HT 2008: Bleibt im Vatikanischen Geheimarchiv vieles zu geheim? Historische Grundlagenforschung in Mittelalter und Neuzeit

HT 2008: Bleibt im Vatikanischen Geheimarchiv vieles zu geheim? Historische Grundlagenforschung in Mittelalter und Neuzeit

Organisatoren
Michael Matheus, Deutsches Historisches Institut Rom; Hubert Wolf, Universität Münster; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
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Von
Patrick Bernhard, Deutsches Historisches Institut Rom

Vom Nutzen editorischer Großprojekte für die historische Forschung: Unter diesem Leitmotiv stand auf dem Historikertag eine Sektion, die vom Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom und dem Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster organisiert worden war. Gut aufbereitete zentrale Quellenkorpora, führte der Direktor des DHI Michael Matheus in seinem Einleitungsreferat mit Verve aus, stellten ein nach wie vor unverzichtbares Instrumentarium für Historiker dar. Sie bildeten das Fundament empirisch gesättigter Studien. In diesem Sinne leisteten Einrichtungen wie das DHI mit ihren langfristigen Editionsvorhaben „Grundlagenforschung“, wie Matheus in Anlehnung an die naturwissenschaftliche Begrifflichkeit formulierte. Damit bezogen die Organisatoren der Sektion zugleich ausdrücklich Position gegen den leider nicht anwesenden Winfried Schulze, für den bekanntlich die Geschichtswissenschaft „prinzipiell auch ohne Editionen leben“ kann.1

Einen Schritt weiter noch ging Mitorganisator Hubert Wolf. Der Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte sprach unter Rückgriff auf Thomas Nipperdey von „größerer Objektivität“, die durch eine möglichst große Zahl herangezogener Quellen gewährleistet werde. Das bewahre die Geschichtsschreibung vor „subjektivem Relativismus“, wie Wolf gegen die neue Kulturgeschichte gewandt weiter formulierte.

Die Vorzüge, die Quellensammlungen nach Meinung der Organisatoren grundsätzlich bieten, stellten die anderen Sektionsteilnehmer im Anschluss anhand ausgewählter Regesten- und Editionsprojekte aus dem Bereich der Mediävistik und der Neuzeitforschung dar.2 Dazu zählten das Repertorium Germanicum (Kerstin Rahn), das Repertorium Poenitentiarie Germanicum (Ludwig Schmugge), die Erschließung der Quellen zur Römischen Buchzensur (Judith Schepers), die Editionen der frühneuzeitlichen Hauptinstruktionen (Silvano Giordano) sowie die Nuntiaturberichte des 20. Jahrhunderts (Kirsi Salonen, Thomas Brechenmacher, Hubert Wolf).

Dass das systematische Erfassen von Quellen zu neuen Einsichten führen kann, unterstrichen vor allem Ludwig Schmugge, Hubert Wolf und Thomas Brechenmacher in ihren Vorträgen. Der Mediävist LUDWIG SCHMUGGE (Universität Zürich) unternahm anhand der Quellenedition zur Römischen Dispensbehörde eine Revision der bisherigen Forschung zum kirchlichen Eherecht. Entgegen früherer Behauptungen sei das Zusammenleben von Paaren „ohne Trauschein“ im Spätmittelalter nämlich durchaus verbreitet gewesen, so Schmugge. Zum anderen war es nach seinen Befunden Verheirateten nicht möglich, unter Berufung auf eine frühere klandestine Verbindung eine rechtsgültig geschlossene Ehe auflösen zu lassen. Für Schmugge konvergierten damit kirchliche und kommunale Ehegesetzgebung bereits vor der Reformation.

Auch HUBERT WOLF (Universität Münster) versuchte in seinem Vortrag bisherige Forschungspositionen zu korrigieren. Gestützt auf Berichte, die der Vatikanische Nuntius Eugenio Pacelli zwischen 1917 bis 1929 aus Deutschland nach Rom schickte, konnte Wolf tatsächlich deutlich machen, dass der künftige Papst Pius XII. keinesfalls die Koalition zwischen SPD und Zentrum ablehnte, wie bislang angenommen. Ganz im Gegenteil: Er versuchte sogar zu verhindern, dass der damalige Papst die Zusammenarbeit zwischen deutschem Katholizismus und Sozialdemokratie offiziell verurteilte.

Neue Einblicke versprach auch THOMAS BRECHENMACHER (Universität Potsdam) für die von ihm editierten Nuntiaturberichte von Pacellis Nachfolger Orsenigo. Die immerhin 2000 Dokumente umfassende Korrespondenz mit Rom habe eine der wesentlichen Entscheidungsgrundlagen für die Politik des Vatikans gegenüber dem Dritten Reich dargestellt, so Brechenmacher. Die Berichte enthielten jedoch viele Fehleinschätzungen. Deshalb habe der Vatikan relativ lange gebraucht, um zu einer „zutreffende[n] Diagnose“ der NS-Diktatur zu gelangen.

Wie wichtig schließlich gerade bei großen Editionsprojekten eine zeitgemäße Erschließung des Materials ist, machte JÖRG HÖRNSCHEMEYER (Rom) in seinem Beitrag deutlich. Der IT-Experte stellte einige von ihm konzipierte Datenbanken für Historiker vor und demonstrierte an konkreten Beispielen die gänzlich neuen Recherche- und Verknüpfungsmöglichkeiten, die digitalisierte Quelleneditionen erlauben.

Die anschließende Diskussion innerhalb der Sektion litt sehr darunter, dass weder die Kritiker editorischer Großprojekte noch Vertreter der neuen Kulturgeschichte anwesend waren. So fand die semantische Umcodierung des Begriffs Grundlagenforschung ebenso wenig Widerspruch wie das Objektivitätspostulat, das offensichtlich für Wolf nicht deckungsgleich mit dem Gedanken der intersubjektiven Überprüfbarkeit ist. Stattdessen kam es nach einigen Detailnachfragen aus dem Publikum zu einer längeren, ausgesprochen konsensualen Aussprache über die Folgen des Bologna-Prozesses und der Einführung der BA/MA-Studiengänge für die universitäre und außeruniversitäre Editionstätigkeit. So sahen die Diskussionsteilnehmer die Gefahr, dass die zeitintensive Ausbildung des editorischen Nachwuchses durch allzu reglementierte Studiengänge gefährdet werden könnte.

Als Teilnehmer und Berichterstatter der Sektion hätte man sich fast eine kontroversere Diskussion gewünscht. Spannungsreicher wäre es zweifellos gewesen, wenn die Organisatoren einen ausgemachten Kritiker editorischer Großprojekte als Kommentator verpflichtet hätten. Dann wäre möglicherweise auch die vielleicht zentrale Frage diskutiert worden, nämlich in welchem Umfang die Forschung letztlich Quelleneditionen benötigt.

Sektionsübersicht:

Michael Matheus (Rom): Grundlagenforschung aus Leidenschaft. Oder: Vom bleibenden Wert kritischer Editionen: Einleitung

Jörg Hörnschemeyer (Rom) / Kerstin Rahn (Rom): Historische Grundlagenforschung und Friedensnobelpreis. Ludwig Quidde und das Repertorium Germanicum

Ludwig Schmugge (Rom): Ehen vor der römischen Ponitentarie

Silvano Giordano (Rom): Wirklichkeit und Wahrnehmung: Das Reich aus der Sicht Urbans VIII.

Hubert Wolf (Münster) / Judith Schepers (Münster): Das geheimste aller geheimen Archive: Zur Erforschung der Römischen Buchzensur im Archiv der Römischen Glaubenskongregation

Jörg Hornschemeyer (Rom) / Hubert Wolf (Münster) / Kirsi Salonen (Rom): Digitale Editionen neuzeitlicher Quellen (DENQ), Pius XII. als Nuntius in Deutschland. Oder: Vom Recht auf eine eigene Biographie anhand der Quellen

Thomas Brechenmacher (Potsdam): Nuntius Orsenigo und der Zwang zum schnellen Statement. Von der vorteilhaften Wirkung vollständig edierter Quellencorpora für die Urteilskraft des Historikers

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu: Tagungsbericht Vom Nutzen des Edierens. 03.06.2004-05.06.2004, Wien. In: H-Soz-u-Kult, 06.07.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=510> (19.01.2009). Deutlich zurückhaltender hat sich Winfried Schulze kurze Zeit später geäußert. Siehe Winfried Schulze, Editionstätigkeit und Forschungsorientierung in der neuen Geschichte. in: Brigitte Merta / Andrea Sommerlechner / Herwig Weigl, Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Wien, 3.-5. Juni 2004, Wien 2005, S. 339-348, hier: S. 348.
2 Siehe die Abstracts der einzelnen Beiträge unter: <http://www.historikertag.de/Dresden2008/index.php/wissenschaftliches-programm/sektionen-am-3okt> (11.11.2008).


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