Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. 49. Internationale Tagung für Militärgeschichte

Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. 49. Internationale Tagung für Militärgeschichte

Organisatoren
Bernhard Chiari, Gerhard P. Groß, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam (MGFA)
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2008 - 17.09.2008
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Von
Magnus Pahl, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam (MGFA)

Der Balkan war seit Jahrhunderten nicht nur Schauplatz der wechselseitigen Befruchtung und Verschmelzung von Ethnien, Religionen und Kulturen, sondern auch fortgesetzt Raum gewaltsamer Auseinandersetzungen. Im Zuge der Auflösung des jugoslawischen Staates 1991 kam es zu Bürgerkriegen und ethnischen Vertreibungen, die neben der Neuzeichnung der Landkarte und einer grundlegenden Veränderung der Siedlungsstrukturen auch neue Formen internationalen Engagements zur Friedensschaffung und -erhaltung generierten.
Die von Bernhard Chiari und Gerhard P. Groß konzipierte 49. Internationale Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) bot 100 Teilnehmern ein Gesprächsforum über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Balkans. Die Konferenz führte Militärhistoriker, Südosteuropahistoriker sowie Praktiker aus Militär und Politik zusammen. Fragen des Völkerrechts sowie fachwissenschaftliche Perspektiven aus verschiedenen Bereichen der Kulturwissenschaften und zu aktuellen politischen und militärischen Problemen ergänzten Beiträge aus der Militärgeschichte und der Südosteuropa-Forschung.

In seinem öffentlichen Abendvortrag spannte HOLM SUNDHAUSSEN (Berlin) einen Bogen von den historischen Konflikten auf dem Balkan bis ins 21. Jahrhundert. Sundhaussen analysierte mit den ethnischen Siedlungsstrukturen, den nationalen Fragen, der Nationalisierung der Religion sowie mit der Nationalisierung sozioökonomischer Effekte vier Konfliktebenen. In den „ethnischen Kriegen“ des 20. Jahrhunderts seien ethnische Gegensätze entgegen verbreiteten Stereotypen jedoch nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung gewesen, instrumentalisiert von politischen Entscheidungsträgern. In dieser Hinsicht unterscheide sich der Balkanraum nicht wesentlich von anderen Regionen mit ähnlichem Konfliktpotenzial.

Die Sektion I „Internationalisierung und Friedenserzwingung auf dem Balkan“ führte auf dem Panel historische, tagespolitische und wissenschaftssystemische Aspekte zusammen. STEFAN TROEBST (Leipzig,) diskutierte einleitend die Problematik der Begriffe „Raum“ und „Gewalt“ für Historiker und Sozialwissenschaftler. LOTHAR HOEBELT (Wien) beschrieb den Berliner Kongress 1878 als Prototyp internationaler Konfliktregelung. Hoebelt führte aus, dass die „Balkanvölker“ als wesentlich Betroffene nur als Bittsteller an der Konferenz beteiligt gewesen seien und analysierte die Schwachstellen der Sicherheitsarchitektur des europäischen Konzerts, das sich mit den Folgen des beginnenden osmanischen Staatszerfalls auseinanderzusetzen hatte. Den Russisch-Türkischen Krieg 1877/78 im Vorfeld des Berliner Kongresses ordnete Hoebelt zwar nicht als epochemachenden, wohl aber als richtungsweisenden Krieg ein: Kombattanten und Nicht-Kombattanten waren hier erstmalig nicht voneinander zu unterscheiden. GÜNTHER KRONENBITTER (Atlanta/USA) sprach über das diplomatische Scheitern in der Julikrise 1914. Die Ereignisse der 1990er-Jahre hätten die Forschung zu einer neuen Betrachtung des serbisch-österreichischen Konflikts angeregt und die Verhältnisse zwischen 1909 und 1914 in das Zentrum vergleichender Untersuchungen gerückt. Im Mittelpunkt solle dabei der Funktionsverlust der 1878 begründeten Konzertdiplomatie vor dem Ersten Weltkrieg stehen.

Am Beispiel des Zerfalls Jugoslawiens über das Abkommen von Dayton bis zu den Statusverhandlungen für das Kosovo beschrieb der ehemalige Stellvertretende Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina HANNS SCHUMACHER (Bangkok) Möglichkeiten und Grenzen internationalen Krisenmanagements sowie dessen rasante Entwicklung nach Beendigung des Kalten Krieges. Erste umfassende Ansätze (1989 bis 1993/94) dominierten die Vereinten Nationen (UN). Als Akteur von Krisen- oder „peacekeeping“-Operationen betrieben sie im genannten Zeitraum mehr Friedensmissionen, als in den 40 Jahren zuvor. 1995 bis 1999 folgte eine Stufe der Zurückhaltung und „inneren Nabelschau“. Die UN-Operationen auf dem Balkan und in Afrika galten international als gescheitert. Erstmals gewannen hingegen regionale Akteure (EU, NATO, ECOWAS etc.) an Bedeutung. Der Grundstein des heutigen Krisenmanagements wurde 1999 bis 2001 mit dem Konzept einer Zusammenarbeit von den UN und regionalen Organisationen gelegt. Diese dritte Stufe lösten nach Schumacher maßgeblich die Bürgerkriegsbilder aus Sierra-Leone („CNN-Effekt“) und das Kosovo-Bombardement aus. Die Anschläge des 11. September 2001 markierten auch für das Krisenmanagement einen Einschnitt: Die Dynamik der Entwicklung ging verloren, Interessengegensätze zwischen USA und den VN traten in den Vordergrund.
HARALD ROTH trug Thesen von KONRAD CLEWING (beide Regensburg) zu aktuellen Herausforderungen für die Südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft vor. Clewing wies auf Gemeinsamkeiten der Militärgeschichte und der historischen oder historisch argumentierenden Südosteuropa-Forschung hin: Beide Disziplinen bewegten sich im Spannungsfeld zwischen exzellenter Politikberatung und der Furcht vor politischer Indienstnahme. Gezielte methodische Erweiterungen spiegelten das Bestreben wider, exzellente Grundlagenforschung als Basis moderner, serviceorientierter Spezialdisziplinen dauerhaft zu sichern.

Einen gemeinsamen Nenner für die anschließende Diskussion bildete einerseits die Frage nach der Zukunft des Balkans sowie andererseits nach der Rolle der Europäischen Union (EU). Die „Kraft der europäischen Integration“ (Schumacher) werde bei eher absinkendem Konfliktpotenzial das Gesicht Südosteuropas verändern. Für Bosnien-Herzegowina und Kosovo wurden Strukturen und Verfahren der internationalen Konfliktlösung sowie die Rolle der Politikberatung diskutiert. Geschichtswissenschaft und andere geisteswissenschaftliche Disziplinen seien in der Vergangenheit vor allem durch Zurückhaltung in Erscheinung getreten, anstatt ihre Expertise aktiv im Rahmen der Politikberatung einzubringen.

Die Sektion II „Die Peripherie als militärisches Experimentierfeld“ leitete CHRISTIAN ORTNER (Wien) ein. Am Beispiel Österreich-Ungarns 1869/78 und 1882 beleuchtete Ortner die Erfahrungen einer westeuropäischen Armee auf dem Balkan und stellte einleitend fest, dass „der Österreicher“ des 19. Jahrhunderts weder ein geborener Gebirgssoldat noch Balkanspezialist gewesen sei. Ortner zeigte vielmehr den schmerzlichen Lernprozess auf, den das österreichisch-ungarische Militär zwischen dem Aufstand in der Krivosije 1869 bis zum Einsatz in Süddalmatien und im Süden der Herzegowina 1882 durchschreiten musste. Stolperten die K.u.k.-Verbände 1869 noch ohne Kampferfahrung in den Konflikt, so habe man 1878 aus drei gescheiterten Expeditionen gelernt und schließlich 1882 nach taktischen Änderungen eine „erfolgreiche Kampagne“ durchführen können.
Mit den Janitscharen behandelte MEHMET HACISALIHOĞLU (Istanbul/München) eine Elite der osmanischen Streitkräfte, der eine wesentliche Brückenfunktion zwischen Tradition und Modernisierung zukam. Hacısalihoğlu ging der Frage nach, wie sich die Janitscharen, die zeitgenössische Beobachter zur Mitte des 16. Jahrhunderts als die schlagkräftigste Armee der Welt ansahen, im Verlauf von drei Jahrhunderten zu einer unzuverlässigen und im Osmanischen Reich verhassten Truppe entwickeln konnten. GENCER ÖZCAN (Istanbul) diskutierte die Modernisierung der türkischen Armee am Beispiel des preußischen Einflusses. Nach der Niederlage gegen Russland 1877/78 beschloss das Osmanische Reich, seine Armee nach preußischem Vorbild zu reformieren. Ausdruck dieses Bestrebens waren unter anderem der Austausch von Offizieren, die Umgestaltung der türkischen Kriegsschule, die systematische Übersetzung deutscher Vorschriften sowie der Aufbau eines Lehrbataillons. Auch nach der Niederlage der Mittelmächte 1918 blieb der preußische Einfluss bestehen: 1926 wurden türkische Offiziere in Deutschland ausgebildet – sie bauten unter anderem den militärischen Nachrichtendienst der Türkei auf. Wie Özcan hervorhob, blieben die führenden türkischen Militärkreise auch im Zweiten Weltkrieg Deutschland innerlich tief verbunden. Erst nach 1945 habe sich das türkische Militär allmählich den USA zugewandt und deren militärische Grundsätze übernommen.
RÜDIGER SCHIEL (Mürwik) analysierte eine maritime Operation vor dem Ersten Weltkrieg, an der fünf Staaten beteiligt waren, und die zur Besetzung der Stadt Skutari führte, als frühe „Joint Operation“. Seiner Untersuchung legte Schiel zwei aktuelle operative Begriffe der NATO zugrunde: „Joint Operations“ bezeichnen militärische Unternehmen, an denen auf nationaler Ebene zumindest zwei verschiedene Teilstreitkräfte beteiligt sind. „Combined Operations“ hingegen sind durch ihre Multinationalität gekennzeichnet. Am historischen Beispiel zeigte Schiel, dass die Besetzung von Skutari allenfalls phänotypisch als „joint and combined“ gelten könne. Angesichts divergierender nationaler Interessen könne man von einer „Joint Operation“ sprechen, die im operativen Zusammenwirken vor allem von Marine- und Heereskräften durchaus moderne Züge trage.
RUDOLF SCHLAFFER (Potsdam) erinnerte daran, dass sich die Bundeswehr seit nunmehr über zehn Jahren im „Out of Area“-Einsatz auf dem Balkan befindet: Anfang der 1990er- Jahre konnte sich das wiedervereinigte Deutschland aufgrund seiner neuen außenpolitischen Verantwortung nicht aus dem blutigen Sezessionsprozess in Jugoslawien heraushalten. Mit dem Balkan-Einsatz veränderten sich die außen- und sicherheitspolitischen Konzepte Deutschlands sowie die strategischen und operativen Aufgaben deutscher Streitkräfte als Teil der NATO. Der Balkan als Raum stand fortan in einem unmittelbaren Beziehungszusammenhang mit der Übernahme einer neuen Rolle Deutschlands. Für die Bundeswehr bedeutete der Balkaneinsatz die „Ankunft in der Wirklichkeit“ und beschleunigte den Umbau zur Einsatzarmee auf allen Ebenen. DMITAR TASIĆ (Belgrad) fragte in diesem Zusammenhang nach der Qualität von Friedensordnungen und richtete den Blick vergleichend auf die Situation nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien. Obwohl nach 1918 und 1945 offiziell Frieden herrschte, seien die instabilen Nachkriegsordnungen nicht überall auch Friedensordnungen gewesen. Staat und Armee sahen sich mit unlösbaren Herausforderungen konfrontiert. In einigen Teilen des Landes zogen die Menschen die Grenze zwischen Krieg und Frieden deutlich anders, als dies die Daten der Waffenstillstandsvereinbarungen nahe legten.

Die Diskussion nach Sektion II vertiefte die unterschiedlichen Voraussetzungen sowie das Lernverhalten militärischer Apparate bei der Auseinandersetzung mit neuen Einsatzverfahren, aber auch in der Konfrontation mit fremden Kulturen. Ebenso reizvoll wie problematisch erwies sich der Ansatz, aktuelle Konzepte der „cultural awareness“ in die Vergangenheit zu projizieren und – etwa für den Fall Österreich-Ungarns – nach „Vorbildern“ für die interkulturelle Ausbildung von Soldaten im 21. Jahrhundert zu suchen. Die scheinbare „Modernität“ interkultureller Auseinandersetzung in Vielvölkerreichen dürfe weder den Historiker, noch den politischen Berater zu voreiligen Gleichsetzungen verleiten, so Fikret Adanir.

Die von JÜRGEN ANGELOW (Potsdam) geleitete Sektion III „Der Balkan als Austauschfeld von Krieger-Kulturen“ ging der Frage nach, was das Spezifische an der Kriegführung auf dem Balkan gewesen sei. Gab es überhaupt gravierende regionale Spezifika, und ist der Begriff der „Balkanisierung“ für allgemeine Gewaltphänomene gerechtfertigt? Kam es zu Erfahrungstransfers? JAN PHILIPP REEMTSMA (Hamburg) erläuterte das Bild des Partisanen in der deutschen Literatur. Am Beispiel Heinrich von Kleists „Hermannschlacht“, Hermann Löns‘ „Wehrwolf“ und Felix Dahns Roman über Julianus Apostata erläuterte Reemtsma die Faszination, die von kriegerischer Irregularität ebenso wie vom Bewusstsein der Gefährdungen – psychischer wie zivilisatorisch-normativer Art – ausgegangen sei. ALEKSANDAR JAKIR (Split) behandelte den Partisan als Prototyp des Balkankämpfers und analysierte entsprechende Stereotype in Deutschland bis 1945 sowie den Mythos in der Volksrepublik Jugoslawien und ihren Nachfolgestaaten. Jakirs semantische Textanalyse zeichnete den Partisanenmythos im ehemaligen Jugoslawien in erster Linie als politischen Mythos, der vor allem im Sinne einer Verklärung und Überhöhung gewirkt habe: Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges bis Ende der 1980er-Jahre kam ihm eine wichtige legitimationsstiftende Rolle in Jugoslawien zu. Die brutalen Verfolgungen von „Kollaborateuren“ nach 1945 wurden dagegen zunächst kaum thematisiert, um dann seit Ende der 1980er-Jahre in nationalen Polemiken erneut instrumentalisiert zu werden.
OLIVER STEIN (Potsdam) referierte über das deutsche Bulgarienbild 1912-1918. Auf Basis von Presseberichten vollzog Stein die Veränderungen nach, denen das Bild Bulgariens in diesen Jahren je nach politischer Konjunktur in Deutschland unterlag. GUNDULA GAHLEN (Potsdam) nahm die Erfahrungshorizonte deutscher Kriegsteilnehmer in Rumänien während des Ersten Weltkriegs in den Blick. Deutsche Soldaten stießen in einen weitgehend unbekannten Raum vor, zu dem sie keinen mentalen und kulturellen Bezug hatten. Auf die einheimische Bevölkerung reagierten sie mit einem allgemeinen Überlegenheitsgefühl und empfanden den Einmarsch in Siebenbürgen 1916 als „Kulturschock“.

Der Mythos der jugoslawischen Partisanenbewegung stand im Mittelpunkt der folgenden Diskussion. Hoebelt betonte, dass die militärischen Erfolge der Partisanenverbände gegen die Besatzungsmächte minimal gewesen seien. Ihren Erfolg sah er vielmehr im politischen Bereich, so in der Destabilisierung des kroatischen Ustascha-Regimes. Sundhaussen betonte demgegenüber die Erfolge der jugoslawischen Partisanenverbände und ihrer Doktrin, die Indonesien und andere Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg übernommen hätten. Jakir räumte ein, dass diese Grenze zwischen Mythos und Realiät bislang nicht zuverlässig zu ziehen sei, und verwies auf die ungebrochene Gültigkeit nachträglicher „Meistererzählungen“.

Die abschließende Sektion IV behandelte ethnische und genozidale Kriegführung auf dem Balkan. MARCO SIGG (Zürich) sprach über die Balkankriege 1912/13 und ging insbesondere auf das Kriegsvölkerrecht, bulgarische Gräueltaten und den „Carnegie-Bericht“ ein. Dieser war für die Aufarbeitung der Kriegsgräuel von grundlegender Bedeutung und stand am Beginn der modernen Debatte zur Frage der supranationalen Durchsetzung des Kriegsvölkerrechts und der internationalen Ahndung von Kriegsverbrechen. Das Verhältnis von militärischer Gewalt und zivilem Widerstand während des Serbienfeldzuges 1914/15 war Gegenstand des Referates von OSWALD ÜBEREGGER (Innsbruck). Überegger ging der Frage nach, inwiefern der spezifische Charakter der Kriegführung an der Balkanfront auf der einen sowie militärische Normübertretungen, Formen zivilen Widerstands oder guerillaartiger Kämpfe auf der anderen Seite zu einer Entgrenzung der Gewalt geführt hätten. Dieses Phänomen müsse im Rahmen der bislang kaum fokussierten europäischen Dimension des Krieges untersucht werden, anstatt sich auf eine national verengte, oft zu Fehleinschätzungen führende Perspektive zu beschränken.
Zu Völkerrecht und Völkerrechtspolitik sowie zum Einfluss ethnischer und genozidaler Kriegführung auf dem Balkan im 20. und 21. Jahrhundert sprach THOMAS BREITWIESER (Leipzig). Breitwieser stellte klar, dass ethnisch zentrierte Kriegführung nicht unbedingt etwas mit „Krieg“ im Rechtssinne zu tun habe. Durch den Jugoslawienkonflikt seien vor allem drei Entwicklungen im Völkerrecht entscheidend angestoßen worden: das Selbstverteidigungsrecht von UN-Truppen, der Wandel vom Sicherheitsrat als Gerichtsherrn zum Römischen Statut sowie das Interventionsrecht und die Schutzverantwortung.
HARALD POTEMPA (Potsdam) entwickelte die chronologischen, kulturellen und militärisch-operativen Dimensionen des Partisanenkriegs, entgrenzter Gewalt und entsprechender Erinnerungsräume. Im Falle des Balkans sei die Wehrmacht – von 1941 bis 1943 nur eine von mehreren Besatzungsmächten, nach dem Fall „Achse“ bis zu ihrem Rückzug 1944 die Haupt-Besatzungsmacht – 1941 durch den Widerstand in Kreta und Serbien überrascht worden und mit letzter Konsequenz sowie unter Einbeziehung örtlicher Kräfte in erheblichem Umfang militärisch gegen den Widerstand vorgegangen.

In der anschließenden Diskussion bezweifelte Angelow, dass der Partisanenkrieg die Wehrmacht auf dem Balkan tatsächlich überrascht habe. Potempa verwies darauf, dass es keine dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass vor dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 vergleichbare Weisungen gegeben habe. Groß führte aus, dass der preußisch-deutsche Generalstab den „Kleinen Krieg“ im Gegensatz zu den Operationen der Balkankriege vor dem Ersten Weltkrieg nur unzureichend ausgewertet habe. Militär neige grundsätzlich zu selektivem Lernen. Weiterhin wurden Probleme der bundesdeutschen Justiz bei der Verfolgung von Verbrechen des Partisanenkriegs erörtert und auf die rechtlichen Grauzonen hingewiesen – beispielsweise zeitgenössische Bestimmungen zur Rechtmäßigkeit von Geiselerschießungen betreffend. Ortner wies auf Parallelen der asymmetrischen Kriegführung zwischen dem Balkan und Galizien hin, Überegger monierte das Fehlen vergleichender Untersuchungen mit anderen europäischen Kriegsschauplätzen. Adanir bilanzierte, das insgesamt nicht von einer „balkanischen Kriegführung“ gesprochen werden könne. Er verwies auf den Burenkrieg und andere Konflikte, in deren Verlauf es zu einer vergleichbaren Kriegführung gekommen sei.

Ziel einer abschließenden Podiumsdiskussion war es, Fachwissenschaftler sowie politische und militärische Entscheidungsträger über Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Konflikten auf dem Balkan ins Gespräch zu bringen. MICHAEL MARTENS (Belgrad) sprach mit Hoebelt, Schumacher und Sundhaussen sowie mit dem Kommandeur Allied Land Component Command, Heidelberg, und ehemaligen Kommandeur der Kosovo-Schutztruppe KFOR, Generalleutnant Roland Kather. Martens benannte einleitend die aktuell sichtbare „Selbstzerfleischung“ der Radikalen Serbischen Partei (Srpska Radikalna Stranka, SRS), die Verhaftung von Radovan Karadžić am 21. Juli 2008, den Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 mit der gescheiterten Aufnahme Mazedoniens sowie die Ausrufung der Unabhängigkeit des Kosovos am 17. Februar 2008 als Brennpunkte für die aktuelle Entwicklung auf dem Balkan. Voraussagen, dass sich die gesamte Region mit der Abtrennung des Kosovos aus dem serbischen Staatsverbund destabilisieren würde, hätten sich bislang nicht bestätigt. Insgesamt sei es aber selbst für ausgewiesene Kenner kaum möglich, in die komplizierten Strukturen des Kosovos zu blicken. Kather erläuterte die Herausforderungen für die KFOR im Bereich der Informationsgewinnung, ging auf die Praxis der Verhandlungen mit zentralen Akteuren im Kosovo ein und analysierte Hoffnungen und Ängste kosovarischer Jugendlicher mit Blick auf die Zukunft. Auf die Frage, ob die Unabhängigkeit des Kosovos das Ende eines historischen Prozesses darstelle, führte Sundhaussen die Bedeutung aus, die öffentliche Diskussionen über das Kosovo seit den 1980er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien gehabt haben und die den Anfang des Endes der Bundesrepublik markierten. Die Stellung des Kosovo verglich er mit dem völkerrechtlichen Status der ehemaligen DDR: Auch diese sei nur von einem Teil der Staatengemeinschaft anerkannt gewesen. Für Serbien werde es schwer bleiben, ein unabhängiges Kosovo zu akzeptieren - Sundhaussen verwies in diesem Zusammenhang auf eine eindeutige Festlegung durch die serbische Verfassung. Gleichwohl bewertete Sundhaussen die Loslösung des Kosovo insgesamt als Vorteil für Serbien, das neben dem Kosovo auch Probleme mit dessen Integration verliere, die den Gesamtstaat seit der Rückeroberung durch Serbien 1912/13 belastet hätten.
Neben der Frage des richtigen Zeitpunktes für die Unabhängigkeit und nach dem Verlauf weitreichender, vorbereitender „Reparaturarbeiten“ durch die Internationale Gemeinschaft, standen deren mögliche exit strategies für Kosovo und Bosnien-Herzegowina im Mittelpunkt der Diskussion. Neben knapper werdenden Ressourcen angesichts weiter wachsender deutscher Verpflichtungen im Ausland wurde für Bosnien-Herzegowina der schleppende Reformprozess des neuen Staates seit dem Abkommen von Dayton 1995 beklagt. Nach wie vor herrsche überwiegend Unversöhnlichkeit zwischen den Ethnien, innerhalb der politischen Elite sei kaum Austausch zu verzeichnen, die Diskussion um die Staatsform gehe weiter.
Hoebelt äußerte sich in diesem Zusammenhang zur Frage, welche Lehren für den Wiederaufbau aus der Geschichte gezogen werden könnten, und bekundete grundsätzliche Skepsis gegenüber dem applikatorischen Ansatz in der Geschichtswissenschaft. Martens betonte, dass die EU-Mitgliedschaft der Balkan-Staaten zwar nicht alle Probleme lösen, aber Konflikte eingrenzen werde. Schumacher vertrat die Auffassung, dass die Europäer gegenwärtig die Neuvermessung Südosteuropas und eine „historische Zeitenwende“ erlebten, die im Sinne der Stabilität dauerhaftes und substanzielles wirtschaftliches Engagement erfordere.

Die Abschlussdiskussion fokussierte die Frage nach einer dauerhaften Friedensordnung für den Balkan nochmals auf die institutionelle und systemische Ebene der Militärgeschichte und Südosteuropa-Forschung. Beide Disziplinen mussten sich in den letzten Jahren vermehrt von der Politik und einer kritischen Gesellschaft danach fragen lassen, was beide Fächer zur Analyse aktueller Probleme bzw. zur politischen und militärischen Entscheidungsfindung im Rahmen der internationalen Krisenprävention und -bekämpfung auf dem Balkan beizutragen hätten. Dem Potenzial, das beide Wissenschaftsdisziplinen bereit halten, stünden nach wie vor Berührungsängste von Fachwissenschaftlern mit dem Feld der Politikberatung und vice versa, aber auch mangelnde Kommunikationsforen und fehlende gemeinsame Arbeitsgruppen entgegen. Einzelne institutionelle Erfolgsgeschichten und strukturelle Initiativen können weiterhin nicht als Regel gelten.
Ein Sammelband mit den Tagungsergebnissen erscheint 2009 im Oldenbourg Wissenschaftsverlag.

Konferenzübersicht:

Einführung
Dr. Bernhard Chiari/Oberstleutnant Dr. Gerhard P. Groß, MGFA

Sektion I: Internationalisierung und Friedenserzwingung auf dem Balkan
Leitung: Prof. Dr. Stefan Troebst, Universität Leipzig

Der Berliner Kongress als Prototyp internationaler Konfliktregelung
Prof. Dr. Lothar Höbelt, Universität Wien

Diplomatisches Scheitern: Die Julikrise 1914
Prof. Dr. Günther Kronenbitter, Emory-University, Atlanta

Vom Zerfall Jugoslawiens über das Abkommen von Dayton bis zu den Statusverhandlungen für das Kosovo: Möglichkeiten und Grenzen internationalen Krisenmanagements
Botschafter Dr. Hanns Schumacher, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Thailand

Krisen und Konflikte auf dem Balkan als Herausforderung für die Südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft
Dr. Konrad Clewing, Südost-Institut Regensburg

Potsdamer Vorträge zur Militärgeschichte: „Krisenregion Balkan“
Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Freie Universität Berlin

Sektion II: Die Peripherie als militärisches Experimentierfeld
Leitung: Prof. Dr. Fikret Adanir, Sabanci University, Istanbul

Erfahrungen einer westeuropäischen Armee auf dem Balkan: Am Beispiel Österreich-Ungarns 1869/78 und 1882
Dr. M. Christian Ortner, Heeresgeschichtliches Museum, Wien

Das Bild vom Janitscharen: Die Streitkräfte des Osmanischen Reiches zwischen Tradition und Modernisierung
Dr. Mehmet Hacısalihoğlu, Yıldız Teknik Üniversitesi, Istanbul / Ludwig-Maximilians-Universität München

Prussian Influence on Turkish Armed Forces
Prof. Dr. Gencer Özcan, Yıldız Teknik Üniversitesi, Istanbul

Die Besetzung von Skutari als frühe „Joint Operation“
Korvettenkapitän Dr. Rüdiger Schiel, Marineschule Mürwik

Der Balkan – Bedeutung für die Bundeswehr als strategisch-operativer Raum
Oberstleutnant Dr. Rudolf Schlaffer, MGFA

Does the End of War necessarily implies the Peace? Experiences in the 20th Century
Dmitar Tasić M.A., Institut für Strategische Forschungen, Belgrad

Sektion III: Der Balkan als Austauschfeld von Krieger-Kulturen
Leitung: Prof. Dr. Jürgen Angelow, Universität Potsdam

Das Bild des Partisanen in der deutschen Literatur
Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma, Hamburger Institut für Sozialforschung

Der Partisan, Prototyp des Balkankämpfers: Stereotyp in Deutschland bis 1945 und Mythos in der Volksrepublik Jugoslawien und ihren Nachfolgestaaten
Prof. Dr. Aleksandar Jakir, Universität Split

Das deutsche Bulgarenbild 1912-1918
Dr. Oliver Stein, Universität Potsdam

Erfahrungshorizonte deutscher Kriegsteilnehmer in Rumänien im Ersten Weltkrieg
Gundula Gahlen M.A., Universität Potsdam

Sektion IV: Ethnische und genozidale Kriegführung auf dem Balkan
Leitung: Oberstleutnant Dr. Gerhard P. Groß, MGFA

Die Balkankriege 1912/13. Internationales Kriegsvölkerrecht, bulgarische Gräueltaten und der „Carnegie-Bericht“
Hauptmann Lic.phil. Marco Sigg, Militärakademie an der ETH Zürich

Verhältnis von militärischer Gewalt und zivilem Widerstand während des Serbienfeldzuges 1914/1915
Dr. Oswald Überegger, Universität Innsbruck

Der Partisanenkrieg der Wehrmacht
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa, MGFA

Völkerrecht und Völkerrechtspolitik: Der Einfluss ethnischer und genozidaler Kriegführung auf dem Balkan im 20. und 21. Jahrhundert
Leitender Regierungsdirektor Thomas Breitwieser, Bundeswehrdisziplinaranwalt Leipzig

Podiumsdiskussion „Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Konflikten auf dem Balkan“
Diskussionsleitung: Michael Martens, Balkankorrespondent der FAZ mit Sitz in Belgrad

Prof. Dr. Lothar Höbelt, Universität Wien
Generalleutnant Roland Kather, Kommandeur Allied Land Component Command Heidelberg, ehem. COM KFOR
Botschafter Dr. Hanns Schumacher, Bangkok, ehem. Stellv. Hoher Repräsentant in Bosnien-Herzegowina
Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Freie Universität Berlin