HT 2008: Visualisierungen der Ungleichheit. Repräsentationen und Wandel von demografisch-statistischem Wissen

HT 2008: Visualisierungen der Ungleichheit. Repräsentationen und Wandel von demografisch-statistischem Wissen

Organisatoren
Petra Overath, Centre Marc Bloch Berlin; Sylvia Kesper-Biermann, Universität Bayreuth; Jakob Vogel, Universität zu Köln; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Seitz, Centre Marc Bloch Berlin

Wissen und Visualisierung waren immer schon eng miteinander verbunden. Die Entwicklungen in der technischen Ausgestaltung und in der Reproduzierbarkeit grafischer Darstellungen des 19. und vor allem des frühen 20. Jahrhunderts haben aber dazu beigetragen, dass die Bildsprache im Bereich der Wissensvermittlung zunehmend an Bedeutung gewann. Das Ziel der Sektion von Petra Overath, Sylvia Kesper-Biermann und Jakob Vogel bestand darin, eine Historisierung der Darstellungen von Ungleichheit in unterschiedlichen Wissensfeldern der Bevölkerungslehren vorzunehmen. Im Mittelpunkt standen die Repräsentationen und der Wandel von Visualisierungsstrategien, ihr implizites Wissen und ihre Auswirkungen für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Beispiele wurden aus verschiedenen Wissensformationen, etwa des Strafrechts, der militärischen Kartografie oder aus biologischen Lehrbüchern ausgewählt.

Repräsentationen statistischen Wissens präfigurieren und inszenieren Wissen über Bevölkerung und transportieren Inhalte und Prognosen, die eine ungeheure Wirkmächtigkeit in Wissenschaft und Öffentlichkeit entfalten können. So wurden bereits die Krisendiskurse des 19. Jahrhunderts von einschlägigen Illustrationen begleitet. Die stereotypisierte Formensprache prägt unsere Wahrnehmungen aber bis heute. In ihrer Einleitung belegte Sylvia Kesper-Biermann dies beispielhaft an einer grafischen Prognose der Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahre 2100, die in ihrer formalen Gestaltung an die apokalyptischen Krisendiskurse des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfte.

HEINRICH HARTMANN (Freie Universität Berlin/Universität zu Köln) eröffnete das Panel mit seinem Beitrag „Die schraffierten Armeen“, in denen er die Wehrkraftsdebatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland am Beispiel der Kartografie untersuchte. Dabei zeigte er, wie sich demografische und militärische Wissensbestände unter dem Einfluss einer rassistisch ausgerichteten Anthropologie verbanden und zu einer Form des wissenschaftlichen nation-building beitrugen.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Debatten über Dekadenz und Degeneration suchten Wissenschaftler die Befürchtungen hinsichtlich einer schwindenden Wehrkraft statistisch fassbar und grafisch sichtbar zu machen. Laut Heinrich Hartmann diente die Darstellung militärisch-statistischen Wissens über die Rekruten der Erzeugung „demografischer Evidenz“. Dabei verwies er auf die Bedeutung des nationalen Referenzrahmens: Sowohl bei der Datenerhebung als auch in der Erstellung der Karten stellte der Nationalstaat die Folie für die räumliche Anordnung dar und führte zu der Erzeugung und Konsolidierung nationaler Gefüge. Dass sich auch die anthropologischen Untersuchungen der Rekruten nationaler Perspektive bedienten, obwohl diese für die Beschreibung von Rassentypen gemeinhin abgelehnt wurden, verweist auf die Wirkmächtigkeit nationalstaatlicher Darstellung.

Hinsichtlich der Darstellung selbst ging Heinrich Hartmann vor allem auf die Farbgebung ein. Am Beispiel der Antropometria militare von Rudolfo Livi (1896) zeigte er, wie die Körpergröße über die Verwendung von Komplementärfarben als konstitutives Distinktionsmerkmal zwischen dem italienischen Norden und dem italienischen Süden herangezogen wurde. Damit betonte Heinrich Hartmann, dass die Geschichte der Visualisierungen auch eine Geschichte des Sehens und der Sehgewohnheiten ist.

Im Unterschied zu den Militärstatistiken wurden die Kriminalitätsstatistiken zwar ebenfalls auf der Grundlage nationaler Erhebungen erstellt, konstruierten sich aber nicht in Abgrenzung zu anderen staatlichen Räumen. SYLVIA KESPER-BIERMANN (Universität Bayreuth) unterstrich hingegen die Bedeutung des statistischen Wissens und der visuellen Darstellungen für die öffentliche Diskussion über die Reform des Strafrechts oder allgemeiner über den Umgang mit Verbrechen und Verbrechern im ausgehenden 19. Jahrhundert. Durch die Kriminalitätsstatistiken, die zunächst als verwaltungsinterne Instrumente konzipiert waren, gerieten zunehmend Ungleichheiten zwischen Bevölkerungsteilen ins Blickfeld, auf deren Grundlage kriminalpolitische Forderungen geltend gemacht wurden. Die Visualisierungen ermöglichten dabei nicht nur eine Verbreitung des Wissens, sondern auch eine Verknüpfung verschiedener Wissensfelder. Dabei entstanden oft Kausalitäten, die in weiteren Argumentationen als implizites Wissen zugrunde gelegt wurden. In der Untersuchung der Ungleichheiten wurde etwa die soziale Dimension in den Vordergrund gerückt, indem Getreidepreise oder die Schulausbildung in Bezug zu den Kriminalitätsraten gesetzt wurden.
In den 1920er-Jahren erfuhren die Visualisierungen eine zunehmende Ausdifferenzierung und Verbreitung. Die Darstellung der Ungleichheit zielte dabei unter anderem auf biologische Einordnungsversuche und auf eine Verbindung von anthropologischem mit kriminalstatistischem Wissen ab. Besonders deutlich wurde dies in den so genannten Verbrecherbildern, in denen eine biologische Klassifizierung der Verbrechertypen vorgenommen werden sollte.

Schließlich wies Sylvia Kesper-Biermann mit einer Abbildung „verdächtiger Hirnareale“ auf das gegenwärtige Interesse an der Veranschaulichung biologischen Wissens hin. In der Darstellung wurde gleichermaßen die Bemühung um Komplexitätsreduktion wie die tatsächliche Komplexitätszunahme deutlich, die aus der Spannung zwischen Evidenz und implizitem Wissen resultiert.

Der Beitrag „Blicke nach drüben“ der Politikwissenschaftler DANIEL SCHMIDT und MAXIMILIAN SCHOCHOW (Universität Leipzig) beschäftigte sich demgegenüber mit der innerdeutschen Abgrenzung und mit der Wahrnehmung der jeweils anderen Bevölkerungspolitik. Trotz der Proklamation einer marxistischen Bevölkerungswissenschaft fand sich bis in die 1970er-Jahre in beiden deutschen Teilstaaten die gleiche Formsprache: Die Bevölkerungspyramide nach Friedrich Burgdörfer (1932) wirkte auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze auf die Wahrnehmung und Problematisierung des Bevölkerungswachstums zurück. Als Verkörperung eines stabilen und auf Wachstum ausgerichteten Idealzustands – im Gegensatz zu Glocke und Urne –, leistete sie als wertende Beschreibungskategorie nicht nur einen wesentlichen Beitrag zu der Popularisierung der Demografie in Ost- und Westdeutschland, sondern reproduzierte auch die Logik eines notwendigen Bevölkerungswachstums. Trotz des gleichen formalen Bezugssystems blieb der Blick der DDR-Demografen selbstreferentiell, was sich etwa in dem Versuch der Entwicklung eines sozialistischen Bevölkerungsgesetzes in den 1980er-Jahren oder in der Umdeutung der Bevölkerungspyramide als Lebensbaum manifestierte. Die Bemühungen um eine eigene Bevölkerungswissenschaft und ihrer visuellen Vermittlung wurden in der BRD mit Interesse verfolgt, wenn die politischen Maßnahmen auch als Option grundsätzlich ausgeschlossen wurden. Hinsichtlich der aktuellen Debatten im vereinigten Deutschland sind diese Diskurse der systemischen Gegensätzlichkeit aber weiterhin wirkmächtig, was etwa die jüngeren Diskussionen um die Kinderbetreuung gezeigt haben.

Auch die Bildsprache prägt bis heute die politischen Diskurse über den demografischen Wandel. Daniel Schmidt belegte die Verselbständigung demografischer Bilder exemplarisch an einem Ausschnitt des Berichts der Enquete-Kommission des sächsischen Landtages dieses Jahres, in dem die Bevölkerungspyramide in blumiger Sprache als „Pilzform“ mit „jährlich enger werdendem Jungendsockel“ und „Altenkrone“ beschrieben wurde.1

Auch in VERONIKA LIPPHARDTs (Humboldt-Universität zu Berlin) Beitrag „Populationen des Homo sapiens“ spielen apokalyptische Zukunftsentwürfe eine Rolle. Sie untersuchte biologische Bevölkerungsexpertisen am Beispiel von Biologie- und Ökologie-Lehrbüchern der 1970er- und 1980er-Jahre auf die Darstellung der „Populationsökologie des Menschen“. In den Repräsentationen demografischen Wissens setzten sich im Untersuchungszeitraum neben den Bevölkerungskurven kybernetische Regelkreise und Gleichgewichtsmodelle durch. Übertragungen von Tierpopulationen auf die Menschenpopulation – die somit als eine Population begriffen wurde – waren sehr häufig, wobei dem „natürlichen“, begrenzten Wachstum der Populationen aus dem Tierreich das ungebremste Bevölkerungswachstum der Menschen gegenübergestellt wurde. Die Bedrohung drückte sich gleichermaßen visuell, etwa in der Darstellung exponentiell steigender Graphen, wie verbal aus, da die Texte dem Wachstum der Bevölkerungen eine dramatisch inszenierte Endlichkeit der Ressourcen gegenüberstellten.

Hinsichtlich des weltweiten Bevölkerungswachstums wurde darüber hinaus zwischen Entwicklungs- und Industriestaaten differenziert, wobei ausschließlich erstere für das unkontrollierte Wachstum verantwortlich gemacht wurden. In diesem Zusammenhang erfuhr die Formensprache eine Umdeutung: War in den Bevölkerungsdiskursen bislang die Pyramide die Verkörperung von stabilem Wachstum, so stand sie nun für eine unnatürliche und ungesunde Vermehrungsrate. Die Bevölkerungsglocke oder gar die Bevölkerungsurne wurden zu den beispielhaften und in sich ruhenden Formen eines gemäßigten und kontrollierten Wachstums stilisiert. Zugleich wies Veronika Lipphardt aber auf die Widersprüchlichkeit nationaler Wachstumsdiskurse und internationaler Gleichgewichtsmodelle hin, da zumindest in den Industrienationen der Rückgang der Geburtenrate weiterhin problematisiert wurde.

In seinem Kommentar plädierte JAKOB VOGEL (Universität zu Köln) dafür, die Geschichte der Repräsentationen im Bereich des Bevölkerungswissens in einen breiteren Forschungsrahmen einzuordnen. Als mögliche Untersuchungsfelder führte er dabei die Wissenschaftsgeschichte der Demografie, die Geschichte der Statistik sowie die Nationalgeschichte und ihre Visualisierungsformen an. Hinsichtlich des Forschungsstands zitierte er die einschlägigen Untersuchungen von Morgane Labbé (EHESS Paris) zum Bereich der demografischen Kartografie und von Sybilla Nikolow (Universität Bielefeld) zur Geschichte der Statistik.

In einem zweiten Schritt schlug er in Anlehnung an die Beiträge eine Periodisierung vor, nach der sich die Formensprache der Demografie mit der Herausbildung ihrer akademischen Disziplin entwickelt habe. Für den deutschen Raum habe die Demografie erst mit Burgdörfers Bevölkerungspyramide zu einer eigenen und autoreferentiellen Darstellungsform gefunden. Diese sei in ihrer Ausschließlichkeit in den 1960er- und 1970er-Jahren durch Gleichgewichts- und Regelkreismodelle abgelöst worden. Diese Periodisierung sei angesichts der erst beginnenden Forschung vorläufig, zumal die Beiträge sich in der Mehrheit auf die Visualisierung statistischen Wissens konzentriert hätten. Eine umfassende Analyse semiotischen Bevölkerungswissens stehe noch aus und müsse neben den angesprochenen Visualisierungsformen verstärkt auch Karten, Bilder, Fotografien und sprachliche Bilder in die Untersuchung miteinbeziehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Panel einen zeitlich wie thematisch sehr weiten Bogen gespannt hat, der einen erhellenden Einblick in die Komplexität der Geschichte visueller Darstellung vermittelt. Angesichts der schlaglichtartigen Beleuchtung bleibt allerdings nicht nur die von Jakob Vogel angerissene Frage der Periodisierung bedeutsam, sondern auch die Notwendigkeit einer methodischen Auseinandersetzung mit grafischen Darstellungen, auf deren Grundlage eine systematische Analyse visualisierten Wissens im Bereich der Bevölkerungswissenschaften durchgeführt werden kann, um diese anschließend in den größeren Zusammenhang der Bildanalyse innerhalb der Geschichtswissenschaften zu stellen.

Sektionsübersicht:

Heinrich Hartmann (Freie Universität Berlin): Die schraffierten Armeen. Visualisierungsstrategien in der europäischen Wehrkraftdebatte, 1900 – 1914

Sylvia Kesper-Biermann (Universität Bayreuth): Kriminalität und Ungleichheit(en) in Repräsentationen demografisch-statistischen Wissens

Daniel Schmidt (Universität Leipzig): Blicke nach drüben. Bevölkerungspolitiken in der nationalen Konkurrenz

Veronika Lipphardt (Humboldt-Universität zu Berlin): Populationen des Homo sapiens. Demografische Visualisierungen in den Biowissenschaften

Jakob Vogel (Universität Köln): Kommentar

Anmerkung:
1 Sächsischer Landtag (Hrsg.), Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder. Bericht der Enquete-Kommission, Dresden 2008, S. 70.