Was zeigt sich? Evidenz in den Kulturwissenschaften

Was zeigt sich? Evidenz in den Kulturwissenschaften

Organisatoren
Internationales Forschungszentrum für Kulturwissenschaften IFK
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
23.10.2008 - 25.10.2008
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Von
Petra Schaper-Rinkel, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin

„Kulturen der Evidenz“ heißt ein neuer Schwerpunkt des „Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften“ (IFK) in Wien. Wie Evidenz hergestellt wird und welche theoretischen Grundsätze von Evidenz in unterschiedlichen Disziplinen gelten, wurde zum Auftakt auf der Tagung „Was zeigt sich. Evidenz in den Kulturwissenschaften“ ausgelotet. Dass unsere Sicht auf die ‚Ordnung der Dinge’ eine immer technisch und medial konstituierte Sicht ist und durch Diskurse sozial und medial verhandelt wird, war Ausgangspunkt der Tagung. Doch was kommt nach der Erkenntnis, dass es Diskurse sind, die über die Wahrnehmung von Dingen und Sachverhalten entscheiden? Evidenz wird hergestellt, nicht zuletzt dadurch, dass das, was bisher als einleuchtend und damit evident galt, durch die Herstellung von neuer Evidenz verdrängt wird. Sowohl die Herstellung von Evidenz wie die Zerstörung von Evidenz sind darauf gerichtet, in die zukünftige Wirklichkeit einzugreifen.

HELMUT LETHEN, Direktor des IFK, machte in seiner Einleitung unter dem Titel „Ist das Ende der Ironisierungsmaschine der Anfang der Evidenz?“ durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Evidenzbegriffe das zentrale Anliegen der Tagung deutlich: sich der Frage zu widmen, ob es nach den Jahrzehnten der Dekonstruktion möglich ist, eine eigenständige Dynamik von Dingen und Situationen wissenschaftlich zu denken.

Grundsätze der Evidenz

SYBILLE KRÄMER (Berlin) untersuchte in ihrem Beitrag die „Formen der Evidenzerzeugung“ an den unterschiedlichen Beispielen von „Kalkül“ und „Zeugenschaft“. Verbunden sind beide Konstellationen dadurch, dass das „intuitive Einsehen“ sowohl bei mathematischen Problemen als auch bei der Übermittlung der Wahrnehmung eines vergangen Ereignisses, bei dem die Zuhörerschaft nicht dabei war, an seine Grenzen stößt. Kalküle und Zeugenschaft erzeugen Evidenz: Mathematische Formeln, so Krämer, verkörpern unsichtbare Relationen in einer anschaulichen Schriftbildlichkeit. So ermöglicht es die Zahl Null, einen unsichtbaren Gegenstand sinnlich präsent und operativ handhabbar zu machen. Unvorstellbares – wie beliebig große oder kleine Größen – kann in Rechenausdrücken anschaulich werden. Die Formalisierung als mathematische Praxis, so Krämer, habe mit ihrer Erfindung von Kalkülen gerade das Abstrakte sichtbar gemacht. Was den Sinnen nicht zugänglich ist, wird durch die Formalisierung im Kalkül gegenständlich verkörpert. Eine zweite paradigmatische Konstellation zur Erzeugung von Evidenz sei die Zeugenschaft, die sich als soziales Grundphänomen verstehen lässt. Erfahrung lässt sich nicht übertragen, so dass es der Zeugenschaft darum geht, denjenigen etwas zu vermitteln, die von einem Ereignis keine sinnliche Erfahrung haben können, weil sie nicht dabei waren. Bei aller Unterschiedlichkeit der Formen bestehe die Evidenzerzeugung in beiden Fällen darin, etwas zu anschaulicher Gewissheit zu bringen, was ansonsten eine Leerstelle in der Anschauung bliebe.

PHILIPP SARASIN (Zürich) widmete sich in seinem Beitrag den Problemen, die das „Reale“ in Foucaults Diskursanalyse aufweist, indem er unter anderem Foucaults Lesart von Darwin und der Genetik analysierte. Ausgehend von der genealogischen These, dass zentrale Elemente von Foucaults Denken von Darwin „abstammen“ und dass Foucaults Differenz zur postmodernen Zeichentheorie gerade darin besteht, dass er die diskursive Maschine zu verstehen sucht, in der die Gegenstände produziert werden, warf Sarasin die Frage auf, ob und wie Foucaults Bezugnahme auf die Genetik seiner Zeit darauf ausgerichtet war, Diskursanalyse als ein Verfahren zu konzipieren, das versucht, „im Realen“ zu bleiben – ohne den „Umweg“ über das Symbolische zu wählen. Der Befund, dass Diskurse Gegenstände und Wahrheiten schaffen, sei Foucault selbst zu kulturalistisch gewesen. Sarasin bezog sich auf eine Äußerung Foucaults: „Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht ‚im Wahren’ des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet“. Zwar habe der zweite Teil des Satzes hohe Aufmerksamkeit erhalten, nicht jedoch, dass Foucault eine Wahrheit voraussetzt, die Mendel gesagt haben soll. Sarasin verfolgte diese Annahme in anderen Schriften Foucaults und zeigte, dass dieser in einer Analogie von Diskurs und Genetik versuchte, die (nicht-identischen und fehlerhaften) Reproduktionsprozesse im Diskurs als solche zu interpretieren, die genetischen Kopiervorgängen ähnlich sind.

Was als das „Reale der Diskurse“ gefasst werden kann, wenn Diskurse Kopiermaschinen sind, und was es ist, das reproduziert, kopiert und in der Reproduktion transformiert wird, erschien als Frage in den Diskussionen der Tagung immer wieder, denn Foucault war als unsichtbar Anwesender stetig präsent.

Bilder als Evidenzbeschaffer

Der Frage, was sich in Bildern zeigt und was sich in ihnen zeigen lässt, warf CLAUDIA BLÜMLE (Basel) in ihrem Beitrag über juristische Wahrheitsfindung in einem Gemälde der Frühen Neuzeit auf. Sie untersuchte ein Gemälde von Dieric Bouts für das Rathaus von Löwen aus dem 15. Jahrhundert, in dem dieser mit der Darstellung eine Feuerprobe eine seinerzeit bereits verbotene Rechtspraxis illustrierte. Sie zeigte, wie Bouts die alte Rechtspraxis des Gottesurteils, in der Evidenz durch ein unmittelbares Ereignis – das Eingreifen Gottes – hergestellt wird, mit Figuren der neuen Rechtspraxis, in der Evidenz durch Zeugen, Sekretäre und Sachverständige hergestellt wird, bildlich rahmt. Die veränderte Evidenzproduktion im Recht, in der statt des unmittelbaren Ereignisses einer Feuerprobe nun vergangene Ereignisse durch Institutionen des Rechts rekonstruiert werden, wird damit im Bild reflektiert und in den Kontext der neuen Evidenzproduktion eingebettet.

Wie „Bildevidenz als Anfangs- und Schlusspunkt von Argumentationen in der frühneuzeitlichen Wissenschaft“ fungiert, analysierte CLAUS ZITTEL (Florenz). Anhand von Bildern aus Schriften Descartes zeigte er, wie Bilder im Zusammenspiel mit Argumentation Evidenz erzeugen (sollen). Er verwies auf die Fragilität vermeintlicher bildlicher Evidenz, die deutlich wird, wenn sich entweder Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Theorien auf das gleiche Bild stützen und es als evident für ihre Position reklamieren oder aber wenn der gleiche Text in verschieden Editionen mit unterschiedlichen Bildern versehen wird und sich damit die Argumentation verschiebt oder auch die Rezeption der Texte dadurch beeinflusst werden kann.

Wie Bilder als Evidenzbeschaffer in der aktuellen Auseinandersetzung um Klimaveränderungen genutzt werden, untersuchte BIRGIT SCHNEIDER (Berlin) anhand von Klimavisualisierungen. Im Zentrum ihres Beitrages stand der sogenannte „Hockey-Stick-Graph“, eine Kurvendarstellung amerikanischer Paläoklimatologen: Die Darstellung der durchschnittlichen Temperatur auf der Nordhalbkugel in den vergangenen 1000 Jahren verläuft relativ geradlinig, um dann zu Beginn der Industrialisierung steil anzusteigen wie das krumme Ende eines Hockeyschlägers. Die Kurve wurde zu einem wichtigen Argument für die These, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht ist und führte zu einer kontroverse Debatte über die zugrundeliegenden Daten und ihre Interpretation. Birgit Schneider zeigte, wie Evidenz mittels statistischer Bilder hergestellt wird und wie diese Kurven in ihrem zunehmenden Gebrauch vereinfacht werden, sodass die mit der Darstellung verbundenen Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten verschwinden.

Zeichen und Situationen

Wie sich der Evidenzbegriff bei Ludwig Wittgenstein im Laufe seiner Arbeit veränderte, untersuchte RICHARD HEINRICH (Wien). Evidenz sei in Wittgensteins Philosophie ein durchgängiges und zentrales Thema, das von einer recht formalen Sichtweise des Zeigens im „Tractatus“ über eine lange Phase der Beschäftigung mit Evidenz in der Anschaulichkeit der Mathematik bis hin zu einer dritten Phase reicht, in der Wittgenstein Evidenz von Anschaulichkeit löst und sie als eine Faktizität im Rahmen seines Konzepts der Sprachspiele zu verstehen sucht. Der Referenzrahmen, auf den sich Evidenz bezieht, ist somit ein jeweils anderer.

HORST WENZEL (Berlin) stellte dar, wie Texte und Bilder ihre Adressaten adressieren. In seinem Beitrag „Sagen und Zeigen. Zur anthropologischen Grundlegung von Textdeixis und Bilddeixis“ legte er dar, wie die semantische Evidenz symbolischer Hervorbringungen (durch Stimme, Bilder, Text) von deiktischen Verfahren, von hinweisenden und zeigenden Verfahren abhängt, die zunächst an den Körper gebunden sind. Mit ihnen werden Spuren gelegt, wird hervorgehoben und damit Wahrnehmung gelenkt und Aufmerksamkeit des Adressaten fokussiert.

Evidenz des Feldes

MICHI KNECHT (Berlin) zeigte in ihrem Beitrag „Kontext, Relationalität, Interaktivität: Ethnografische Evidenz im Feld der Lebenswissenschaften“, wie das Konzept der Evidenz in der ethnografischen Forschung besondere Bedeutung gewinnt, wenn die Evidenzproduktion anderer Wissenschaften zum Gegenstand der Forschung wird. Am Beispiel der ethnografischen Forschung zu Lebenswissenschaften zeigte sie, wie die Ethnographie zur Explikation und interdisziplinären Vermittlung ihrer Evidenzkriterien herausgefordert wurde. Dabei wurde deutlich, wie das „Herumlungern“ der offenen Feldforschung mit ihrem Verständnis von partizipativer Wissensproduktion zu einer „Echtzeit-Ethnografie“ wird, wenn die Forschenden sich Feldern wie der Stammzellforschung widmen. Mit den Relationen und Verbindungen, die das ethnografische Wissen hier herstellt und mit denen neue Gegenstände wie die Stammzelle kulturell spezifisch eingebettet werden, wird das Forschungsfeld durch die ethnografisch Forschenden mitgestaltet.

JAKOB TANNER (Zürich) analysierte die visuelle Karriere von Adam Smiths berühmt gewordener Metapher der „unsichtbaren Hand“ bis zur heutigen Zeit. Die Visualisierung wirtschaftlicher Vorgänge in Kurvendarstellungen präsentiert eine Wirklichkeit der Wirtschaft, die das Verhalten heterogener Marktteilnehmer visuell synchronisiert im Zeitverlauf darstellt und auf Dynamiken verweist, mit denen das Beobachtungsinstrument der Kurven zugleich Handlungsimpulse generiert.

Insgesamt vermittelte die Tagung mit ihren hervorragenden Beiträgen einen differenzierten Einblick in die unterschiedlichen Formen der Produktion und Analyse von Evidenz im breiten Feld der Kulturwissenschaften.

In den Diskussionen wurde darauf verwiesen, dass die Erzeugung von Evidenz das Resultat von Verhandlungen, von Anschlussfähigkeit, von lokaler, spezifischer und partizipativer Wissensproduktion und somit in Netzwerke des Vertrauens eingebettet ist. Am Ende der Tagung stand die Frage nach dem Realen und nach der Herstellung der Wahrheit in neuer Weise auf der Agenda: als Frage von Praxen und Prozessen, in denen sowohl Evidenz als auch eine zukünftige Dynamik der Dinge und Situationen erzeugt wird. Wenn wir, wie Foucault schrieb, den Diskurs als eine Gewalt begreifen müssen, die wir den Dingen antun, jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen, so bleiben folgende Fragen offen: Wie lassen sich Evidenzstrategien im Hinblick auf die in ihrem epistemologischen Status weiterhin unklaren „Dinge“ bewerten? Und wie wirkt die Wahrnehmung und Produktion von Evidenz mit dem Eingreifen in die Wirklichkeit zusammen? Diese weiterführenden Fragen ergeben sich, wenn die Herstellung von Evidenz als Resultat von Verhandlungen in Netzwerken gesehen wird.

Für die Beantwortung dieser Fragen müssten aber zukünftig weitere, in ihrem Status wiederum schwierig zu bestimmende Kategorien hinzukommen, die auf der Tagung nicht explizit thematisiert wurden: Insbesondere Kategorien wie Macht und Herrschaft, da die Netzwerke, in denen Evidenz hergestellt wird, in Institutionen und staatliches Handeln eingebunden sind.

Aber wie hängen Wahrnehmung, Evidenz und Handlungsimpulse zusammen? Je nachdem, wie Dinge wissenschaftlich gedacht werden, sind sie mit unterschiedlichen oder auch gegensätzlichen Handlungsimpulsen verknüpft. Wenn es sich um Felder handelt, die stark in der öffentlichen Debatte präsent sind, wie Klimawandel, Lebenswissenschaften oder die Dynamik wirtschaftlicher Entwicklung, ist die Evidenzproduktion als eingreifende Praxis mit der Politik und den Machtverhältnissen auf eben jenen politischen Feldern untrennbar verknüpft. Dann aber sind Kulturwissenschaften auch Agenturen zur Herstellung von Evidenz und somit auf Handlungsimpulse gerichtet, die für den Fortgang der Dinge mit verantwortlich sind.

Was zeigte sich also? Praxen der Herstellung von Evidenz sind performative Praxen und damit Instrumente zur Veränderung der Welt in der Zukunft.

Kurzübersicht:

Begrüßung und Einleitung
Helmut Lethen, Ist das Ende der Ironisierungsmaschine der Anfang der Evidenz?

GRUNDSÄTZE DER EVIDENZ
Moderation: Helmut Lethen
Sybille Krämer, Formen der Evidenzerzeugung: „Kalkül“ und „Zeugenschaft“.
Philipp Sarasin, Foucault und Darwin. Das Problem des „Realen“ in der Diskursanalyse.

BILDER ALS EVIDENZBESCHAFFER
Moderation: Mitchell G. Ash
Claudia Blümle, Wahrheitsfindung. Juridische Evidenz in der frühneuzeitlichen Malerei.
Claus Zittel, Bildevidenz als Anfangs- und Schlusspunkt von Argumentationen in der frühneuzeitlichen Wissenschaft.
Birgit Schneider, Klimavisualisierungen. Die Herstellung diagrammatisch-statistischer Evidenz.

ZEICHEN UND SITUATIONEN
Moderation: Claus Pias
Richard Heinrich, Offensichtlich Undurchdringlich. Die Wandlung des Evidenz-Motivs in Wittgensteins Philosophie.
Horst Wenzel, Sagen und Zeigen. Zur anthropologischen Grundlegung von Textdeixis und Bilddeixis.

EVIDENZ DES FELDES
Moderation: Lutz Musner
Michi Knecht, Kontext, Relationalität, Interaktivität: Ethnografische Evidenz im Feld der Lebenswissenschaften.
Jakob Tanner, Die Evidenz der „unsichtbaren Hand“: volatile Finanzmärkte, Börsenindikatoren und Wirtschaftskurven.


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