HT 2008: Szenarien der Macht. Repräsentation von Herrschaft im späten Zarenreich und in der frühen Sowjetunion

HT 2008: Szenarien der Macht. Repräsentation von Herrschaft im späten Zarenreich und in der frühen Sowjetunion

Organisatoren
Jörg Baberowski, Humboldt-Universität zu Berlin; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Aust, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Vier Vorträge – je zwei über das späte Zarenreich und die frühe Sowjetunion – standen auf dem Programm einer Sektion, die nach Repräsentationen von Herrschaft fragte. Den Anfang machte FRITHJOF BENJAMIN SCHENK (Ludwig-Maximilians-Universität München) mit seinem Vortrag „Der Zar und das Reich. Herrschermobilität und Repräsentation von Macht in Russland im späten 19. Jahrhundert“. Schenk konzentrierte sich dabei auf die Herrscherreisen von 1825 bis 1914/17 und beleuchtete unterschiedliche Aspekte seines Themas. Im Einzelnen behandelte er die Reisen der Zaren in die Krönungshauptstadt Moskau sowie die Reisen der Thronfolger im Russländischen Reich und schloss mit einer Analyse der Funktionen der Zarenreisen im 19. Jahrhundert. Die Reisen der Zaren dienten zunächst als symbolische Beschreibung der Einheit des Reiches. Sie boten ferner die Möglichkeit, Orte, die die Zaren bereisten, als Bühnen zu nutzen, auf denen sich der slawophile Mythos von der Ergebenheit des Volkes gegenüber dem Zaren inszenieren ließ. Schließlich konnten die Zaren Reisen in die Regionen auch nutzen, um bestimmte politische Botschaften an die dortigen Eliten direkt zu übermitteln. In diesem Sinn hat Alexander II. (Zar 1855-81) den vielfältigsten Gebrauch vom Instrument der Herrscherreise gemacht. Mit einem Seitenblick auf Napoleon III. hatte er die Bedeutung der Reisen als Instrument zur Generierung quasi plebiszitärer Zustimmung zu monarchischer Herrschaft erkannt. Maßgebliche politische Grundsätze wie die Notwendigkeit, die Leibeigenschaft aufzuheben, und den Imperativ, Polen fest im Reich zu halten, kommunizierte Alexander II. zudem auf seinen Reisen.

Der folgende Vortrag von DAVID FEEST (Georg-August-Universität Göttingen) über „Staatsrepräsentation und Staatsrepräsentanten“ begab sich auf die Suche nach dem Staat auf dem Dorf in der Zeit unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft. Im Zentrum standen die Bauernbeamten, die für die Einziehung von Steuern und Abgaben verantwortlich waren. Sein Material bezog Feest aus Revisionsberichten aus den 1870er-Jahren der Selbstverwaltung des Gouvernements Rjazan’. Als Kennzeichen des modernen Verwaltungsstaats setzte Feest die Fähigkeit voraus, Handlungsmodi und Personen abstrakt als staatlich repräsentieren zu können. Die empirischen Befunde des Steuereinzugs auf dem russischen Dorf zeigen jedoch erhebliche Diskrepanzen zur gängigen Annahme moderner Verwaltungsstaatlichkeit. Die obrigkeitlichen Regeln des, in Zahlen schriftlich fixierten, Steuereinzugs wurden von den Bauernbeamten allzu oft substituiert, indem Praktiken, die auf Mündlichkeit und Gedächtnis wie auch gegenständlicher Fixierung von Geldsummen etwa auf Kerbhölzern beruhten, zur Anwendung kamen. Häufig war für die Bauern im Akt des Steuereinzugs die staatliche Steuer nicht als solche erkennbar, da die Bauernbeamten einen Pauschalbetrag, der neben der Steuer noch andere Abgaben beinhaltete, einnahmen. Obwohl die staatlichen Vorgaben, wie die Steuern einzunehmen seien, mithin häufig unterlaufen wurden, ist nicht zu übersehen, dass es eine Ordnung gab, die einen letztlich doch stetigen Fluss der Steuereinnahmen sicherstellte. Die theoretische Annahme modernen Verwaltungshandelns und die russische Praxis des Steuereinzugs stehen damit in einem komplexen Verhältnis. Es wäre zu kurz gegriffen, die russische Steuergeschichte allein als Differenz zwischen Theorie und Praxis zu erzählen.

SANDRA DAHLKE (Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg) thematisierte ihr Vortragsthema „Ein Parteiführer spricht zu den Massen. Oder wie bringt man bolschewistische Herrschaft nach Sibirien?“ am Beispiel Emel’jan Jaroslavskijs, der von 1919 bis 1922 im Dienste des Zentralkomitees der Bol’ševiki im Ural und in Sibirien reisend, die Botschaft der neuen Machthaber unter das Volk zu bringen bemüht war. Dahlke siedelte ihre Ausführungen auf drei Ebenen an. Auf der ersten Ebene verwies sie darauf, dass die Bol’ ševiki sich dem semantischen Feld der Religion bedienten, um ihre Herrschaftsauffassung und Zukunftsvision in eine Sprache zu übersetzen, die den Menschen verständlich war. Auf der zweiten Ebene hob sie auf ein Narrativ ab, das Jaroslavskij gerne in seine Reden einfließen ließ, um die Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten nicht nur zu reduzieren, sondern gar in Nähe umzuwandeln. Es handelt von einer bäuerlichen Delegation aus Perm, die im Moskauer Kreml’ bei Lenin vorstellig geworden war, um sich über die Willkür lokaler Funktionäre der Bol’ ševiki bei der Getreiderequirierung zu beklagen. Lenins Direktive griff sodann direkt nach Perm durch, wo die eigenmächtigen Funktionäre ihrer Posten enthoben und die Bauern entschädigt wurden. Diese Geschichte diente dazu, Herrschaft als unmittelbare Kommunikation darzustellen. Auf der dritten Ebene stellte Dahlke die Praxis des Erzählens über den Großen Oktober in den Zentren Petrograd und Moskau sowie in der Provinz dar, die es dem Publikum in den Regionen erlauben sollte, Teilhabe am Umbruch zu haben und sich mit den neuen Herrschern zu identifizieren. In ihrem Schlussteil hob Dahlke dann vor allem darauf ab, dass das Reisen durch die Regionen, der Auftritt vor Publikum und die Rückmeldungen zumindest Einzelner aus dem Auditorium für Jaroslavskij eine immens bedeutende Quelle seiner eigenen Identität gewesen sind. Erst im Moment des Auftritts und der öffentlichen Rede erlebte Jaroslavskij sich einig mit sich selbst und imaginierte seine Reden vor Publikum als einigendes Gemeinschaftserlebnis der bolschewistischen Führung und des Volkes.

Im vierten und letzten Vortrag „Von Menschen und Mücken. Krankheit und Moderne an der muslimischen Peripherie des sowjetischen Vielvölkerreichs“ sprach MATTHIAS BRAUN (Humboldt-Universität zu Berlin) von der Kluft, die die sowjetische zivilisatorische Mission zwischen den Bol’ševiki und ihren muslimischen Untertanen in Azerbajdžan aufzeigte. Braun schilderte zunächst die Anfänge der sowjetischen Bakteriologie und Mikrobiologie. Nicht zuletzt im vorbeugenden Kampf gegen Krankheiten wie die Malaria und die Pest erblickte das 1918 gegründete Volkskommissariat für Gesundheitswesen seine Aufgabe. In den Randregionen der Sowjetunion lief dies darauf hinaus, dass Ärzte gegenüber Bauern und Muslimen als Sendboten der sowjetischen Moderne auftraten und davon sprachen, wie ein neues Leben zu führen sei. Hygienische Maßnahmen wie die Verbrennung der an Malaria oder Pest Gestorbenen und die Desinfektion von Wohnräumen stießen dabei auf die Ablehnung und den Widerstand einer in Traditionen lebenden Bevölkerung.

In seinem Kommentar verwies MALTE ROLF (Leibnitz Universität Hannover) eingangs auf das klassische Referenzwerk des New Yorker Historiker Richard S. Wortman, dessen Titel die Sektion sich zu Eigen gemacht hatte: Scenarios of Power. 1 Im Folgenden empfahl Rolf mehrere Perspektiven auf das Thema der Herrschaftsrepräsentation, die er in Abgrenzung von Wortmans Standardwerk vorstellte. Während in den Scenarios of Power vorrangig die medialen Oberflächen der Repräsentationen erfasst seien, gehe es in der aktuellen und künftigen Forschung darum, Herrschaftsrepräsentation noch ausführlicher als kommunikative Interaktion der Herrschenden und Beherrschten zu analysieren. Im einzelnen empfahl Rolf dabei folgende Fragen und Punkte für die Diskussion der Sektion: Konkurrierende Vorstellungen von Herrschaft sollten in ihrer Prozesshaftigkeit deutlicher akzentuiert werden. Kommunikation sei dabei gerade auch als gegenseitiges Missverstehen darzustellen. Ferner interessiere die Stellung jener Akteure, die Repräsentationen von Herrschaft entwarfen, in der Hierarchie aller maßgeblichen Akteure. Die Frage der Durchsetzung von Herrschaft könne nicht allein als Geschichte medial vermittelter Repräsentation geschrieben werden, sondern müsse im Fall des Zarenreichs und erst recht der Sowjetunion von Macht und Gewalt handeln. Ferner stelle sich grundlegend die Frage nach der Integrationswirkung der behandelten Repräsentationen. Und schließlich sei auch das Problem von Kontinuität und Wandel zu diskutieren, das das Jahr 1917 in der Geschichte Russlands aufwerfe.

Das Plenum brachte in der Diskussion die an das Jahr 1917 geknüpfte Kontinuitätsfrage wiederholt ins Spiel, fokussierte sich jedoch vor allem auf die Frage nach der Durchsetzung von Herrschaft. Die gewaltgestützte Erzwingung von Loyalität rückte so in den Mittelpunkt des Gesprächs, für das nach vier Vorträgen und einem Kommentar bei einer Gesamtsektionsdauer von drei Stunden leider zu wenig Zeit blieb. So geriet manches ins Hintertreffen, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Es blieb der Eindruck im Raum stehen, die Vorträge hätten das Desiderat, die Erforschung von Herrschaftsrepräsentation über den von Wortman erreichten Stand hinauszubringen, kaum erfüllt. Dieser Eindruck basiert jedoch auf der Prämisse, Wortman habe primär die Oberflächen der Herrschaftspräsentation beschrieben, die nun interaktionsgeschichtlich behandelt werden sollen. Hierbei gerät aus dem Blick, dass sich das Werk Wortmans auch durchaus noch auf weiteren Wegen fruchtbar aufgreifen und fortentwickeln lässt, ohne damit die Plausibilität, Interaktionen und Konkurrenzen zu untersuchen, in Frage zu stellen.

Zunächst lässt sich die Untersuchung von Herrschaftspräsentationen nicht allein an den zwei Polen „mediale Oberflächen der Repräsentation“ und „Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrschten“ aufhängen. Begreift man Wortmans Scenarios of Power als eine Arbeit über Herrschaftsdarstellung im Zentrum, die sich in der Selbstbeschreibung der Figur des Monarchen verdichtet, so lässt sich daran die Frage nach der Projektion des zentral generierten Herrschaftsbildes in die Weiten des imperialen Raumes anknüpfen. Diese Perspektive verweist auf lange Sicht sicherlich auch auf den Punkt der Interaktion. Sie beinhaltet jedoch mehr. Denn neben dem Verhältnis zwischen Sender und Empfänger einer Nachricht ist bereits die Analyse der Botschaften der Sender eine vielschichtige Angelegenheit, in der auch und gerade die Komplexität der Sektion „Szenarien der Macht“ lag. Die vier Vorträge der Sektion ergeben nämlich in typologischer Hinsicht ein äußerst vielgestaltiges Bild. Sie thematisierten verschiedene Sektoren von Herrschaft und ihrer Präsentation: das Verkehrswesen, das Steuerwesen, die Propaganda und die Medizin. Die Ansprache der Empfänger war in jedem Vortrag hochgradig unterschiedlich – und zwar sowohl auf der zeitlichen Ebene als auch in der impliziten Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten. Die Begegnungen mit dem Thronfolger oder Zaren auf Reisen sprachen das Publikum erstrangig visuell an und zielten auf ehrfürchtige Ergriffenheit. Es war ein einmaliger Appell, der jedoch auf eine langfristige Wirkung abhob. Diesem Fall noch am ähnlichsten waren die Propagandareisen Jaroslavskijs. Auch hier handelte es sich um eine einmalige Ansprache des Publikums, die auf langfristige Loyalität zielte, jedoch ist die Botschaft hier in Gestalt der Rede überbracht worden und forderte damit auf, nicht allein zu schauen, sondern vor allem zu hören. Das Steuerwesen teilte sich den Untertanen zwar auch punktuell kurzfristig mit, jedoch in einer bestimmten Frequenz, die im Modus der jährlichen Wiederholung ihre Permanenz unterstrich. Die Ansprache zielte hier nicht mehr allein darauf ab, zu sehen und zu hören, sondern zu zahlen, forderte Loyalität mithin nicht mental, sondern pekuniär ein. Die sowjetische Medizin schließlich teilte mit den Auftritten des Zaren und Jaroslavskijs zwar partiell den Umstand, dass Ärzte umherreisten und hygienische Standards propagierten, griff allerdings im Gegensatz zu den Präsentationsformen der anderen drei Vorträge erheblich tiefer in den Alltag der Menschen ein und verlangte von ihnen, sich in eine völlig andere Mentalität einzuüben und tradierte religiöse Gewohnheiten abzulegen, um die Standards des modernen Fürsorgestaates zu erfüllen.

Vor der sicherlich nötigen und hoffentlich ertragreichen Diskussion von Interaktionen lohnt mithin ein eingehender Blick auf die Varianz der Instrumente auf der Seite der Sender. Sie zeigt, im Fall der Sektion „Szenarien der Macht“, wie groß die Spannbreite der Vortragsthemen war und wie enorm damit auch die Herausforderung gewesen ist, diese in einer Sektion zu diskutieren. Neben dem Desiderat der Interaktion sollte die Sektion auch nicht den Blick auf ein pointenreiches Ergebnis der Vorträge versperren: Sowohl für Nikolaus II. als auch Jaroslavskij scheint eine ganz wesentliche Funktion der Herrschaftspräsentation gerade nicht in der Interaktion, sondern vielmehr in der Flucht vor ihr gelegen zu haben. Nikolaus II. schätzte seinen Eisenbahnwaggon schließlich als einen Ort, der ihn selbst für seine Minister unerreichbar machte. Hier, im Zug, konnte sich der Zar allein der Vorstellung hingeben, im Einklang mit seiner Vision des unbeschränkten Autokraten zu leben. Und auch Jaroslavskijs Interaktion mit dem Publikum scheint ganz wesentlich ein Produkt seiner Imaginationskraft zu sein, die er in seinen Briefen bemühte, um ein stabiles Bild seiner selbst zu schaffen. Gefestigte Identität gewann Jaroslavskij dann nicht so sehr aus tatsächlicher Interaktion, sondern aus seiner schriftlich fixierten Selbstimagination. Herrschaftspräsentation erfüllte ihren Zweck dann nicht in der Form, den Massen eine Botschaft zu überbringen und sie auf Loyalität abzustellen, sondern darin, die Sender der Botschaften in einer bestimmten Selbstsicht zu stabilisieren, die ihnen zusagte und ihnen mentalen Halt verlieh. Der Interaktionsgeschichte von Herrschaftspräsentationen wird damit nicht der Boden entzogen, allein die Vielfalt der Blickrichtungen und Deutungsmöglichkeiten dieses Forschungsfeldes soll damit noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Alles in allem gab die Sektion „Szenarien der Macht“ damit einen weit ausgreifenden Einblick in die Vielfalt der Historiographie Russlands und der Sowjetunion.

Sektionsübersicht:

Frithjof Benjamin Schenk (München): Der Zar und das Reich. Herrschermobilität und Repräsentation von Macht in Russland im späten 19. Jahrhundert

David Feest (Göttingen): Staatsrepräsentanten und Staatsrepräsentationen. Russische Lokalverwaltung nach den Großen Reformen

Sandra Dahlke (Hamburg): Ein Parteiführer spricht zu den „Massen“. Oder: wie bringt man bolschewistische Herrschaft nach Sibirien?

Matthias Braun (Berlin): Von Menschen und Mücken. Krankheit und Moderne an der muslimischen Peripherie des sowjetischen Vielvölkerreichs

Malte Rolf (Hannover): Kommentar

Anmerkung:
1 Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 1. From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton/NJ 1995, Vol. 2: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton/NJ 2000.