Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiöser und konfessioneller Toleranz und Identitätsfindung

Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiöser und konfessioneller Toleranz und Identitätsfindung

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG); Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Universität Marburg
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.09.2008 - 12.09.2008
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Von
Marion Bechtold, Institut für Europäische Geschichte, Universität Mainz

Im Zentrum des von Kerstin Amborst-Weihs und Judith Becker vom Forschungsbereich „Wertewandel und Geschichtsbewusstsein“ des IEG sowie Wolf-Friedrich Schäufele vom Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Marburg) organisierten und von der Thyssen Stiftung geförderten Kolloquiums stand die Frage, wie der Anspruch von religiöser konfessioneller Toleranz einerseits und die Ausprägung religiös-konfessioneller Identität andererseits Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein in Europa seit der Frühen Neuzeit beeinflusst haben.

Das Kolloquium wurde mit dem Vortrag von WOLFRAM KINZIG (Bonn) über “Das Judentum in neueren deutschsprachigen Darstellungen der Alten Kirche“ eröffnet. Am Beispiel von verschiedenen kirchenhistorischen Lehrbüchern wurde gezeigt, wie sich die Wahrnehmung des Judentums im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hatte. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete das Werk Adolf von Harnacks, der von jüdischer Seite, vor allem durch Leo Baeck, kritisiert wurde. Die Darstellung des antiken Judentums sei durch Harnacks Unkenntnis gekennzeichnet. Nach der Zeit des Nationalsozialismus erfuhr das Verhältnis von Juden und Christen christlicherseits eine Neubestimmung. Die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum rückten ins Zentrum des Interesses. Kinzig stellte nun die Frage, wie sich dieses neue Interesse in den kirchengeschichtlichen Lehrbüchern niedergeschlagen habe. Anhand der Werke von Karl Suso Franck und Wolf-Dieter Hauschild konnte er feststellen, dass die Betrachtungen des Judentums zwar sachbezogener und antijudaistische Tendenzen abgelegt wurden, dennoch wurde die Abspaltung des Christentums vom Judentum vielfach noch als heilsgeschichtliche Notwendigkeit betrachtet, die Bedeutung des Judentums für das Christentum und deren wechselseitige Beeinflussung blieb ebenso unterbeleuchtet wie der jüdische Jesus.

Im folgenden Referat beschäftigte sich der Erfurter Judaist ANDREAS GOTZMANN (Erfurt) mit “Intellektuelle[n] Kämpfe[n]. Geschichtswissenschaftliche Konstruktionen jüdischer Identität im Bezug zum Christentum und Islam“. Er betrachtete dabei das jüdische Verständnis der Geschichtswissenschaft vom 19. Jahrhundert bis zum Holocaust und stellte vier Charakteristika der jüdischen Historiographie vor: Historiographie als erstens gesamtgesellschaftliches Deutungssystem, zweitens als Counter-history, drittens als Leidensgeschichte und viertens als diskrete Nationalgeschichte. Innerhalb dieser Eckpunkte seien die jüdischen Vorstellungen von Islam und Christentum entstanden. Im Hinblick auf den Katholizismus verwies Gotzmann auf das spärliche Material, stellte jedoch fest, dass vor allem die Erinnerung an unbeugsame Judenverfolgung prägend gewesen sei. Das Verhältnis zum Protestantismus dagegen sei ambivalent. Zunächst wäre der Protestantismus als Erfolgsrezept betrachtet und sowohl seine ursprünglich vorhandene Offenheit dem Judentum gegenüber als auch seine Quellenkritik gelobt worden. Nachdem die Protestanten diese Einschätzungen zunächst jedoch ignorierten und schließlich sogar negativ darauf reagierten, schlug die positive jüdische Bewertung des Protestantismus bald um. Das Verhältnis zum Islam war hingegen, so Gotzmann, vor allem durch die Betrachtung aus der Ferne und die Erinnerung an goldene Zeiten (maurisches Spanien) geprägt. Das Bild des Islam war daher vor der Schablone des Mittelalters positiver als das des Christentums. Jüdische Historiographie beschreibe einerseits das Christentum aus einer verteidigenden Position, kämpfe parallel aber auch um Anerkennung vonseiten der christlichen Historiographie.

Im Anschluss sprach der Islamwissenschaftler STEPHAN CONERMANN (Bonn) über “Das Bild von Judentum und Christentum in der islamischen Historiographie“ und überraschte mit der Aussage, dass für den Untersuchungszeitraum in islamischen Staaten kaum islamische Historiographie vorhanden sei. Geschichte würde allenfalls aus nationaler Sicht betrachtet, eine dezidierte Auseinandersetzung mit Judentum und Christentum gebe es nicht. Conermann untersuchte daher die Toleranz im Islam aus europäischer Sicht und stellte dabei fest, dass die Beschäftigung mit Toleranz im Islam ein medial geprägter Diskurs vor allem islamischer Gruppen in der Selbstdarstellung sei. Dabei spiele Quellenstudium und historische Forschung jedoch keine Rolle. Daran schloss der Referent die Frage nach der „Qualität“ der islamischen Toleranz an und führte aus, dass es sich hierbei gegenüber den „guten Ungläubigen“, wie Juden und Christen als weitere „Buchbesitzer“ betrachtet werden, hauptsächlich um eine Duldung unter Bedingungen handle. Eine anerkennende Toleranz gebe es nicht. In einem dritten Schritt untersuchte Conermann die existente nationale Historiographie am Beispiel Syriens und berichtete, dass sich diese als sehr schwierig gestalte, da die Forscher schlecht ausgebildet würden und reflexive Themen unerwünscht seien. Auch Untersuchungen zum Thema Kreuzzüge als Form der transnationalen Geschichtsschreibung im Islam erbrachten keine Erkenntnisse für die Fragestellung.

Leider konnten die gegenseitigen Untersuchungen nicht vollständig vorgestellt werden, da der Referent für die Betrachtung des Islams in der christlichen Historiographie krankheitsbedingt absagen musste. Der Beitrag soll jedoch die Publikation der Kolloquiumsbeiträge ergänzen.

Den Auftakt zur zweiten Sektion machte MICHAEL DRIEDGER (St. Catherines, Ontario) mit seinem Vortrag “Der „Linke Flügel der Reformation“ im Wandel der (Kirchen-) Geschichtsschreibung“. Im Zentrum seines Interesses stand dabei die mennonitische Selbstbeschreibung. Zunächst erläuterte er die Entstehung des Begriffes im politischen Milieu des ausgehenden 18. Jahrhunderts und konstatierte ihn bezogen auf religiöse Gruppen des 16. Jahrhunderts als anachronistisch. Driedger konnte an Hand der Beschäftigung mit verschiedenen freikirchlichen Historiographen des 20. Jahrhunderts ein interessantes Phänomen aufzeigen: die Umwandlung alter konfessionell-polemischer in neue apologetische Kategorien. So wurden die ehemals als Ketzer bezeichneten religiösen Gemeinschaften neu bewertet, ihre Ideen, wie Trennung von Staat und Kirche, als protomodern verstanden. Seinen Beginn fand die Darstellung des Referenten mit Roland Bainton, der als Erster den Begriff „linker Flügel“ auf die Reformation anwandte und ihn durchaus positiv assoziierte. Die mennonitische Geschichtsschreibung rezipierte den Begriff mit großem Interesse. Während er durch Heinold Fast Befürwortung erfuhr, wurde er durch Harold Bender abgelehnt, der zwischen falschen und wahren Täufern habe unterscheiden wollen, um die friedfertigen Täufer des 16. Jahrhunderts als die wahren Vorfahren der modernen nordamerikanischen Mennoniten zu charakterisieren. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff wurde somit zum Teil einer positiven Identitätsstiftung.

Im Anschluss daran berichtete FRANZISKA METZGER (Fribourg) über „Identitätskonstruktion zwischen Nation und Konfession. Reformation in der katholischen (Kirchen-) Geschichtsschreibung der Schweiz“. Dafür analysierte sie die vorherrschenden Diskurse der katholischen Historiographie. Über die seit dem 16. Jahrhundert auftretenden religiösen Differenzen in der Eidgenossenschaft seien auch nationale Differenzen geschaffen bzw. unterstützt worden, die zur Entstehung unterschiedlicher Narrative führten. Die historischen Diskurse in der Schweiz waren hauptsächlich evangelisch bzw. national-liberal geprägt. Gegen diese Tendenz seien im 19. Jahrhundert vermehrt katholische Diskurse aufgetreten, die ebenfalls am Schweizerischen master narrative teilhaben wollten. Die katholische Historiographie schrieb sich nun selbst die Kontinuität der Geschichte zu, indem der Katholizismus als Bezug zur alten Eidgenossenschaft stilisiert wurde. Dadurch hätten sich die Katholiken in den Schweizerischen Fortschrittsdiskurs eingeschrieben und einen katholischen Raum in der Schweizer Geschichte geschaffen. Die Diskurse innerhalb der Schweizerischen katholischen Geschichtsschreibung dienten also der nationalen Identitätsbildung.

Für seinen Vortrag “Das Bild des neueren Katholizismus in der protestantischen (Kirchen-) Geschichtsschreibung“ untersuchte KLAUS FITSCHEN (Leipzig) mehrere kirchengeschichtliche Überblicksdarstellungen, an Hand derer er verschiedene Kategorien der protestantischen Betrachtung der katholischen Kirche ausmachen konnte. „Der Katholizismus als Papstkirche“ wurde am Beispiel Karl Heussis aufgezeigt. Dieser habe die katholische Kirche allein über das Papsttum definiert und alles Katholische als restaurativ charakterisiert. Eine weitere Kategorie ist nach Fitschen der „Triumph der katholischen Kirche über die Kultur der Moderne“. Horst Stephan beschrieb 1931 den Sieg des Antimodernismus und die neuerliche Entstehung einer katholischen Kulturfront. Nach 1918 macht der Referent einen „katholischen Frühling“ aus; eine prokatholische Stimmung, die in den 1940er-Jahren in ein recht positives Bild der katholischen Kirche mündete. Mit Walther von Loewenich und der „Hoffnung auf Modernismus“ habe sich diese Stimmung fortgesetzt. „Ökumenische Perspektiven“ erkannte Fitschen mit Wilhelm Dantine, der im zweiten Vatikanum eine Hinwendung zur Welt sah. Als letztes untersuchte Fitschen „kirchen- und konfessionskundlichen Pragmatismus“. Die persönliche Haltung der Autoren sei hier nicht mehr zu erkennen. Im Verlauf der Zeit habe das Bedürfnis den Katholizismus als Gegenbild zum Protestantismus zu konstruieren und damit der eigenen Identitätsbildung zu dienen immer weiter abgenommen. Die Frage nach der Toleranz- und Ökumenefähigkeit der katholischen Kirche rückte dafür in den Vordergrund.

MATTHIAS POHLIG (Berlin) berichtete über “Überkonfessionelle Momente in konfessioneller Geschichtsschreibung“ des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Er hielt dafür als Grundvoraussetzung die Vorstellung fest, dass Historiographie ohne eigenen Glauben nicht vorstellbar gewesen sei. Geschichte polemisiere nach außen und schaffe nach innen über Gedächtnisdiskurse Identität. Dennoch, so stellte Pohlig fest, finden sich in den Texten überkonfessionelle Momente. So konnte Flacius’ Catalogus testium veritatis (1556), da er gegen die katholische Kirche gerichtet war, gesamtreformatorisch rezipiert werden, ebenso wie es in konfessionell geprägten Schriften unpolemische Beschreibungen der Alten Kirche geben konnte. Dies habe seinen Ursprung darin, dass verschiedene Textgattungen auch verschiedene Werthaltungen transportieren und Konventionen erfüllen mussten. Am Beispiel des lutherischen Theologen Caspar Goldwurm konnte dies gezeigt werden. Sein religiös motivierter Kirchen-Calender (1559) bewertete den Benediktinerorden sehr negativ, beschrieb Luther und seine Lehre hingegen in aller Ausführlichkeit. Das universalgeschichtliche Calendarium Historicum (1554) gab nur eine kurze Bemerkung über die Gründung des Ordens und ging ebenso schnell über Luther hinweg. Die Überkonfessionalität besteht also darin, dass durch die Wahl der literarischen Gattung die Perspektive des Inhaltes vorbestimmt wird und nicht durch die Konfession des Autors.

Im Vortrag „Wiederverwendung der Konfessionsstreitigkeiten: Lutherische Identität in den Reformatorenbiographien von Johann Georg Leuckfeld“ untersuchte SUSAN BOETTCHER (Austin, Texas) die biographischen Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Regionalgeschichte und konfessioneller Zugehörigkeit. Im Zentrum des Interesses sei bei Leuckfeld die Konstruktion regionaler Identität gestanden. Er habe antiquarische Geschichte schreiben wollen, mit engem regionalen Blickpunk und vom Kleinen zum Großen übergehen, er sah Geschichte in erster Linie durch den Ort und die verfügbaren Dokumente. Diese Schlüsse erläuterte Boettcher an Hand der Biographie des Nordhausener Theologen Cyriakus Spangenberg. Obwohl Spangenberg als Anhänger der Flacianischen Erbsündenlehre ins Exil fliehen musste, entschied sich Leuckfeld nicht für den ebenfalls aus Nordhausen stammenden Justus Jonas als Objekt der Biographie. Damit stellte Leuckfeld die regionale Identität deutlich in den Vordergrund.

Den öffentlichen Abendvortrag hielt CHRISTOPH SCHWÖBEL (Tübingen) über “Toleranz im Streit der religiösen Wahrheitsansprüche. Theologische und philosophische Perspektiven zur Begründung und Praxis der Toleranz“. Er stellte Toleranz als Form der Konfliktbearbeitung vor, die sich mit Differenzen auseinandersetzt. Als Umgang mit Differenzen werfe Toleranz immer die Frage nach Identität auf. Nur wer ein Bewusstsein von der eigenen Identität habe, könne tolerant sein. Toleranz verbinde Elemente der Ablehnung und der Annahme miteinander. In einem zweiten Teil untersuchte Schwöbel das Verhältnis religiöser Wahrheitsüberzeugungen zu Toleranz. Er stellte fest, dass sich religiöse von anderen Weltanschauungen dadurch unterscheiden, dass letztere von der Lehrbarkeit der Wahrheit ausgingen. Nichtakzeptanz von lehrbarer Wahrheit sei Dummheit oder Renitenz und müsse nicht toleriert werden. Religiöse Weltdeutungen hätten damit, so der Referent, größeres Potential zu Toleranz, zumal Toleranz auch religiös begründet werden könnte. Ursprünglich war die Frage nach Toleranz fest mit Religion verknüpft. Die Vernunft der Aufklärung erhob sie jedoch zu einem universalen moralischen Anspruch. Dieser Universalismus nenne die Relativierung aller religiösen Wahrheitsüberzeugungen als Bedingung für Toleranz. Toleranz jedoch, die gegen religiöse Überzeugungen argumentiere, werde immer intolerant. Zum Abschluss seines Vortrages stellte Schwöbel noch aus seiner Sicht die Perspektiven des Universalismus vor. Er schlug als Alternative zum Vernunftmodell vor, die religiösen Wurzeln der Toleranz zu ergründen und sie gleichsam zu einer Perspektive der religiösen Identität zu machen.

Der Vortrag von WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) beschäftigte sich mit dem „Bild der mittelalterlichen Kirche in der protestantischen (Kirchen-) Geschichtsschreibung“. Im Vordergrund stand dabei die Frage, wie das Bedürfnis nach konfessioneller Abgrenzung und Identitätsbildung die protestantische Sicht auf das Mittelalter in verschiedenen Epochen beeinflusste. In der Historiographie der lutherischen Orthodoxie würde vor allem der Verfall der Papstkirche ins Zentrum gerückt, aber auch betont, dass es neben dieser durch alle Zeiten eine wahre Kirche Christi gegeben habe, in deren Kontinuität sich die Protestanten stellten. In dieser Kontinuität sahen sich auch die Historiographen des radikalen Pietismus. Sie hatten den Anspruch eine eher unabhängige Kirchengeschichte zu vertreten, da sie keinen positiven Eindruck von katholischer aber auch evangelischer Geschichte gehabt hätten. Ab der aufklärerischen Geschichtsschreibung beginne das Mittelalter als Epoche Kontur zu gewinnen, die Beschreibung der Geschehnisse erfolge nun unter dem Ideal der Vernunft. In der Romantik schließlich habe eine schwärmerische Begeisterung für alles Mittelalterliche eingesetzt. Nun gelang es auch protestantischen Historiographen, über die einzelnen Zeugen der Wahrheit hinaus, positive Aspekte im Mittelalter zu finden. Die eigene Konfession sei in den Hintergrund getreten. Die Kirchengeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts sei gespalten. Zu einem Teil nähmen die Autoren wieder konfessionelle Standpunkte ein, die anderen schrieben ökumenische Kirchengeschichte. Von Ersteren würde das Mittelalter als notwendige Niedergangsgeschichte betrachtet, ohne die es keine Reformation hätte geben können. Die Anderen suchten nach den Reformkräften, in deren Reihe die Reformatoren gestellt werden konnten und deren logische Folge sie seien.

Den ersten Vortrag der dritten Sektion hielt JOHANNES WISCHMEYER (Mainz) über „Leopold von Ranke und Ludwig von Pastor über das Papsttum“. Während Ranke das Papsttum in die Gesamtzusammenhänge der Universalgeschichte einreihen wollte und die Institution zu seiner Zeit bereits als überlebt ansah, sah sich Pastor, dessen Arbeit ein dezidierter Gegenentwurf zu Ranke ist, als Apologet der katholischen Kirche, der seine Erkenntnisse stets ihren Belangen unterordnete. In einem zweiten Schritt untersuchte der Referent, welche Erkenntnistheorie seine Protagonisten verfolgten, und demonstrierte dabei zwei völlig unterschiedliche Ansätze der Historiographie. An vorderster Stelle stand für Ranke die Objektivität. Er habe Strukturen und Entwicklungslinien aufzeigen wollen. Anders Pastor. Er arbeitete streng chronologisch und konzentriert sich auf diplomatische Quellen, um zu zeigen, was gewesen ist, nicht was daraus entstehe. Folglich seien auch die Erkenntnisinteressen sehr unterschiedlich. Zum Abschluss brachte Wischmeyer die unterschiedlichen Positionen der beiden Historiker noch einmal an einem Beispiel auf den Punkt: Wie wurde die Vermischung von Religion und Politik beurteilt? Nach Ranke konnten beide nur zeitweise zusammenfallen, wie es im Papsttum der Fall gewesen sei. Das Ende seiner weltlichen Macht war also nur folgerichtig. Pastor dagegen interpretierte die Zerstörung des Kirchenstaates als eine Änderung des göttlichen Plans.

Einen weiteren Vergleich stellte BETTINA BRAUN (Mainz) über „Das Bild der Kirchengeschichte bei Albert Hauck und Heinrich Brück“ an. In den Werken der beiden Kirchenhistoriker suchte sie an Hand von „Probebohrungen“ zu den Themen Canossa und Ketzertum des 14. und 15. Jahrhunderts nach Elementen der Toleranz und der Identitätsstiftung. Die Bewertung des Ganges nach Canossa zeigt eine deutliche konfessionelle Prägung. Der Protestant Hauck habe das Handeln des Kaisers für einen genialen Schachzug gehalten, mit dem er dem Papst eine empfindliche Niederlage zufügte. Der Katholik Brück habe in den Geschehnissen von Canossa die Unterwerfung des Kaisers unter den Papst gesehen. Die Trennlinie in den Auffassungen verläuft für das Thema Ketzer ganz ähnlich. Brück stellte sie abwertend als Häretiker dar, denn da die Kirche nicht reformbedürftig gewesen sei, hätte es auch keinen Grund gegeben, gegen sie zu rebellieren. Auch Hauck sah die Ketzergruppierungen nicht im Grundkonsens der christlichen Kirchen, dennoch bewertete er ihre Kirchenkritik und ihre Leidensfähigkeit positiv und erkannte als Ursprung der Ketzergruppen die Missstände der Kirche. In ihrem Fazit stellte Braun den Katholiken Brück nochmals in den zeitlichen Kontext nach dem I. Vaticanum, dessen Vorstellungen er auf die Kirchengeschichte zurück projizierte und damit seine eigenen Grenzen festlegte. Bei ihm hatte Kirchengeschichte eine apologetische und Identität stiftende Rolle. Hauck hingegen betrieb streng historisierende Geschichtsschreibung und versuchte, aus der jeweiligen Zeit heraus zu interpretieren. Er war trotz seiner nationalen Prägung im Stande, Respekt zu zollen, wenn auch nicht Toleranz zu üben.

Im letzten Vortrag des Kolloquiums sprach IRENE DINGEL (Mainz) über “Religiöse Wertung und Toleranz – eine Spurensuche in frühaufklärerischen Enzyklopädien“. Sie stellte dabei ein in seiner Zeit neues Toleranzkonzept vor, das sich von dem bisherigen an religiöse Werte gebundenen Konzept, wie es unter anderem Christoph Schwöbel vorgestellt hatte, löst. Für die Aufklärer stand Kirche für die Verkehrung von Werten, die die Menschen eigentlich verbinden sollten, die sie aber aufgrund religiöser Aufladung trennten. Der Zugang zu Toleranz und religiöser Wertung sei demnach ein völlig anderer als bei den bisher vorgestellten Autoren und Werken. Dingel zeigte, dass die Enzyklopädien von Pierre Bayle und Denis Diderot/Jean Baptiste d’Alembert alte kirchliche Dogmen durch eine neues aufklärerisches ersetzten: Vernunft. Folgerichtig zählten die Unitarier aufgrund ihrer vernunftbegründeten Ablehnung der Trinität zu den liebsten Sekten der Enzyklopädisten; und auch Pierre Bayle sah in ihrer Vernunftorientiertheit und Kirchenfeindlichkeit Anklänge an die Aufklärung. Bei der Suche nach Toleranz stieß Dingel bei Bayle auf die Forderung nach Ablösung der Wahrheitsfrage von der Forderung nach Toleranz, die allein vor dem Kriterium des staatsbürgerlichen Wohlverhaltens in Frage gestellt werden sollte. Die gleiche Grenze der Toleranz gilt für die Encyclopédie: die zivile Gesellschaft dürfe davon nicht negativ betroffen werden. Umgekehrt sei Toleranz aber unabdingbar notwendig für das menschliche Zusammenleben. Religion sei nur dann wichtig und richtig, wenn sie die Gesellschaft tragen könne.

In seiner Einleitung zur Schlussdiskussion brachte Wolf-Friedrich Schäufele die Erkenntnisinteressen der Redner des Kolloquiums in vier Fragen auf den Punkt: Wie hängen Identitätsbildung und Historiographie zusammen? Wie wirkt sich Toleranz auf Geschichtsschreibung (und umgekehrt) aus? Wie unterscheiden sich die einzelnen Religionen bzw. Konfessionen in Bezug auf die Prozesse der Tolerierung? Muss Kirchengeschichte konfessionell verortet sein, oder darf sie es nicht sein? Zu all diesen Fragen fanden die Vortragenden interessante und anregende Antworten. Sie zeigten an Hand ihrer speziellen Themen unterschiedliche Zugänge zum Thema des Kolloquiums auf und stellten weiterführende Erkenntnisse vor. Die Aufgabe für die Zukunft wird nun sein, terminologische Elemente zu schaffen, die eine Systematisierung dieser Erkenntnisse erlauben. Die Tagungsbeiträge werden im Frühjahr 2009 in der Reihe "Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte. Beihefte" erscheinen.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Toleranz und Identitätsfindung zwischen den Religionen

Wolfram Kinzig (Bonn), Das Judentum in neueren deutschsprachigen Darstellungen der Alten Kirche

Andreas Gotzmann (Erfurt), Intellektuelle Kämpfe. Geschichtswissenschaftliche Konstruktionen jüdischer Identität im Bezug zum Christentum und Islam

Stephan Conermann (Bonn), Das Bild von Judentum und Christentum in der islamischen Historiographie

Sektion II: Toleranz und Identitätsfindung zwischen den christlichen Konfessionen: Themen

Michael Driedger (St. Catherines, Ontario), Der „linke Flügel der Reformation“ im Wandel der (Kirchen-)Geschichtsschreibung

Franziska Metzger (Fribourg), Identitätskonstruktion zwischen Nation und Konfession. Die Reformation in der katholischen (Kirchen-) Geschichtsschreibung der Schweiz

Klaus Fitschen (Leipzig), Das Bild des neueren Katholizismus in der protestantischen (Kirchen-)Geschichtsschreibung

Matthias Pohlig (Berlin), Überkonfessionelle Momente in konfessioneller Geschichtsschreibung

Susan Boettcher (Austin, Texas), Wiederverwendung der Konfessionsstreitigkeiten: Lutherische Identität in den Reformatorenbiographien von Johann Georg Leuckfeld

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg), Das Bild der mittelalterlichen Kirche in der protestantischen (Kirchen-)Geschichtsschreibung

Öffentlicher Abendvortrag

Christoph Schwöbel (Tübingen), Toleranz im Streit der religiösen Wahrheitsansprüche. Theologische und philosophische Perspektiven zur Begründung und Praxis der Toleranz

Sektion III: Toleranz und Identitätsfindung zwischen den christlichen Konfessionen: Werke

Johannes Wischmeyer (Mainz), Leopold von Ranke und Ludwig von Pastor über das Papsttum

Bettina Braun (Mainz), Das Bild der Kirchengeschichte bei Albert Hauck und Heinrich Brück

Irene Dingel (Mainz), Religiöse Wertung und Toleranz – eine Spurensuche in frühaufklärerischen Enzyklopädien