HT 2008: Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter

HT 2008: Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter

Organisatoren
Michael Borgolte, Humboldt-Universität zu Berlin; Bernd Schneidmüller, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Julia Dücker, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Marcel Müllerburg, Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte I, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Zuge der jüngsten Erweiterungsrunden der Europäischen Union wurde immer wieder nach einem historisch fundierten Wesen oder einer Identität Europas gefragt, nach Gemeinsamkeiten im Innern und Abgrenzungen nach außen. Insbesondere vergleichende Perspektiven machen deutlich, dass sich Europa trotz aller Bemühungen und Erfolge hinsichtlich einer politischen Vereinigung europäischer Länder sowohl gegenwärtig als auch in historischer Betrachtung als ein Komplex der Gemeinsamkeiten und auch der Unterschiede begreifen lässt, der Verbindungen und auch der Trennungen, der Gleichheiten und auch der Ungleichheiten. Während der 47. Deutsche Historikertag „Ungleichheiten“ im Allgemeinen gewidmet war, bot die vierstündige Sektion des Schwerpunktprogramms 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft Raum für Überlegungen zu Einheit und Vielfalt des mittelalterlichen Europa. Dabei wurden unter der Leitung der beiden Sprecher, Michael Borgolte und Bernd Schneidmüller sowie der Programmkoordination der vergangenen drei Jahre, Juliane Schiel und Annette Seitz, Einblicke in die Grundlagen, Arbeitsformen und bisherigen Ergebnisse transdisziplinärer Mittelalterforschung gegeben.

Nicht allein Abgrenzung und Entzweiung, so betonten JULIANE SCHIEL (Humboldt-Universität zu Berlin) und ANNETTE SEITZ (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) in ihren einleitenden Worten, bildeten im Mittelalter die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens. Vielmehr sei die europäische mittelalterliche Geschichte von Austausch- und Anpassungsprozessen geprägt gewesen, die gleichermaßen integrative wie desintegrative Wirkungen haben konnten. Die historische Betrachtung könne daher keine einheitliche Identität Europas begründen, sondern im Gegenteil den Einigungsprozess problematisieren, ohne ihn als Aufgabe der Politik in Frage zu stellen. Den Kristallisationspunkt europäischer Einheit und Differenz im Mittelalter bildeten die drei monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum, die damit auch den Ansatzpunkt für die Arbeit des Projekts darstellten. Aus diesem inhaltlichen Modell folgten drei konzeptionelle Säulen, die gleichermaßen als inhaltliche Hypothesen wie auch als Leitlinien für die Organisationsstruktur des Schwerpunktprogramms fungierten: Entsprechend den Prinzipien der Transdisziplinarität, Transkulturalität und dem Ende der Geradlinigkeit kooperierten die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachprovenienz kontinuierlich in Arbeitsgruppen, in denen sie gemeinsamen Fragestellungen transkulturell vergleichend nachgingen und auch ihre Ergebnisse kollaborativ in Schriftform brachten. Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit dem nun in die dritte Förderphase eintretenden Projekt sei es lohnenswert, so bilanzierten die beiden Koordinatorinnen, die Form einer derart vielversprechenden Erweiterung geisteswissenschaftlicher Arbeitsformen auch in Zukunft noch weiterzuentwickeln und zu etablieren, da sie in neuer Form individuelles Fachwissen in den Kontext transdisziplinärer Arbeit stelle. Die Vielfalt der zwölf am Schwerpunktprogramm beteiligten Fächer wurde in der Sektion durch die Vorstellung von vier Fallbeispielen durch Projektmitglieder abgebildet, die zugleich der Veranschaulichung und Problematisierung grundlegender Aspekte des Forschungsprojekts diente.

Welche Bedeutung partikulare Bemühungen für ein übergeordnetes Ganzes haben, präsentierte – freilich in ganz anderer Hinsicht – auch der Mediävist JAN RÜDIGER (Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main). Sein Referat „Unterschiede in kleinen Punkten. Heilsgeschichte und sprachliche Sonderung zwischen Island und Syrien“ behandelte die Entstehung diakritischer Zeichen im Syrischen und Altnordischen. Ausgehend von einem Verständnis sprachlicher Phänomene als einem integralen Bestandteil der europäischen Geschichte, beschrieb er das europäische Mittelalter im Gegensatz zur antiken Kultur als gewollt vielsprachig und kulturell vielfältig. Die Vorstellung von den heiligen drei Sprachen, Hebräisch, Griechisch und Lateinisch fördere zwar deren sprachliche Vormachtstellung, doch die biblischen Mythen der Zerstreuung der Söhne Noahs nach ihrer Sprache und des Pfingstwunders rechtfertigten zugleich die Existenz sprachlicher Vielfalt. Aus dieser Spannung ergäben sich Konstellationen der Aneignung und Abgrenzung, die Rüdiger an zwei Beispielen erläuterte. Jakob von Edessa (um 640–708), Verfasser einer syrischen Grammatik, machte den Vorschlag, das syrische Konsonantenalphabet durch die Integration der griechischen Vokale zu vervollständigen. Deren Einführung als diakritische Zeichen über oder unter den syrischen Konsonanten habe eine bedingte Aneignung dessen, was an der anderen Kultur als überlegen galt, bedeutet und somit zur Stärkung der eigenen Identität beigetragen. Ähnliches habe sich Mitte des 12. Jahrhunderts an der anderen Peripherie Europas abgespielt. Hier habe ein anonymer Grammatiker des Isländischen die Anverwandlung des lateinischen Alphabets an die Bedürfnisse des isländischen Lautstandes für Reflexionen über die Identität des isländischen Volkes genutzt.

Mit sprachlichen Formen von Integration und Desintegration beschäftigte sich auch die Germanistin STEPHANIE SEIDL (Ludwig-Maximilians-Universität München), die „Narrative Ungleichheiten. Heiden und Christen, Helden und Heilige im mittelhochdeutschen Rolandslied und in der altfranzösischen Chanson de Roland“ untersuchte. Unter Rückgriff auf Reinhart Koselleck setzte sie das asymmetrische Gegenbegriffspaar Christen/Heiden mit dem „symmetrischen“ Gegenbegriffspaar Held/Heiliger in Beziehung. Während Christ zu sein es unmöglich mache, Heide zu sein, könnten die Figuren des Helden und des Heiligen ineinander übergehen. Die altfranzösische Bearbeitung des Rolandstoffes betone das Heldentum ihrer christlichen Figuren. Da der Held eines heldenhaften Gegners bedürfe, entschärfe die Chanson de Roland den Gegensatz zwischen Christen und Heiden, indem sie den Heiden ihrerseits heldenhafte Züge verleihe. Das mittelhochdeutsche Rolandslied, eine Umarbeitung des altfranzösischen Textes auf dem Höhepunkt der Kreuzzugsbewegung, verschmelze indes die Figur des Helden mit der des Heiligen zum miles Christi; dadurch rücke der Kontrast zu den als „Kinder des Teufels“ beschriebenen Heiden in den Vordergrund.

MICHAEL BORGOLTE (Humboldt-Universität zu Berlin) griff die beschriebenen Unterschiede und Ungleichheiten in einem kurzen zusammenfassenden Kommentar nochmals auf. Er wertete insbesondere die gelungenen Nachweise von mittelalterlichen Integrationsleistungen bei Fortbestehen partikularer Unterschiede als Beleg für die Fruchtbarkeit der Arbeit des Schwerpunktprogramms.

Der zweite Teil der Sektion thematisierte Bekehrungsbewegungen und die Nutzung religiöser Ansprüche im politischen Bereich. Zu Beginn analysierte der Mediävist DANIEL KÖNIG (Deutsches Historisches Institut Paris) „Bekehrungsmotive als Indikator für Desintegrations- und Integrationsprozesse. Überlegungen zur Christianisierung Westeuropas im 4. bis 8. Jh.“ Durch die Analyse der Motive von Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft für die Hinwendung zum Christentum veranschaulichte König, dass mit der Christianisierung Westeuropas die Auflösung politischer, sozialer und auch mentaler Strukturen einherging. Indem das Christentum aber nicht nur bestehende Gefüge zerstört, sondern zusätzliche oder alternative Strukturen bereitgestellt habe, standen Integration und Desintegration stets in dialektischer Wechselwirkung. Das Paradigma der Ungleichheiten lasse die Christianisierung als vielschichtigen sozialen Prozess mit beträchtlichen regionalen und temporalen Unterschieden erscheinen. Dieser Aspekt sei auch für gegenwärtige Diskussionen von Nutzen: Untersuche man die Bekehrungsprozesse vergangener Epochen, immunisiere dies gegen schlichte Polemik, wie sie dieser Tage häufig gegen den Islam gerichtet werde. Dessen Expansion werde fast ausschließlich als eine gewalttätige wahrgenommen und die Vielschichtigkeit der Ausbreitungsprozesse von Religionen dabei verkannt. Das Studium der religiösen Großkulturen des Mittelalters und ihrer Beziehungen verhindere so den Kurzschluss, religiöse Phänomene voreilig mit Totalitarismus zu identifizieren.

Auch der Islamwissenschaftler ŞEVKET KÜÇÜKHÜSEYIN (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) setzte sich in seinem Vortrag „Gotteskrieger und Eidbrecher. Zur Bedeutung des Motivs ‚Glaubenskampf‘ als Mittel osmanischer Herrschaftslegitimation“ mit dem Konfliktfeld Politik und Religion auseinander. Küçükhüseyin zeigte, dass die Osmanen das Motiv des Glaubenskampfes nicht nur in der Konfrontation mit dem christlichen ‚Abendland‘ einsetzten, sondern auch in ihren Auseinandersetzungen mit konkurrierenden muslimischen Herrschaften in Anatolien. So hätten etwa osmanische Geschichtsschreiber im späten 15. Jahrhundert die benachbarten Karamanen als Eidbrecher, Verräter und Ungläubige diffamiert, um die Herrschaft und Vorrangstellung der Osmanen historisch zu legitimieren. Der Begriff des Glaubenskampfes bezeichnete dabei ebenso den Krieg gegen die Christen wie gegen die muslimischen Rivalen. Küçükhüseyin unterstrich, dass die Vorstellung von einem monolithischen Block 'Islam' in Anatolien, der die Unterwerfung des christlichen Abendlandes unter Führung der osmanischen Dynastie verfolgte, korrigiert werden müsse und zeigte, dass die Osmanen sich weidlich des Glaubenskampfmotivs zu Zwecken der Legitimation ihrer aggressiven Politik und zur Motivation ihrer Kriegerschaft bedienten.

In seinem abschließenden Kommentar hob BERND SCHNEIDMÜLLER (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) den Bezug der Vortragsthemen zu aktuellen Fragestellungen als besonders vielversprechend hervor. So hätten die untersuchten Spannungsfelder die religiösen Großkulturen erfolgreich mit gelebten Realitäten kontrastiert und in diesem Zusammenhang bestehende Perspektiven dynamisiert und geweitet. Dies korrespondiere, so Schneidmüller, mit gegenwärtigen Überlegungen zur Position und Ausgestaltung der Kultur- und Geisteswissenschaften und ihrem Nutzen für aktuelle politische Probleme, denen sich das Schwerpunktprogramm im Besondern und die genannten Wissenschaften im Allgemeinen künftig zu stellen hätten.

In der anschließenden Diskussion wurde neben Fragen an die Referenten das Konzept des Schwerpunktprogramms reflektiert. Gerade die Einblicke in vier sehr unterschiedliche Einzelprojekte und ihre Arbeit vermochten zentrale Aspekte des Forschungsverbundes zu veranschaulichen. Jan Rüdigers Beispiele sprachlicher Partikularisation zeigten, wie Prozesse der Identitätsstiftung und der Abgrenzung nach außen häufig über den Weg der Aneignung und des Austausches führten und wie Integration und Desintegration meist in dialektischem Verhältnis standen. Stephanie Seidls Vortrag zur Chanson de Roland bzw. zum Rolandslied demonstrierte eindrücklich den Nutzen enger transdisziplinärer Zusammenarbeit, die neue Perspektiven auf vertraute Gegenstände eröffnen kann. Daniel Königs Beitrag dokumentierte nicht zuletzt das Anliegen des Schwerpunktprogramms, gegenwärtige Herausforderungen aufzunehmen und vom historischen Blickpunkt aus zu ihnen Stellung zu beziehen. Die Ausführungen Şevket Küçükhüseyins schließlich machten einmal mehr deutlich, dass die Geschichte des europäischen Mittelalters von dessen Zentrum wie von dessen Peripherien gleichermaßen her betrachtet werden muss. Insgesamt zeigte die Sektion, dass die Transdisziplinarität der Forschung keine bloße Beigabe, sondern eine Notwendigkeit ist, wenn man die Geschichte des europäischen Mittelalters als Geschichte der Integration und Desintegration religiös bestimmter Großkulturen beschreiben möchte.

Sektionsübersicht:

Juliane Schiel (Berlin) / Annette Seitz (Heidelberg): Einführung in Konzept und Methode der Arbeit des DFG-Schwerpunktes 1173

Jan Rüdiger (Frankfurt am Main): Unterschiede in kleinen Punkten. Heilsgeschichte und sprachliche Sonderung zwischen Island und Syrien

Stephanie Seidl (München): Narrative Ungleichheiten. Heiden und Christen, Helden und Heilige im mittelhochdeutschen “Rolandslied“ und in der altfranzösischen „Chanson de Roland“

Michael Borgolte (Berlin): Kommentar

Daniel König (Paris): Bekehrungsmotive als Indikator für Desintegrations- und Integrationsprozesse. Überlegungen zur Christianisierung Westeuropas im 4. Bis 8. Jahrhundert

Şevket Küçükhüseyin (Bamberg): Selbst- und Fremdwahrnehmung im Prozess kultureller Transformation. Muslimische Quellen aus Anatolien über Türken, Christen und Konvertiten

Bernd Schneidmüller (Heidelberg): Kommentar