HT 2008: Wirtschaftliche Ungleichheit als globales Problem des 20. Jahrhunderts

HT 2008: Wirtschaftliche Ungleichheit als globales Problem des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Alexander Nützenadel, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder; Daniel Speich, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Martina Heßler, Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main

Wirtschaftliche Ungleichheit war in der Wirtschaftsgeschichte in den letzten Dekaden kein prominentes Thema. Die von Alexander Nützenadel und Daniel Speich geleitete Sektion thematisierte nun dieses alte und wichtige Forschungsfeld auf innovative Weise neu. So ging es in der Sektion nicht, wie in einer traditionellen Perspektive üblich, um quantitative Vergleiche in nationalstaatlicher Perspektive. Vielmehr rollten das Einleitungsreferat von Alexander Nützenadel, die vier Vorträge sowie die Intervention von Andreas Eckert das Feld zum einen in kulturhistorischer Perspektive auf, zum anderen mit konsequent globalgeschichtlichem Blick. In den Fokus gerieten neben der empirischen Entwicklung von Ungleichheit auch die kulturelle Wahrnehmung, die statistische Konstruktion und die Politisierung dieses Phänomens im „langen 20. Jahrhundert“.

In einem prägnanten Einleitungsreferat steckte ALEXANDER NÜTZENADEL (Europa Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder) den Rahmen ab, in dem sich die folgenden Vorträge bewegten. Ausgehend von einem im American Economic Journal erschienen Artikel „Inequality among World Citizens“, dessen These, die Ungleichheit habe im globalen Maßstab in den vergangenen 200 Jahren fast kontinuierlich zugenommen, zu heftigen Kontroversen und Gegenthesen führte, entwickelte Nützenadel sechs Perspektiven, die für eine Globalgeschichte wirtschaftlicher Ungleichheit im 20. Jahrhundert unerlässlich sind: die Abkehr von der nationalstaatlichen Perspektive, die die Ungleichheitsforschung noch immer dominiere, die Reflexion empirischer Probleme des statistischen Makrovergleichs und die stärkere Fokussierung auf Fallstudien, die Freilegung normativer Grundlagen, die wissenschaftlichen Aussagen zur Ungleichheit oft implizit sind, die Reflexion der politischen Dimension des Themas sowie die Einbettung des Phänomens Ungleichheit in die „Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts“.

Nachdem der Raum der Forschungsfragen auf diese Weise abgesteckt war, präsentierte PEER VRIES (Universität Wien) souverän und inspirierend einige grundlegende Überlegungen zur Frage von Wachstum, Ungleichheit und Globalisierung. Eingangs stellte er eine der scheinbar banalen Fragen, die komplexe Antworten erfordern, nämlich die Frage, warum einige Länder reich sind, andere arm und wie und warum sich dieser Zustand historisch häufig über eine lange Zeit hält. Er gab einen knappen, skizzenhaften Überblick über die Antworten auf diese Frage, wie sie seit dem 20. Jahrhundert gegeben wurden. Er schlug einen Bogen vom Eurozentrismus Max Webers, Karl Marx' und David Landes bis hin zu den neomarxistischen Forschungen, die allesamt in der Besonderheit des Europäischen den Grund für den wirtschaftlichen Aufstieg Europas sahen. Anschließend setzte er sich mit der scharfen Kritik an diesen Positionen auseinander, wie sie seit den 1980er-Jahren in wichtigen Publikationen der sich konstituierenden Globalgeschichte geübt wird. Peer Vries erwähnte vor allem die California School mit ihrer Kritik am Eurozentrismus und dem neuen Blick auf Asien, insbesondere China, und der Betonung dessen Wirtschaftskraft in der Frühen Neuzeit, die das „Ereignis“ der Industriellen Revolution in Europa vielmehr kontingent erscheinen lassen und Europa als „latecomer“ definierte. Heutige Ansätze würden nun die Rolle von Ressourcen für die Entstehung der „Industriellen Revolution“ betonen. Vries stellte dem jedoch die Rolle des Staates entgegen. Er unterstrich, welche Bedeutung der Staat auch in einer globalen Welt habe und forderte eine global orientierte Wirtschaftsgeschichte auf, dies wieder stärker in den Blick zu nehmen. In der Diskussion wurde diese Forderung sogleich mit der Nachfrage konfrontiert, inwieweit dies nicht wieder zu einer nationalgeschichtlich orientierten Geschichtsschreibung führen würde und damit wieder einen Schritt zurück. Auch die Bedeutung des Militärs für die wirtschaftliche Entwicklung wurde als wichtiger Faktor eingeklagt.

DANIEL SPEICH (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich) wechselte die Perspektive auf wirtschaftliche Ungleichheit, indem er mit einem an der konstruktivistischen Wissenschaftsforschung geschulten Blick die Datenbasis der Wirtschaftshistoriker kritisch analysierte. Sein Ziel war es, „die konzeptionelle Weltordnung historisch (zu) erforschen, die durch Wirtschaftsstatistiker in den letzten 70 Jahren konstruiert worden ist“. Er vertrat dabei zwei zentrale Thesen. Zum Ersten konstatierte er, dass in den 1940er- und 1950er-Jahren ein paradigmatischer Wandel im Wissen über globale Ungleichheit stattfand, insofern quantitatives Wissen zur dominanten Wissensform wurde. Speich widmete sich vor allem dem Problem der Vergleichbarkeit der so erzeugten Daten, die einerseits Ungleichheit sichtbar machen, andererseits nur aufgrund eines universellen Referenzrahmens funktionierten, dabei jedoch historische, lokale oder regionale Besonderheiten ignorierten und vielmehr westliche, industriegesellschaftliche Denkweisen verabsolutierten und auf andere Regionen und Zeiten übertrugen. Diese volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen wirkten damit normbildend und erzeugten einen homogenen Raum, um vergleichbares Wissen verfügbar zu machen. Zum Zweiten ging dieses Paradigma des Quantitiven mit einer ingenieurswissenschaftlichen Perspektive einher. Wirtschaftliches Wissen wurde zu Anwendungswissen, mit dem gesellschaftlicher Wandel gesteuert werden sollte. Auch dies blieb nicht ohne Wirkung. So wurden rassistische Theorien von der genuinen Unterentwickeltheit bestimmter Rassen ersetzt durch universalistische Theorien. Nicht mehr wurde die Unvergleichbarkeit der Europäer betont, sondern dem eine universalistische Denkweise entgegengesetzt, nach der sich jede Wirtschaftseinheit prinzipiell entwickeln könne und damit Interventionen offen stand. Zentraler Ertrag des Vortrags von Speich ist die Kritik der epistemischen Grundlagen der Wirtschaftsgeschichte und vor allem das Aufzeigen der Wirkungen von Paradigmen und unterschiedlichen Wissensformen.

Nach diesen beiden eher überblicksartigen und grundsätzlichen Beiträgen lieferten ALEXANDER NÜTZENADEL (Europa Universität Viadrina Frankfurt /Oder) und CORINNA UNGER (Deutsches Historisches Institut Washington) zwei Fallstudien, die immer wieder Fragen der vorherigen Vorträge aufnahmen und weiterführten.
Alexander Nützenadel widmete sich dem Problem wirtschaftlicher Ungleichheit am Fallbeispiel des Hungers. Hunger gilt seit 1945 als extremster Ausdruck von Armut und Ungleichheit und bietet daher ein bedeutendes Untersuchungsfeld für eine Geschichte globaler Ungleichheit im 20. Jahrhundert. Nützenadels Interesse lag darauf, „wie sich Hunger in Politik, Wissenschaft und Ökonomie als globales Problem konfiguriert hat“. Er analysierte, wie sich eine neue Thematisierung des Hungers etablierte, die sich erheblich von der Perspektive des 19. Jahrhunderts unterschied, als Hunger als regional begrenztes Phänomen galt. Die beiden Weltkriege hatten erheblichen Anteil daran, dass Hunger im 20. Jahrhundert als globales Phänomen wahrgenommen wurde, dem schließlich mit internationalen Organisationen entgegengewirkt werden sollte. Der Erste Weltkrieg brachte Hunger als Phänomen zurück nach Europa. Damit einher gingen eine Renaissance neomalthusianischer Theorien sowie die „Geburtsstunde“ einer neuen international orientierten Ernährungspolitik. Die Wissenschaft, so Nützenadel weiter, begann Hunger und Unterernährung vor allem in den 1930er- und 1940er-Jahren zu vermessen, Normen festzulegen und technokratische Lösungen anzubieten. Ein Befund, der in direktem Zusammenhang mit Daniel Speichs These des paradigmatischen Wandels der Wissensformen zu sehen ist. Im Zweiten Weltkrieg bildeten sich schließlich die Konturen einer internationalen Ernährungspolitik heraus. Nützenadel ordnete dies historisch ein in eine Politik des „Economic Appeasement“, die versuche das internationale politische System zu stabilisieren. Zugleich wurde die Welternährungspolitik ein wichtiges Element für die internationale Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit.

Mit dem letzten Teil seiner Ausführungen schlug Nützenadel bereits die Brücke zu Corinna Ungers Vortrag, der sich mit den Versuchen der Rockefeller und Ford Foundation in den 1950er- und 1960er-Jahren beschäftigte, die Armut in den Ländern der so genannten Dritten Welt zu lindern und wirtschaftlichen Aufschwung zu initiieren und zu fördern. Das Motiv dieses Engagements, so Ungers These, die anschaulich und empirisch dicht bewiesen wurde, war die Wahrnehmung, dass wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Industrie- und den sogenannten Entwicklungsländern eine Bedrohung der Stabilität und des Wohlstands des Westens darstellte. Unger fokussierte in ihrem Vortrag auf das Beispiel Indien und die Bemühungen der beiden Stiftungen, dort die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und die Geburtenrate zu verlangsamen. Unger nahm dabei Abstand von einer simplen Kritik an den Modernisierten, die an die Veränderbarkeit der Welt mit wissenschaftlichen Mitteln geglaubt hatten. Vielmehr ging es ihr darum „die Wahrnehmung von Ungleichheit zu historisieren ebenso wie den Glauben an die Möglichkeit, diese Ungleichheit zu mindern“. Entsprechend präsentierte sie eine breite historische Kontextualisierung und Erklärung der Politik der Stiftungen. Dominant war hier die Modernisierungstheorie, die mit ihrem universalistischen Anspruch versprach, ein Modell für alle Gesellschaften zu bieten. Unger zeigte am Beispiel Indiens anschaulich, wie die Modernisierungstheorie mit der Dynamik von Dekolonisation, Kaltem Krieg, technologischer Innovation und Globalisierung zusammenwirkte. Sowohl die Versuche der Modernisierung der Landwirtschaft, zum Beispiel die Entwicklung eines „Wunderreises“, als auch die Bemühungen zur „Bevölkerungskontrolle“ scheiterten jedoch. Doch trotz des Scheiterns hat sich die prophezeite Bevölkerungsexplosion nicht eingestellt, genauso wenig wie die Grüne Revolution die Armut auf dem Land behoben hat. Entsprechend kam es seit Ende der 1960er-Jahre zu einer Revision der Entwicklungspolitik innerhalb der beiden Stiftungen. Unger zeigte mit ihrem Vortrag, wie eine Krisenwahrnehmung, die Wahrnehmung wirtschaftlicher Ungleichheit und die daraus resultierenden Besorgnisse um die Stabilität des Westens mit einem Fortschrittsparadigma beantwortet wurden, das letztlich scheiterte. In der Diskussion wurde wiederum die enorme Bedeutung der Zäsur 1945 und des Kalten Krieges für die Politik der Stiftungen zu relativieren versucht und beispielsweise vergleichend nach der sowjetischen Entwicklungspolitik gefragt.

ANDREAS ECKERT (Humboldt-Universität zu Berlin) leitetet mit einer Intervention in die Abschlussdiskussion ein, in der er vor allem Probleme und Perspektiven einer Globalgeschichte anriss. So stellte er erstens die Frage, ob die globalgeschichtliche Debatte nicht immer noch von einem impliziten oder auch expliziten Europamodell geprägt ist, das dazu führe, dass das, was anders sei, erklärungsbedürftig ist. Zweitens sah er in der globalgeschichtlichen Debatte noch immer die Tendenz der Zuschreibung der „otherness of the others“ am Werk, die mit einer reduktionistischen Perspektive einhergehe und die kulturelle Zuschreibungen des Andersseins als Erklärung betrachte. Drittens unterstrich er Peer Vries Forderung, die Nationalstaaten als zentrale Akteure im globalen Kontext nicht abzuwerten. Viertens warnte er davor, das Reden über Ungleichheit nicht als ein Reden der Europäer zu untersuchen, da dieser Diskurs auch stark von Stimmen der sogenannten Dritten Welt geprägt sei. Fünftens gelte es, den kommerziellen Aspekt nicht zu unterschätzen. Ungleichheit eröffne auch immer neue Märkte. Sechstens betonte er das Spannungsverhältnis zwischen dem Bemühen, Rückständigkeit zu beseitigen und sie gleichzeitig zu perpetuieren und schließlich betonte er die bedeutende Rolle des Zweiten Weltkriegs für die Entwicklungspolitik. Er nannte sie eine „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“, insofern im Krieg eingeübte Denkweisen und Praktiken auf die Entwicklungspolitik übertragen worden seien.

In der lebendigen Abschlussdiskussion ging es um die Akteure der Entwicklungspolitik, beispielsweise die Frage, inwieweit diese nicht auch sehr stark von einem Netzwerk alter Kolonialmächte geprägt gewesen sei. Weiter wurde, als Antwort auf Eckarts Intervention, auf die Rolle des Idealismus, eine Aufbruchsstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen, die sich ja gerade in Nützenadels und Ungers Beiträgen deutlich gezeigt habe und die uns dazu zwinge, die Entwicklungspolitik historisch anders einzuordnen. Nachgefragt wurde nach den wirtschaftlichen Modellen, die der Entwicklungspolitik zugrunde lagen und erneut die wichtige Rolle von Institutionen für eine Globalgeschichte betont.

Die Sektion präsentierte zweifellos fundierte und innovative Perspektiven auf eine Globalgeschichte wirtschaftlicher Ungleichheit samt ihrer wichtigen politischen Kontextuierung. Dabei dominierten zumeist kulturgeschichtliche Perspektiven: Fragen nach der Wahrnehmung von Ungleichheit, der Konstruktion von Daten, der Konfiguration von Phänomenen wie Hunger als zentrale Themen der Politik. Eine Perspektive fehlte jedoch, sowohl in den Vorträgen als auch in der Diskussion: die Perspektive der Bevölkerung, derjenigen, die in Ungleichheit leben, die eben nicht nur „Objekt“ der Entwicklungspolitik sind, die Perspektive derjenigen, deren Lebensumstände in den Daten sichtbar gemacht werden. Alexander Nützenadel streifte in seinem Vortrag die Konsumenten, Corinna Unger reflektierte die „elitäre Position aus der Perspektive der Stiftungen“ – doch neben diesem kurzen Innehalten blieb diese Gruppe unsichtbar. Vielleicht eine weitere, zweifellos große Herausforderung einer Globalgeschichte der Ungleichheit.

Sektionsübersicht:

Peer Vries (Wien): Wachstum, Globalisierung und Ungleichheit in historischer Perspektive

Daniel Speich (Zürich): Abstraktion im Weltmaßstab. Wissen über Ungleichheit im Deutungssystem der Entwicklungsökonomie

Corinna Unger (Washington): „Levelling Up“: Amerikanische “Modernisierungspolitik” in der Dritten Welt am Beispiel der Rockefeller und Ford Foundation

Alexander Nützenadel (Frankfurt an der Oder): Feeding the World. Hunger als globales Problem seit dem Zweiten Weltkrieg