Topik und Recht. Soziale Normen und ihr Wandel in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Topik und Recht. Soziale Normen und ihr Wandel in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Organisatoren
Nikolaus Boettcher, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin; Thomas Frank, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2008 - 11.10.2008
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Von
Nikolaus Böttcher, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin; Thomas Frank, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Normen und Gesetze, in denen die rechtliche Ordnung von Gesellschaften und Institutionen formuliert wird, sind Produkt und zugleich Bedingung eines komplexen Zusammenspiels von Traditionen, gesichertem Wissen und neuen Erkenntnissen, von Ereignissen und ihrer Verarbeitung, von Interessenkonflikten und Kompromissen zwischen den beteiligten Akteuren. Da im konkreten historischen Prozess dieses Zusammenspiel sich nie statisch, sondern immer als Bewegung von Wechselwirkungen und als sozialer Wandel darstellt, muss jede Gesellschaft ihre Rechtsnormen fortentwickeln, um den Wandel zu kanalisieren und zu steuern. Ergebnis davon sind Wissensgenerierung durch Umbau, verändertes Arrangement und effizientere Erschließung der vorhandenen Topoi.

Der Workshop hat es sich zum Ziel genommen, diese theoretischen Überlegungen an zwei konkreten, wenn auch sehr verschiedenen historischen Konstellationen zu diskutieren. Die erste gehört in die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Sozialgeschichte und stellt mit dem Hospital eine in dieser Epoche besonders wichtige Institution der Sozialfürsorge in den Mittelpunkt. Die zweite führt in eine völlig andere Welt, nämlich in das frühneuzeitliche Spanien und sein Kolonialreich, wo seit dem 15. Jahrhundert mit Hilfe des Konzepts der Reinheit des Blutes eine Neuformierung der Gesellschaft zuerst im Mutterland und dann auch in Amerika in Gang gesetzt wurde.

In seinen einleitenden Überlegungen zum ersten Themenschwerpunkt „Sozialpolitik, Normenwandel, Reform: Hospitäler und Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit“ erläuterte THOMAS FRANK (Freie Universität Berlin) seinen weit gefassten Begriff der ‚Reform’, den er der Untersuchung von Hospitalreformen zu Grunde legt. Dieser Begriff erlaubt es, die Argumentationsweisen in den Blick zu nehmen, mit denen Reform- und Verbesserungsversuche aller Art begründet werden sollten. Auf diese Weise können Hospitalreformen als historische Konstellationen gelesen werden, die über das allgemeinere Problem des topisch strukturierten Wissenswandels im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit Aufschluss geben. Als Beispieltext stellte Frank die Stiftungsurkunde (1458) des Hospitals von Kues an der Mosel vor. Die Urkunde, in der Normen für den künftigen Betrieb dieser Fürsorgeinstitution fixiert werden, ist zwar ein Gründungsakt, kann aber auf Grund des gesamten Werdegangs des Stifters und notorischen Reformers Nikolaus von Kues dennoch als Reformzeugnis im weiteren Sinn und somit als Quelle für den spätmittelalterlichen Reformdiskurs gedeutet werden.

MARINA GAZZINI (Universität Parma) stellte unter dem Titel “Preparing the Reform: Debates on Hospitals in the Visconti Dominion. (14th-15th centuries)” ein juristisches Consilium aus dem Jahr 1349 vor. Mit Hilfe dieses bisher unedierten Gutachtens zu den Hospitälern der Diözese Mailand lassen sich einige Konzepte beleuchten, die später zu den Grundlagen der Hospitalreform des 15. Jahrhunderts gehören sollten. Die 1349 befragten Rechtsgelehrten sollten die Frage klären, ob eine päpstliche Steuer zur Finanzierung des Türkenkreuzzugs auch die Mailänder Armen- und Krankenhospitäler mit Augustinus-Regel betreffe. Um ihre ablehnende Antwort zu begründen, setzten sie zu einer grundsätzlichen Prüfung von Wesen und Zielen dieser Institutionen an. Das Dokument liegt nur abschriftlich vor, und zwar im Archiv eines nicht direkt betroffenen Hospitals in Parma. Das zeigt, dass Consilia weit zirkulieren konnten, weil sie die Meinung der renommiertesten Doctores wiedergaben und deshalb in weiteren Rechtsstreitigkeiten einsetzbar waren.

Ausgangspunkt des Vortrags von MARINA GARBELLOTTI (Universität Verona), „Welchen Bedürftigen helfen? Fürsorgepolitik auf der italienischen Halbinsel in der Frühneuzeit“, war die Feststellung, dass eine Vielzahl neuerer Arbeiten sich mit der Gültigkeit konsolidierter Kategorien in der Geschichte der Armenfürsorge auseinandersetzen, wie zum Beispiel wahre oder falsche Arme, Arbeit und Nichtstun, soziale Ordnung und Unordnung, Unterstützung und Verwahrung. Solche Kategorien haben dazu geführt, dass Themen wie obrigkeitliche Unterstützung und Sozialdisziplinierung unter einem Blickwinkel betrachtet werden, der zu stark von Dichotomien geprägt ist. Demgegenüber lenken manche Historiker zu Recht die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit, diese Kategorien flexibler zu gestalten, die Figur des Bedürftigen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert differenzierter zu analysieren, zu überprüfen, welchen Einfluss die Kultur der caritas auf die verfügbaren Lebensmodelle hatte. Am Beispiel einiger norditalienischer Städte untersuchte die Referentin drei Aspekte der Fürsorgepolitik und der mit deren Umsetzung betrauten Institutionen näher: erstens Armut und Arbeit, zweitens einheimische und fremde Arme und drittens die Beziehungen zwischen caritas-Konzepten und dem Ideal der Erziehung der Hilfsempfänger.

FRANK HATJE (Universität Hamburg) ging in seinem Vortrag „Beharrung und institutioneller Wandel. Hospitäler in Norddeutschland (16.-18. Jahrhundert)“ zunächst auf die Bilder, Vorstellungen und Topoi ein, die sich in der Frühen Neuzeit mit dem Begriff „Hospital“ verknüpften. „Armut“ und „Krankheit“ als sozioökonomische Kategorien der Bedürftigkeit und als religiöse Metaphern wiesen dabei ein ebenso hohes Maß an Konstanz auf wie das Konzept eines „christlichen Hausstandes“. Die an die Hospitaliten gerichtete Erwartung eines „christlichen“ und „tugendsamen“ Lebenswandels durchlief im 18. Jahrhundert indes eine allmähliche Bedeutungsverschiebung von der einseitigen Betonung religiöser Pflichten hin zu einer Praxis „bürgerlicher Tugenden“. Ungeachtet der veränderten theologischen Begründungszusammenhänge durch die Reformation und trotz der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung in unterschiedliche Hospitaltypen (Bürgerspital, Wohnstiftung, Pestspital, Allgemeines Krankenhaus) bewahrte die Institution Hospital ihren Charakter als Stiftung. Zusammen mit einer auf Konstanz und Persistenz von Normen und Praktiken ausgerichteten Administration habe dies, so Hatje, die Beharrungskräfte gestärkt. In welchem Maße ein innovatives Konzept mit traditionellen Vorstellungen institutionell verbunden sein konnte, zeigt die Berliner Charité, die von ihrer Gründung 1726 an ein Menschenalter lang ein herkömmliches Hospital mit einer zukunftweisenden Krankenanstalt unter einem Dach vereinigte.

WOLFGANG FRIEDRICH (Universität Tübingen) behandelte in seinem Referat „Die rechtliche Einordnung der Armenfürsorge in der Konfessionalisierung“ den Rechtsstatus der Hospitäler in der protestantischen Rechtswissenschaft. Er zeigte zunächst, dass das Hospital nach mittelalterlichem Recht eine kirchenrechtliche Institution war. An dieser Auffassung änderte die Reformation erstaunlich wenig, wie die Lektüre juristischer Traktate und Gutachten protestantischer Provenienz zeigt. Die juristische und die theologische Sicht traten hier mehr und mehr auseinander. Juristen wie Hieronymus Schürpf, Matthaeus Wesenbeck und Justus Henning Boehmer qualifizierten nämlich auch nach der Reformation die Hospitäler als Kirchenrechtssubjekte und unterwarfen sie dem kanonischen Vermögensrecht.

In der zweiten thematischen Sektion über die limpieza de sangre in der iberischen Welt vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit wurde ein grundlegend andersartiger Reformdiskurs vorgestellt. Bei der Anwendung von „Reinheitsstatuten“ handelte es sich um sozialdisziplinierende Maßnahmen zur Exklusion von Minderheiten. Im Vortrag „Wandel der Gesellschaft – Wandel der Norm: Zur Geschichte der Statuten der Reinheit des Blutes“ definierte MAX S. HERING TORRES (Universidad Nacional, Bogotá) die limpieza de sangre als eine Normenwelt die jedwede Mitgliedschaft unterband, sofern durch genealogische Untersuchungen festgestellt wurde, dass Bewerber „unreines Blut“ besaßen, das heißt, jüdischer oder muslimischer Herkunft waren. Am Beispiel der „Reinheit des Blutes“ belegte er, dass Normativität aus der Verfasstheit der Gesellschaft abgeleitet wird, positives Recht wiederum eine neue Verfasstheit der Gesellschaft bestimmte und davon ausgehend topische Sinnkonstruktionen als zweckbestimmte Rechtfertigungsinstanzen von Recht und Gesellschaftsrealitäten fungierten, um eben die Funktionalität eines sozial-normativen Systems zu legitimieren.

NIKOLAUS BÖTTCHER (Lateinamerika-Institut, FU Berlin) behandelte den Wandel der Norm am Beispiel der limpieza de sangre im spanischen Kolonialreich. Fallbeispiele aus Neu-Spanien (Mexiko) belegen, wie das Reinheitskonzept, das auch hier zunächst ausschließlich jüdischstämmige Minderheiten betraf, im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer häufiger auf die „Mestizengesellschaft“ (sociedad de castas) angewendet wurde. Dabei suchten Mestizen und Mulatten ihrerseits die Reinheitsnachweise zur Überwindung der „barrera de color“ und damit zum sozialen Aufstieg zu nutzen. Im späten 18. Jahrhundert degenerierte das limpieza-Konzept zur Formalität.

Die beiden Vorträge über die limpieza machen den diachronischen Wandel des Konzepts der Reinheit deutlich. Es war im Spätmittelalter eine Norm geschaffen worden, um die soziale und rechtliche Ordnung der Gesellschaft zu sichern. Dabei entstand ein juristisches Konstrukt zur Bewältigung eines sozialen Konfliktes, der in der Ausgrenzung gesellschaftlicher Randgruppen sowohl in Spanien als auch im Kolonialreich mündete. Auch die limpieza war das Ergebnis des Zusammenspiels von Tradition und gesichertem Wissen, aber die Rechtsnorm wurde – nachdem sie einmal in Statuten und Traktaten fixiert worden war – zu keinem Zeitpunkt fortentwickelt. Fallbeispiele aus Spanien und Mexiko haben aber zeigen können, dass das System nicht statisch war, sondern in seiner praktischen Handhabung eine Bewegung von Wechselwirkungen und sozialem Wandel verzeichnete.

Inhaltlich konnte mit dem Hinweis auf Wandel und Reformdikurs in der Schlussdiskussion wieder zum Thema Hospitalreformen angeschlossen werden. Beide Themenschwerpunkte bieten Beispiele für Prozesse des Wissens- und Normenwandels und für topische Sinnkonstruktion. Sowohl Hospitalreformen bzw. der Umgang mit dem Problem der Bedürftigkeit als auch die Statuten der limpieza gingen aus historischen Konstellationen hervor, welche rechtliche Konstruktion und sozialen Umbau hervorbrachten und damit einen topisch strukturierten Wissenswandel bedingten. Der Normenwandel folgte dem Reformbemühen der verantwortlichen Institutionen als Reaktion auf die Notwendigkeit der (Wieder-)Herstellung sozialer Ordnung und deren Wahrung. Die Konstanz der Bilder „Armut“ und „Krankheit“ bzw. „Reinheit“ und „Befleckung“ zeigt das Beharren des Reformdiskurses, aber auch den praktischen Umgang mit diesen Topoi in der Gesellschaft.

Konferenzübersicht:

Themenschwerpunkt I: Sozialpolitik, Normenwandel, Reform: Hospitäler und Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Thomas Frank: Einführung

Marina Gazzini, Preparing the Reform: Debates on Hospitals in the Visconti Dominion (14th–15th centuries)

Marina Garbellotti, Welchen Bedürftigen helfen? Fürsorgepolitik auf der italienischen Halbinsel in der Frühneuzeit

Frank Hatje, Beharrung und institutioneller Wandel: Hospitäler in Norddeutschland (16.–18. Jahrhundert)

Wolfgang Friedrich: Die rechtliche Einordnung der Armenfürsorge in der Konfessionalisierung

Themenschwerpunkt II: Wandel der Norm: Die impieza de sangre in Spanien und Hispanoamerika

Maximilian S. Hering Torres: Die limpieza de sangre in Spanien

Nikolaus Böttcher: limpieza und Inquisition in Neu-Spanien

Schlussdiskussion (Moderation: Nikolaus Böttcher/Thomas Frank)


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