Neue Forschungen zur Weimarer Zeit in Bayern

Neue Forschungen zur Weimarer Zeit in Bayern

Organisatoren
Claudia Friemberger, Markus Schmalzl, Institut für Bayerische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.10.2008 - 07.10.2008
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Von
Britta Kägler, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Weimarer Republik wurde lange nur mit Blick auf ihre Extreme wahrgenommen, die Demokratie als improvisiert und unvollendet beschrieben. Seit einiger Zeit haben jedoch Forschungen zur Weimarer Republik an Intensität gewonnen, die den politischen und diplomatischen Alltag der Zwischenkriegszeit aufgreifen und damit die Konzentration auf die Extreme überwinden.
Vom 6. bis zum 7. Oktober 2008 veranstaltete das Institut für Bayerische Geschichte mit Unterstützung der Michael-Doeberl-Stiftung in München ein Kolloquium, das neuere Forschungen zur Weimarer Zeit vorstellte. Die Organisatoren CLAUDIA FRIEMBERGER (München) und MARKUS SCHMALZL (München) hatten Nachwuchswissenschaftler aus dem gesamten Bundesgebiet eingeladen, die sich in ihren Dissertationen mit bilateralen Verbindungen, politischen Akteuren, aber auch der Verfasstheit des Staatsgebildes der Weimarer Republik befassen. Die Mehrzahl dieser Forschungen rückt dabei vornehmlich den jungen Freistaat Bayern ins Zentrum der Untersuchungen.
FERDINAND KRAMER (Instituts für Bayerische Geschichte an der LMU München) hob in seiner Begrüßung die Vergleichsmöglichkeiten hervor, die sich angesichts der Zersplitterung des Parteiensystems und der weltweiten Finanzkrise mit der Weimarer Zeit bieten. Er skizzierte anschließend die Grundlagenforschung, die am Institut für Bayerische Geschichte durch die Edition der bayerischen Ministerratsprotokolle (1919-1945) und die Edition der Erinnerungen von Gustav von Kahr sowie die Digitalisierung der Landtagsprotokolle im Rahmen der Bayerischen Landesbibliothek Online (BLO) bei der Bayerischen Staatsbibliothek geleistet wird und in die sich auch das Forschungskolloquium einbettet. Die Erinnerungen Kahrs, der Regierungspräsident von Oberbayern, bayerischer Ministerpräsident und Generalstaatskommissar war, sowie die Ministerratsprotokolle entfalten den politischen Alltag der Weimarer Republik in Bayern bis in die Jahre der NS-Zeit. CLAUDIA FRIEMBERGER ging anschließend in ihrer inhaltlichen Einführung ebenfalls auf diese rege Forschungstätigkeit zur Weimarer Zeit ein. Gleichzeitig wies sie aber auch auf die Bereitstellung aktueller Forschungsergebnisse auf der Internetplattform „Historisches Lexikon Bayerns“ <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de> hin sowie auf eine Ausstellung zur Revolution in Bayern 1918/19, die von Münchner Studenten in Zusammenarbeit mit dem Haus der Bayerischen Geschichte erarbeitet wurde und die in wenigen Wochen im Münchner Literaturhaus eröffnet wird („Revolution! Bayern 1918/19“, 26. November 2008 – 22. Februar 2009). Die revolutionären Umwälzungen in Bayern 1918/19 waren für weite Kreise der Bevölkerung eine traumatische Erfahrung. Die Ereignisse führten zu einer politischen Entwicklung, die den Freistaat „zum Hort der aufstrebenden nationalistischen Kräfte, zur ‚Ordnungszelle’ im Reich“ werden ließ.
Der erste Teil des Kolloquiums wurde mit einem einführenden Vortrag von FLORIAN SEPP (München), Redakteur des Historischen Lexikons Bayerns, eröffnet, der die Forschungslage zur Weimarer Republik in Bayern zusammenfasste und mit Erkenntnissen und Möglichkeiten der Nutzung neuer Medien zur Erschließung aktueller Ergebnisse verband. Sepp konstatierte, dass die bayerischen Ereignisse der Weimarer Zeit so große Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen und internationalen Forschung finden wie keine andere Epoche Bayerns. Als Desiderat wollte er die Konzentration der Forschung auf einen Kanon maßgeblicher Themen (Konkordat, Kirchenverträge, Schulpolitik) verstanden wissen, die den historischen „Normalfall“ als große Wissenslücke hinterlassen. Zu diesen nach wie vor weitgehend unbearbeiteten Themen zählt Sepp nicht zuletzt die Wahlrechtsfrage, Staatsvereinfachung und Verwaltungsgeschichte. Abschließend bekräftigte Sepp, dass der Forschung oft eine bayernweite Perspektive fehle. So werde dem Verhältnis Bayerns zum Reich zu Lasten einer Analyse landesspezifischer Entwicklungen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt. Auch seien einzelne Regionen oder Städte wie München gut erforscht, was dazu geführt habe, dass diese Einzelergebnisse als gesamtbayerische Resultate missgedeutet worden sind. Bereits Seitenblicke auf Nürnberg, Augsburg, Franken wie Schwaben insgesamt zeigen jedoch, dass viele für die Zwischenkriegszeit in Bayern als „typisch“ geltende Phänomene auf München begrenzt waren.
MICHAEL WEIGL (München) lenkte in seinem Vortrag zur politischen Berichterstattung der österreichischen Repräsentanten in München (1918 -1933) den Blick auf diplomatische bzw. konsularische Vertretungen. Wodurch sich die bayerische Österreichpolitik im Speziellen auszeichnete, stellte er an den Beginn seiner Ausführungen: Im Selbstverständnis der bayerischen Staatsspitze zählten die Beziehungen zu Österreich zur Innenpolitik. Die Grundlage hierfür bildete eine gemeinsame „Stammesverwandtschaft“ des Freistaats und Österreich, in deren Konsequenz München sich die Aufnahme politischer Beziehungen weder durch das „Anschlussverbot“ der Siegermächte, noch durch die Weimarer Reichsverfassung verbieten lassen wollte. Weigl stellte im Folgenden die politische Berichterstattung der österreichischen Vertretungsbehörden in München vor, deren Quellenwert für die bayerische wie für die österreichische Geschichte er als „Spiegel des Zeitgeistes“ bezeichnete. Die Konsulatsberichte konzentrieren sich – anders als diplomatische Überlieferungen – nicht auf politische Interna, sondern reflektieren die vielfältigen öffentlichen Stimmungsbilder. Auf diese Weise korrespondierte der Kenntnisstand der österreichischen Behördenleiter mit ihrer Position als Generalkonsul: Sie besaßen zwar einen Informationsvorsprung gegenüber der „breiten Masse“, hatten aber kaum Zugang zu den Hintergrundinformationen politischer Entscheidungsträger. Die österreichischen Berichte bieten damit Einblicke in den Grad des Wissens, der auch politikinteressierten, regierungsnahen Kreisen – wie etwa bayerischen Landtagsabgeordneten – zugesprochen werden kann und spiegeln die Empfindlichkeiten und Dispositionen der bayerischen Gesellschaft zwischen 1918 und 1933 wider.
Waren die österreichisch-bayerischen Beziehungen aktiv gefördert worden, so wandte sich ANDREA MÜLLER (München) mit der französischen Vertretung in München (1919-1933) einem wesentlich spannungsreicheren Verhältnis zu. Dem französischen Gesandtschaftsleiter Emile Dard (1871-1947) und seinem Nachfolger André d’Ormesson (1877-1957) schlug in München offene Feindschaft entgegen. Frankreich versuchte preußenfeindliche Strömungen im Reich gezielt zu fördern und deutsche Separatisten mit dem Ziel, das unter Bismarck geeinte Deutsche Reich wieder in mehrere Kleinstaaten zerfallen zu lassen, zu finanzieren. Müller zeigte, wie sehr aus französischer Perspektive „Separatismus“ und „Föderalismus“ miteinander vermischt wurden, bis sich in Paris letztlich das Bewusstsein durchsetzte, ein potentiell souveräner bayerischer Staat könne den Interessen Frankreichs mehr schaden als nutzen. In Folge dieser Entwicklungen wurde in Frankreich die Zweckmäßigkeit einer Vertretung in München grundsätzlich in Frage gestellt und die Gesandtschaft 1934 in ein Generalkonsulat zurückgestuft. Sämtliche Bemühungen der Franzosen, Entspannung durch kulturpolitische Annäherungen zu erreichen, scheiterten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisierten sich die deutsch-bayerisch-französischen Beziehungen.
DANIEL SCHÖNWALD (München) lenkte mit dem polnischen Generalkonsulat in München (1920-1933) schließlich die Aufmerksamkeit auf einen Staat innerhalb des europäischen Mächtegefüges, der nicht auf Traditionen bilateraler Beziehungen verweisen konnte. Wie verschiedene andere Staaten nahm auch Polen Beziehungen zu Bayern auf. Süddeutsche Zentren polnischer Minderheiten waren neben Stuttgart und Karlsruhe vor allem Nürnberg, Fürth und München. Das Verhältnis von Deutschen und Polen war jedoch bereits im Kaiserreich belastet gewesen und blieb auch in der Zwischenkriegszeit angespannt. Schönwald skizzierte ein Netz polnischer konsularischer Dienststellen, deren Zahl bis 1939 zwischen 14 und 16 schwankte und damit das weltweit engmaschigste war. Mit Hilfe der Münchner Berichte lassen sich die schlechten Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in der Weimarer Zeit auch auf unterer Ebene greifen. Die Korrespondenz zwischen dem französischen Gesandten Emile Dard und dem polnischen Konsul Ludwik Włodek belegt sogar, dass die Vertreter beider Staaten einen schlechten Stand in München hatten. Die Vermutung des polnischen Generalkonsulats, gegenüber anderen Vertretungen bewusst benachteiligt worden zu sein, bestätigte Schönwald im Ansatz. Einen graduellen Unterschied machten vor allem Auseinandersetzungen um Räumlichkeiten des polnischen Konsulats aus.
Im Zentrum der zweiten Sektion standen biographische Untersuchungen und die Wahrnehmung der bayerischen Verhältnisse in Autobiographien. Seit den 1990er Jahren erschienen in rascher Folge Monographien zu profilierten Persönlichkeiten der Weimarer Zeit. Inzwischen folgen wissenschaftliche Untersuchungen über Personen, die in der zweiten Reihe politischer Verantwortung standen.
Den Auftakt machte NIKOLA BECKER (München) mit einem Beitrag zu Autobiographien aus dem Münchener Bürgertum des 20. Jahrhunderts, deren Analyse Aufschluss über die Wahrnehmung der Weimarer Republik liefert. Welche politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse beschrieben und beurteilt werden, stellt eine zentrale Frage ihrer Studie dar und ermöglicht damit einen Blick hinter die Fassaden bürgerlicher Biographien. Becker umriss die Zunahme mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Untersuchungen zur Weimarer Republik im Zuge des „cultural turn“ und zog eine klare Grenze zwischen kulturgeschichtlicher und germanistischer Methode. Während in der Germanistik die Autobiographie als abgeschlossene Welt und dadurch oft als Text ohne Rückbindung an die Realität verstanden wird, bejaht die neuere Kulturgeschichte die Autobiographie als Quelle im Spannungsfeld zwischen Referenz und Fiktion. Becker gelang mit Hilfe der Auswertung von 122 Autobiographien eine Annäherung an die jeweils im Vordergrund stehende Einzelpersönlichkeit sowie an soziale Mikrostrukturen. Über die Wahrnehmung der Kriegsschuldfrage konnte sie das starke Eindringen nationaler bis nationalistischer Denkstrukturen auch im bayerischen Bürgertum nachweisen. Ein typisch Münchener oder typisch bayerisches Bildungsbürgertum ließ sich hierbei jedoch nicht charakterisieren. Trotz eines spezifischen gemeinsamen Lebensstils (Bräuche, Deutungsmuster, Werte, Lebensweisen) erwies sich „das“ Bürgertum sozial und kulturell gesehen als ausgesprochen heterogene Gruppe.
Nach der einführenden Sammelstudie folgten zwei Beiträge zu Politikern der Weimarer Zeit in Bayern. MARKUS SCHMALZL stellte seine Studie zum Sozialdemokraten Erhard Auer vor und richtete den Blick vor allem auf die inner- wie zwischenparteilichen Auseinandersetzungen um die Person Auer in den Jahren 1920-25. Die SPD war in der Weimarer Republik eine der wenigen staatstragenden Parteien. Mit Bayerns Entwicklung zur „Ordnungszelle“ im Reich sowie den starken rechten Kräften im Land wurde die Abkehr der Wählerschaft von den Sozialdemokraten nach 1920 allerdings zunehmend spürbar. Vor diesem spezifisch bayerischen Hintergrund skizzierte Schmalzl den Fall Auer als Präzedenzfall für die reichsweite Problematik der Sozialdemokratie. Warum es Auer als politischem Zögling Georg von Vollmars nicht gelang, in die Rolle einer Integrations- und Führungsfigur hineinzuwachsen, obwohl er versuchte an Vollmars politischen Grundlagen „konkreter Reformen mit kleinen Schritten und kurzfristiger Kompromissbereitschaft“ festzuhalten, konkretisierte Schmalzl anhand der politischen und parlamentarischen Überlieferung. Demzufolge äußerte sich Auer in den 1920er-Jahren immer zurückhaltender zur Tagespolitik, seine Position innerhalb der eigenen Partei war durch den Vorwurf, er vertrete eine gegenrevolutionäre Haltung deutlich geschwächt („Rosenstraußaffäre“). Zur Zielscheibe von Angriffen aus dem linken Lager machte sich Auer zudem durch seine offene Ablehnung jeglicher Annäherung an die KPD, seine Haltung zur Einwohnerwehrfrage, aber auch seine – aus Sicht politischer Begleiter – fehlende Distanz zur katholischen Kirche. Auer fehlte also auf beiden Seiten die nötige Unterstützung, um als potentielle Integrationsfigur gemäßigter linker und bürgerlicher Kräfte wirken zu können. Abschließend betonte Schmalzl, dass oft vergessen werde, dass Auer auch ohne seine „Selbstdemontage“ aufgrund der Spätfolgen eines Attentats vom Februar 1919 auch körperlich gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Nachfolge Georg von Vollmars anzutreten.
JOHANN KIRCHINGER (Regensburg) stellte den Agrarpolitiker Michael Horlacher in seinen verschiedenen Rollen als Funktionär und Politiker vor, als Direktor der Landesbauernkammer und als Parlamentarier der BVP. Nach einem einleitenden Abriss von Horlachers Werdegang gelang es Kirchinger dessen Agrarideologie nachzuzeichnen, die zwischen dem Leitbild des gemeinwohlorientierten und vermeintlich unpolitischen deutschen Berufsbeamten und der Verpflichtung, den landwirtschaftlichen Besitzstand zu erhalten, wechselte. Die organisationspolitische Stärke von Horlachers Büro wurde ebenso wie die sämtlicher agrarischer Verbandsbüros in der Forschung bisher übersehen. Wurde die Auswechslung der adeligen und priesterlichen Honoratioren unter dem Eindruck der Revolution hervorgehoben, so wurde die Kontinuität der Verbandsbüros unterschätzt. So entwickelte sich beispielsweise Horlachers Büro – trotz wechselnder Verbände – zu einem stabilen Faktor der Interessenspolitik. Auch gelang es Kirchinger, die bisherige Forschungsmeinung zu revidieren, die es allein dem „ausgleichenden Temperament“ Johann Leichts – dem Fraktionsvorsitzenden der BVP im Reichstag – zuschrieb, die „unberechenbaren Bajuwaren von der Bauernfront“ auf Seiten der Reichsregierung zu halten. Die Agrarpolitiker innerhalb der Reichstagsfraktion hatten durchaus großes Eigeninteresse an stabilen Regierungsverhältnissen, selbst wenn die Reichsregierung in Fragen des Reichsfinanzausgleichs den bayerischen Vorstellungen nicht im gewünschten Ausmaß nachkommen wollte. Stellvertretend für die geschlossenen Reihen der Agrarier kann deshalb Horlacher stehen, für den die Agrarpolitik Gegenstand intellektueller Beschäftigung war, nicht existentieller Betroffenheit.
Der letzte Beitrag der Sektion von FLORIAN BRÜCKNER (Stuttgart) rückte den Dichter Werner Beumelburg ins Zentrum, der einer konservativen nationalistischen Strömung zugeordnet wird. Beumelburg, der für den Stalling-Verlag in der Reihe „Schlachten des Weltkrieges“ mehrere Monographien (Sperrfeuer um Deutschland (1928), Gruppe Bosemüller (1930)) veröffentlichte, erlebte nach 1933 einen kometenhaften Aufstieg. So wurde er etwa als jüngstes Mitglied in die Akademie für Deutsche Dichtkunst aufgenommen. Nach 1945 fand das literarische Werk Beumelburgs jedoch keine Resonanz mehr. Methodisch legt Brückner seiner Untersuchung einen literaturwissenschaftlichen Ansatz zugrunde und berücksichtigt so die Wechselwirkung von Werk und Autor. Als zentrales Thema, das im Frontsoldatenroman „Gruppe Bosemüller“ am meisten Bedeutung gewinnt, kristallisierte sich der Topos „Kameradschaft“ – in enger Konnotation mit „Treue“ – heraus. Damit ordnete Brückner Beumelburg zu „nationalrevolutionären Intellektuellen“ wie Ernst Jünger und Franz Schauwecker, die zumindest in einzelnen Werken das pluralistisch-parlamentarische System der Weimarer Republik mit der Idee eines „Frontsoldatenstaates“ zu überwinden versuchten.
Die letzte Sektion zur Verfasstheit des Staatsgebildes und seinen Institutionen begann mit einem Vortrag von WOLFGANG EHBERGER (München) zur Entstehung der bayerischen Verfassung von 1919. Dieses erste demokratische Verfassungswerk Bayerns wurde nach dem Ort seiner Beratung und Verabschiedung „Bamberger Verfassung“ genannt. Ehberger differenzierte zwei Phasen der Entstehungsgeschichte des Rechtswerks: eine erste außerparlamentarische Phase, die er bereits nach dem erfolgreichen Münchner Umsturz vom 7./8. November 1918 beginnen lässt und eine zweite – parlamentarische – Phase, die ihren Ausgang mit dem Wiederbeginn der Landtagssitzungen in Bamberg am 15. Mai 1919 nahm. Die für ihre Zeit bemerkenswerte verfassungspolitische Leistung lag ausnahmslos in Händen von Repräsentanten der alten Eliten, die in der Tradition des politischen Liberalismus standen (Graßmann, Piloty). Spezifika der schließlich ausgearbeiteten Verfassung lassen westeuropäische Vorbilder erkennen, die konsequent die Prinzipien einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie umsetzte; auffallend hierbei die überaus starke Stellung des Landtags und des Gesamtministeriums als leitende und ausführende Behörde des Staates. Der Ministerpräsident fungierte in diesem Sinne lediglich als „primus inter pares“. Eine zweite Kammer war nicht vorgesehen, nur die Option einer Einrichtung berufsständischer Vertretungen – freilich mit stark reduzierten Kompetenzen – stellte noch ein Relikt des Rätegedankens dar. Ehberger bewertete die bayerische Verfassung abschließend als zentralen Markstein auf dem Weg zu einem freiheitlich-demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat, der an der Schnittstelle zweier Systeme lag.
Die letzten beiden Vorträge gingen auf die parlamentarische Arbeitsweise ein. STEFAN PRIMBS (München) nahm die BVP-Fraktion im Bayerischen Landtag (1919-1933) in den Blick und stellte hierbei insbesondere den Quellenwert der Fraktionsprotokolle vor. Primbs verband die Analyse der (politischen) Strukturen der Fraktion mit einem biographischen Ansatz, indem er nicht nur die Zielsetzung führender Persönlichkeiten aus den Reihen der BVP, sondern auch deren persönliche Netzwerke berücksichtigte. Während die bisherige Forschungsmeinung das Verhältnis von BVP und Regierung in der Zeit vor dem ersten Kabinett Held (1924-1928) noch abfällig mit dem Hinweis auf „auswechselbare Beamtenministerpräsidenten“ charakterisierte, ermöglicht die Auswertung der Protokolle der nichtöffentlichen Fraktionssitzungen einen inzwischen wesentlich differenzierteren Blick. So formulierte Primbs, der den Sammelbegriff „Beamtenministerien“ für die Ministerpräsidenten Kahr, Lerchenfeld und Knilling für ebenso unpassend hält wie Bernd Schilcher, abschließend die Frage, ob es überhaupt Alternativen zu dieser Form der „Ministermacherei“ (Held) gegeben habe; der aktuelle Stand seiner Auswertung legt eine verneinende Antwort nahe.
BERND SCHILCHER (München) wandte sich schließlich dem – parteiübergreifenden – bayerischen Parlamentarismus in der Weimarer Republik (1919-1933) zu. Die historische Parlamentarismusforschung konzentrierte sich für die Weimarer Zeit bisher vor allem auf die Reichsebene, ohne auch Entwicklungen in den einzelnen Ländern systematisch zu berücksichtigen. So ist auch für den bayerischen Parlamentarismus vor 1945 lediglich eine Gesamtdarstellung für die Zeit des Vormärz vorhanden, während die Weimarer Zeit erst allmählich in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen rückt. Schilcher warf daraufhin die Frage auf, ob überhaupt erst mit der Ära Held von einer Verwirklichung des parlamentarischen Systems in Bayern gesprochen werden kann und welche Begrifflichkeiten – eine Frage, die bereits Stefan Primbs in seinem Beitrag beschäftigt hatte – für das zuvor bestehende Verhältnis zwischen Landtag und Regierung gewählt werden sollten. Der seit 1930 verfestigte Zustand einer nur noch geschäftsführenden Regierung in Bayern sowie die immer gängiger werdende Praxis, Notverordnungen zu erlassen, ermöglicht es der historischen Parlamentarismusforschung, systeminterne Gewichtsverschiebungen innerhalb des politischen Institutionengefüges herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund wird generell eine verstärkte Hinwendung zu staatsautoritären Strukturen mit einer Dominanz der Exekutive über die legislativen Befugnisse konstatiert. Für Bayern stellte Schilcher entsprechend fest, dass das Fehlen eines auf die elementarsten Staats- und Politikfunktionen bezogenen Grundkonsenses unter den Verantwortungsträgern sämtlicher Parteien den von Ministerpräsident Held gewählten Kurs für seine persönliche Regierungstätigkeit an der Spitze Bayerns begünstigte. Die zunächst verschleppte und letztlich ganz ausgebliebene Re-Parlamentarisierung des Kabinetts und damit der bayerischen Regierungspolitik degradierte den Landtag erst zu einem funktions- und profillosen Gremium. Was in anderen Ländern Mehrheiten aus NSDAP und KPD herbeigeführt hatten, musste in Bayern, so Schilchers bewusst pointierte Formulierung, die geschäftsführende Rumpfregierung verantworten.
Den Ausgangspunkt des Kolloquiums bildeten Außenansichten auf die bayerische Politik der Weimarer Zeit. Die Innenansichten konzentrierten sich auf biographische Untersuchungen und die Wahrnehmung der sozialen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Autobiographien sowie die parlamentarische Grundstruktur des Staates. FERDINAND KRAMER betonte abschließend, das Kolloquium habe gezeigt, dass noch immer Forschungsbedarf zu den Eliten der Weimarer Zeit (Beamtenschaft, Beamtenideal) und zur politischen Kommunikation innerhalb Münchens bestehe. Die unterschiedlichen Projekte hätten darüber hinaus deutlich werden lassen, dass in der Außenwahrnehmung Bayerns der Separatismusvorwurf eine große Rolle spielte, was häufig auf einer Fehleinschätzung der Bedeutung des Nationalen in Bayern beruhte. Außerdem dränge sich die Frage nach der Bedeutung personaler Herrschaft sowie der wechselseitigen Verbindung von Personen und Institutionen auf. Die politische Kultur und die Genese der Verfassung haben bislang wenig Beachtung erfahren. Hier könnten die Fragen nach Krisenresistenz und Leitbildern jenseits von Verfassungsnormen nach wie vor neue Aufschlüsse geben. Die grundsätzliche Sorge um Stabilität bezeichnete Kramer schließlich als ein mögliches Erbe aus der Weimarer Zeit, das in Deutschland wohl stärker zum Tragen komme als in anderen europäischen Ländern.

Konferenzübersicht:

Ferdinand Kramer: Begrüßung

Claudia Friemberger: Einführung

Sektion I: Historisches Lexikon (Moderation: Markus Schmalzl)

Florian Sepp: Die Forschungslage zur Weimarer Republik in Bayern. Erfahrungen aus dem Historischen Lexikon Bayerns

Sektion II: Außenansichten (Moderation: Martin Ott)

Michael Weigl: Die politische Berichterstattung der österreichischen Repräsentanten in München 1918-1933

Andrea Müller: Die französische Vertretung in München 1919-1933

Daniel Schönwald: Das polnische Generalkonsulat in München 1920-1933

Sektion III: Biographische Untersuchungen (Moderation: Claudia Friemberger)

Nicola Becker: Autobiographien aus dem Münchner Bürgertum des 20. Jahrhunderts

Markus Schmalzl: Der Fall Auer – Ein Sozialdemokrat zwischen den Fronten

Johann Kirchinger: Michael Horlacher – Ein Agrarfunktionär in der Weimarer Republik

Florian Brückner: „Der Erste Weltkrieg als Vater der Nation?“ – Eine biographische Studie über den Dichter Werner Beumelburg

Sektion IV: Verfassungsgeschichte und Parlamentarismus (Moderation: Markus Schmalzl)

Wolfgang Ehberger: Verfassung aus der Krise. Die bayerische Verfassung von 1919

Stefan Primbs: Die BVP-Fraktion im Bayerischen Landtag 1919-1933

Bernd Schilcher: Bayerischer Parlamentarismus in der Weimarer Republik. Der Bayerische Landtag 1919-1933

Ferdinand Kramer: Zusammenfassung und Abschlussdiskussion

Zusammenfassung und Abschlussdiskussion


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