nürnberg) noch einmal Napoleons an. Paul Delaroches Gemälde „Napoleon am 31. März 1814“ aus dem Jahr 1845 erzeuge den Eindruck, den gescheiterten Monarchen in einem unbeobachteten Moment der Erschöpfung zu zeigen. Anknüpfend an die bekannten Werke Davids nehme Delaroche die klassischen Elemente des Staatsporträts auf, deute sie jedoch in Zeichen des Niedergangs um. In seinem historischen Situationsbild (Adolph Menzel) erhebe er mittels seiner detaillierten Ausgestaltung Anspruch auf Authentizität, obwohl er eine historisch nicht belegte Begebenheit zeige. Auf diese Weise reklamiere der Künstler für sich die fiktionale Gestaltungsmacht und stelle sich in bewusste Konkurrenz zu den Geschichtsschreibern.

Während in zahlreichen Vorträgen im Rahmen des Festkolloquiums der Verlust politischer Macht im Mittelpunkt stand, konzentrierte sich JÜRGEN REULECKE (Gießen) auf den gesellschaftlichen Machtverfall von Männergenerationen. Im Generationenkonflikt standen sich etwa seit der Jahrhundertwende konkurrierende Entwürfe von Männlichkeit und Vaterschaft gegenüber. Die Jugendbewegung forderte eine Erziehung zu freier Mannhaftigkeit statt zu Subalternität. Der Erste Weltkrieg überwölbte diese Debatte zunächst, die Niederlage radikalisierte sie jedoch: Die wilhelminischen Väter wurden nun als Verursacher der Kriegskatastrophe betrachtet, ihrer Autorität endgültig die Grundlage entzogen. In radikaler Abkehr suchten viele junge Männer neue Leitbilder und glaubten, diese in der sich als jugendliche Erhebung stilisierenden NS-Bewegung zu finden.

Den Schwerpunkt der vierten Sektion bildete das Thema Revolution. In seinen Ausführungen zu den deutschen Revolutionen des langen 19. Jahrhunderts, zu denen er auch die „Revolution von oben“ der Jahre 1870/71 zählte, ging DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Krieg, Revolution und Machtwechsel nach. 1848 sei ein Machtwechsel ausgeblieben, weil außenpolitische Erwägungen den Erhalt der Monarchie, die weiter über die militärischen Machtmittel verfügte, geboten erscheinen ließ. Im Rahmen der Reichseinigung habe die Monarchie nicht zur Disposition gestanden, das von ihr kontrollierte Militär habe vielmehr den Bestand des neuen Nationalstaats garantiert. Ein Machtwechsel sei nur in engen Grenzen möglich gewesen. Erst das Jahr 1918 habe eine grundlegende Änderung gebracht: Die Monarchie habe mit der Kontrolle über das Militär auch die letzte Rechtfertigung für ihren Fortbestand verloren. Im tatsächlichen Ende der Fürstenherrschaft identifizierte Langewiesche die eigene Qualität des revolutionären Machtwechsels von 1918/19.
Von der Überlegung, dass die Erosion militärischer Macht zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer Revolution ist, ging auch MANFRED HETTLING (Halle) aus. Das Charakteristikum der 48er-Revolution sei es, dass die militärische Macht Preußens stabil geblieben sei. Daher habe nach dem „kritischen Moment“ (Pierre Bourdieu) im März 1848 keine revolutionäre Verkettung der Handlungsstränge von Bürgertum, Unterschichten und Agrarbevölkerung entstehen können, sondern nur ein Machtvakuum. Innerhalb dieses Machtvakuums, für Hettling die spezifische Eigenart der Revolution von 1848, konnten die konkurrierenden Entwürfe der Akteure sich zunächst entfalten, sie verbanden sich jedoch nicht. Das funktionsfähige Fortbestehen der alten Ordnung habe eine dynamische Weiterentwicklung der revolutionären Ereignisse zunächst blockiert und letztlich endgültig verhindert.
Den Sprung vom langen 19. zum Ende des kurzen 20. Jahrhunderts vollzog MARTIN SABROW (Potsdam) mit seinem Vortrag über den Untergang der DDR. Er plädierte dafür, den ostdeutschen Herbst 1989 als Revolution zu verstehen, da es sich um einen irreversiblen Wandel der Herrschafts- und Gesellschaftsordnung gehandelt habe. Somit betrachte er nicht die Gewalthaftigkeit, sondern die Unumkehrbarkeit als zentrales Kriterium eines konzisen Revolutionsbegriffs. Das verbreitete terminologische Unbehagen, das Ende der DDR als Revolution zu bezeichnen, führte Sabrow nicht nur auf konkurrierende Erinnerungskulturen, sondern auch auf die Eigenarten der Ereignisse selbst zurück. So habe es sich in stärkerem Maße um einen Machtverfall der Eliten als um einen Machtgewinn der Revolutionäre gehandelt. Im Herbst 1989 habe sich ein Staatsbankrott vollzogen, der dadurch vorbereitet worden sei, dass die DDR im Verlauf der 1980er in der Denk- und Vorstellungswelt ihrer Bürgerinnen und Bürger, auch der linientreuen Kader, zunehmend ihre Legitimationsgrundlage eingebüßt habe. Die für die Zustimmungsdiktatur DDR konstitutive Konsensfixierung sei ebenso zerfallen wie der utopische Fortschrittsglaube. Dass niemand mehr an die Zukunft der DDR geglaubt habe, sei der entscheidende kulturelle Faktor für ihren Untergang gewesen.

Die lebhaften Diskussionen im Anschluss an die einzelnen Vorträge und Sektionen demonstrierten das Potential, das einer weiteren Erforschung von Herrschaftsverlust und Machtverfall innewohnt. Es wurde vor allem deutlich in Erinnerung gerufen, dass Prozesse des Machtgewinns immer in substantieller Verbindung zu Prozessen des Machtverlusts stehen, dass der Aufstieg des einen immer mit dem Abstieg des anderen verkettet ist. Zukünftige Forschungen müssen diesen Zusammenhang im Blick behalten. Wenn auch bisweilen nur schwer überbrückbare, vor allem terminologische Differenzen zwischen Vormoderne und Moderne auftraten, erwies sich die Möglichkeit, im gemeinsamen Gespräch die historischen Tiefendimensionen des Themas auszuloten, letztlich als lohnend. Insbesondere im regen Meinungsaustausch im Anschluss an die Ausführungen zu den revolutionären Machtwechseln deuteten sich die Potentiale einer Typologisierung von Machtverfall und Herrschaftsverlust an. Weder der Gesprächs- noch der Fragebedarf erscheinen ansatzweise ausgeschöpft zu sein.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Ursachen, Theorien, Erklärungsansätze: Die Delegitimierung politischer Herrschaft (Moderation: Armin Owzar, San Diego)

Armin Owzar (San Diego): Einführung ins Thema

Rudolf Schlögl (Konstanz): Mächtige Kommunikation in der Frühen Neuzeit

Ute Daniel (Braunschweig): Narrative Strukturen von Auf- und Abstiegserzählungen der Geschichtswissenschaft

Ludwig Siep (Münster): Machtzerfall, Delegitimierung und Widerstandsrecht in der politischen Philosophie der frühen Neuzeit

Sektion II: Anzeichen, Bilder und Interpretationen: Symbolische, verbale und visuelle Repräsentationen von Machtverfall (Moderation: Christina Schröer, Münster)

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): Organisierte Heuchelei? Vom Machtverfall des Römisch-deutschen Reiches

Hans Ottomeyer (Berlin): Bildwelten des Untergangs zur Zeit Ludwigs XVI. (1774-1789)

Rolf Reichardt (Gießen): Thronstürze in Frankreich 1789-1848

Jan-Philipp Reemtsma (Hamburg): Ludwig Tiecks Arras. Umsturz in der Retorte

Sektion III: Wertewandel, Herrschaftskrisen, Elitenwechsel: Machtverfall und Epochenwenden in Antike und Vormoderne (Moderation: Peter Hoeres, Gießen)

Peter Funke (Münster): „Von des attischen Reiches Herrlichkeit.“ Vergangenheitsbezug und Neupositionierung in der athenischen Außenpolitik der hellenistischen Zeit

Gerd Althoff (Münster): Inszenierte Freiwilligkeit. Gute Mienen zum bösen Spiel der Entmachtung im Mittelalter

Heinz Duchhardt (Mainz): Preußens Niedergang oder Mirabeau und die Folgen

Gudrun Gersmann (Paris): Der Machtverfall Napoleons und die Rückkehr der Bourbonen

Franz-Josef Jakobi (Münster): Bernhard Rottendorff und das Ende der republikanischen Ära der Geschichte der Stadt Münster

Sektion IV: Revolution, Pluralisierung, Massenmobilisierung: Herrschaftsverlust und Machtwechsel unter den Bedingungen der Moderne (Moderation: Manfred Görtemaker, Potsdam/Karl Teppe, Münster)

Dieter Langewiesche (Tübingen): Machtwechsel durch Revolution?

Rainer Schoch (Nürnberg): Machtverlust und Mythenbildung: Paul Delaroches „Napoleon am 31.3.1814“

Ruprecht Polenz (Berlin): „Failing states“ – Verlust von Staatlichkeit

Manfred Hettling (Halle): Machtvakuum? Auflösung und Wiedererrichtung staatlicher Autorität 1848

Jürgen Reulecke (Gießen): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik: von starken Vätern zur ,vaterlosen Gesellschaft'

Martin Sabrow (Potsdam): Der ostdeutsche Herbst 1989 – Wende oder Revolution?