HT 2008: Der Schutz "bedrohter Völker" – Humanitäre Hilfe, Expertentum und die Konstruktion von Ungleichheit in der Moderne

HT 2008: Der Schutz "bedrohter Völker" – Humanitäre Hilfe, Expertentum und die Konstruktion von Ungleichheit in der Moderne

Organisatoren
Hubertus Büschel, Universität Potsdam; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Rempe, DFG-Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“, Humboldt-Universität zu Berlin

Claude Levi-Strauss’ „Traurige Tropen“ von 1955 dienten Sektionsleiter HUBERTUS BÜSCHEL (Universität Potsdam) als Einstieg in ein Thema, das wie kaum ein anderes dem Motto des diesjährigen Historikertages gerecht wurde, und das zugleich selbst innerhalb der Geschichte der Entwicklungshilfe bislang wenig Aufmerksamkeit erregte: der „Schutz bedrohter Völker“. Levi-Strauss geißelte in seinem Werk die Entwurzelung indigener Kulturen, die seiner Ansicht nach durch die „Berührung mit den Weißen“ ausgelöst wurde. Der „Schutz bedrohter Völker“ etablierte sich gegen Ende der 1960er-Jahre im Repertoire nationaler wie internationaler Entwicklungsapparate und bildete dabei einen irritierenden Kontrapunkt in dem ansonsten von Modernisierung, Industrialisierung und kultureller Anpassung dominierten Politikbereich. Anhand verschiedener Länder- bzw. Regionalstudien – Australien, Peru, Guatemala, Ostafrika – sowie anhand eines eher ideengeschichtlich orientierten Beitrags über Raphael Lemkins Genozidkonzept sollte sich die Sektion dem „Schutz bedrohter Völker“ aus historischer Perspektive widmen.

Nach den einleitenden Bemerkungen von Büschel eröffnete EWALD FRIE (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) die Sektion mit einem Vortrag über „Indigene, Geschichtswissenschaft und Nation in Australien nach 1945“ und näherte sich dem Thema insoweit indirekt an, als er eine eher wissenschaftsgeschichtliche Fragestellung verfolgte. Frie ging es darum aufzuzeigen, wann, wie und warum die Aborigines Einzug in die australische Geschichtswissenschaft erhielten. Er führte aus, dass die Aborigines bis weit in die 1950er-Jahre hinein innerhalb der australischen Historikerzunft nicht als Australier, sondern als deren Vorgänger galten, die in naher Zukunft aussterben würden, weil sie es angeblich nicht vermochten, sich an die Lebensweise des ‚modernen’ Australiens anzupassen. Eine historische Auseinandersetzung vor Ort blieb somit aus; Themen über das Verhältnis zum ehemaligen Mutterland Großbritannien dominierten die Disziplin. Erst nachdem sich Archäologen wie auch Anthropologen in den 1960er-Jahren den Aborigines angenommen hatten – erstere entdeckten deren grundsätzliche Adaptionsfähigkeit über die Jahrhunderte, während letztere beobachteten, dass Aborigines auch in Städten überleben könnten – wurde auch die australische Geschichtswissenschaft auf das „bedrohte Volk“ aufmerksam. Nach und nach setzte sich die Einsicht durch, dass Australien keineswegs „terra nulla“ war, sondern ein bewohntes Territorium, das erst gegen den Widerstand seiner Bevölkerung erobert werden musste. Von da an gewannen die Ureinwohner verloren gegangenes Terrain zurück. Sie fingen an sich zu organisieren, forderten besondere, indigene Rechte ein und grenzten sich ihrerseits bewusst vom ‚Australier sein’ ab. Zugleich pochten sie mit Erfolg auf ihr angestammtes Land, das sie sich über den Rechtsweg zurückholten. All das löste in der Geschichtswissenschaft im Laufe der 1990er-Jahre einen Leitbildwandel aus: Der Australier als frohgemuter „Mate“ wurde ganz nach dem Motto „Aborigines vor 2000, Briten vor 200, Vietnamesen vor zehn Jahren“ durch den „Voyager“ ersetzt. Der gesamte Prozess, so Frie in seinen Schlussbemerkungen, habe dazu geführt, dass Nationalgeschichte in Australien mehr oder minder obsolet geworden sei. Der Trend gehe zur „transnationalen, heimatlosen Geschichte“.

Der anschließende Beitrag von DIRK MOSES (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) näherte sich den „bedrohten Völkern“ dagegen aus eher ideengeschichtlicher Perspektive. Er ging der Frage nach, wann und nach welchen Kriterien der Jurist polnisch-jüdischer Herkunft Raphael Lemkin (1900-1959) im Zuge der Ausarbeitung seines Genozidkonzepts von „bedrohten Völkern“ sprach. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Völker waren und sind bedroht, wenn sie Opfer genozidaler Verfolgung werden. Insofern fragte sich Lemkin, der maßgeblich die UNO-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 mitgestaltete, ab wann von einem Genozid die Rede sein sollte. Moses machte anschaulich, dass Lemkins Argumentation in Anlehnung an den Anthropologen Bronislaw Malinowski auf die Bedeutung kultureller Symbole von Völkern abhob, deren Zerstörung er bereits zu genozidalen Handlungen zählte, weil ohne diese das Überleben solcher Völker ernsthaft gefährdet sei. Dennoch blieb Lemkin in seinen zahlreichen Schriften eine klare Definition zum Genozidbegriff schuldig, was letztlich auch daran lag, dass er eben kein Anti-Imperalist à la Fanon oder Sartre war, sondern eher ein liberaler Menschenrechtler, der im Völkerrecht das zentrale Zivilisierungsinstrument der Zukunft erkannte und Modernisierungsprozesse einschließlich kulturellen Wandel solange befürwortete, als solche in einem geordneten, humanitären Rahmen abliefen. Letztlich lief seine Konzeption darauf hinaus, dass es richtigen und falschen, guten und bösen kulturellen Wandel geben konnte, wobei letztere Prozesse von Lemkin als genozidal eingestuft wurden. In seinem Ausblick gab Moses einen instruktiven Überblick über die gegenwärtige Debatte, insbesondere zur UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker vom vergangenen Jahr, die von den klassischen Siedlerkolonien USA, Kanada, Australien und Neuseeland nicht ratifiziert wurde. Lemkin, so folgerte Moses abschließend, habe insofern den indigenen Völkern kaum einen Dienst erwiesen, weil er sein Genozidkonzept nicht eindeutig genug gegen Entwicklungsideologien gerichtet hätte und diese heute nach wie vor das Maß aller Dinge seien.

Mit dem nächsten Beitrag wandte sich die Sektion Südamerika zu. ULRICH MÜCKE (Universität Hamburg) überraschte mit seinem Eingangsstatement, dass es in Peru weder eine Ethnisierung des Politischen noch eine Debatte über ein „bedrohtes Volk“ je gegeben habe, obwohl die peruanische Geschichte durchaus alle Voraussetzungen für beide Phänomene mitbringen würde. Er ordnete die Wendung vom „Schutz der bedrohten Völker“ dem klassischen spanischen Kolonialismus zu, welcher bewusst zwei Rechtssphären einrichtete, eine für die sogenannten Indios und eine für die Angehörigen der Kolonialmacht. Nach der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff des „Indio“ verboten und durch den „Indigena“ ersetzt. Die Gewinner der Dekolonisation waren zunächst jene „Indigenas“, die sich gegen Allmachtansprüche des neuen unabhängigen Staates zu wehren wussten. Diese Konstellation führte dazu, dass bereits in den 1920er-Jahren Symbole indigener Völker in staatliche Zeremonien aufgenommen wurden, was so weit reichte, dass der Staatspräsident Reden in indigenen Sprachen wie zum Beispiel Quechua hielt, die dieser selbst nicht verstand. Obwohl der lang währende Konflikt zwischen einfacher Bevölkerung und Großgrundbesitz in den 1960er- und 1970er-Jahren von einem Stadt-Land-Gegensatz abgelöst wurde, münzte die Landbevölkerung ihre Forderungen bis heute nicht in Ansprüche von „Indigenas“ um. Mücke betonte zum Schluss, dass Ethnizität innerhalb der peruanischen Gesellschaft durchaus eine Rolle spiele, dass sie aber eben nicht politisch instrumentalisiert werde. Um eine abschließende Erklärung für dieses Phänomen war Mücke zwar verlegen. Er stellte aber die Hypothese auf, dass der peruanische Staat zusammenbrechen würde, sobald es zu einer Ethnisierung des Politischen käme – eine Einsicht, die offensichtlich auch die peruanische Bevölkerung verinnerlicht hat.

Der folgende Vortrag der Sozialwissenschaftlerin ANNIKA OETTLER (German Institute of Global and Area Studies Hamburg) widmete sich der Situation „bedrohter Völker“ in Guatemala. Oettler betonte, dass das mittelamerikanische Land insofern ein Sonderfall sei, als die „Indigenas“ mit ca. 60 Prozent Bevölkerungsanteil die Mehrheit gegenüber den in Guatemala „Ladinos“ genannten Menschen mit europäischer Abstammung stellten. Die Konstruktion von „Indigenas“ und „Ladinos“ folgte dabei sowohl rassischen wie kulturellen Kriterien. Seit dem antikommunistisch motivierten Putsch auf Betreiben des CIA im Jahre 1954 kam es nicht nur zu einer starken Militarisierung innerhalb der guatemaltekischen Gesellschaft, sondern ebenso zu einer verstärkten Verbreitung eines Ladino-Patriotismus, der die „Indigenas“ ausgrenzte. Die Folge war, dass sich diese in dem seit 1960 andauernden Bürgerkrieg überwiegend auf Seiten der Landguerilla sammelten. Seit dem 1996 ausgehandelten Frieden versucht Guatemala dagegen, sich als multiethnisches, plurilinguales und multikulturelles Land zu präsentieren. Oettler zog daraus den Schluss, dass „bedrohte Völker“ wie die „Indigenas“ Guatemalas durchaus zum Standortvorteil werden könnten, insbesondere für die Tourismusindustrie. Ob die diversen Maya-Gruppen die ihnen zugeschriebene Folklorerolle im Dienste höherer Bettenbelegungszahlen freiwillig annahmen oder gar selbst davon profitierten, blieb am Ende jedoch offen.

Sektionsleiter HUBERTUS BÜSCHEL (Universität Potsdam) ging in seinem abschließenden Beitrag über die Entstehung moderner Ungleichheiten in Afrika in den 1960er- und 1970er-Jahren auf die Parallelen zwischen „Entwicklungspolitik“ einerseits und dem „Schutz bedrohter Völker“ andererseits ein. Modernisierungsprozesse wurden ebenso wie die Erhaltungsmaßnahmen bestimmter Ethnien von Mechanismen der Gewalt und Exklusion begleitet und trugen letztlich beide zur Entstehung neuer „Unterschichten“ in Afrika bei, so die zentrale These Büschels. Er führte aus, dass bereits zu Kolonialzeiten Ethnien wie die Massai in Tansania oder die !Ko in Botswana Gegenstand erster ‚Entwicklungsbemühungen’ wurden und sich dieser Prozess nach der Dekolonisierung dieser Länder noch verstärkte. Büschel hob besonders hervor, dass dieser kulturelle Wandel von außen nach innen angelegt war. So wurde beispielsweise den Massai in Tansania im Jahre 1970 verboten, in Ämtern und Schulen in ihrer traditionellen Aufmachung zu erscheinen. Doch zur gleichen Zeit wurde Kritik an Modernisierungsprogrammen immer lauter, nicht zuletzt, weil sich die Meldungen über gescheiterte Projekte häuften.

Mitte der 1970er-Jahre setzte in diesen Ländern in Kooperation mit der UNO ein Umdenken ein – die betroffenen Ethnien bekamen den Status „bedrohter Völker“ verliehen und Reservate zugeteilt, eine Maßnahme, die bei den Massai und !Ko nicht eben auf Zustimmung stieß. Bald darauf zog es mehr und mehr Angehörige der Volksgruppen in die Städte, an deren Rändern Elendsviertel entstanden. Im ‚modernen Leben’ wurden offensichtlich größere Überlebenschancen gesehen als im abgeschirmten Reservat ohne Krankenhäuser und Schulen. Das Vorgehen, Völker als ‚entwicklungsunfähig’ einzuordnen und sie in Reservate einzuhegen, erwies sich somit als ebenso irreführend wie auf dem Reißbrett angelegte Modernisierungsprogramme.

SEBASTIAN CONRAD (Europäisches Hochschulinstitut Florenz) verzichtete in seinem abschließenden Kommentar darauf, die Vorträge nacheinander zu behandeln, und beschränkte sich auf einige übergreifende Bemerkungen. Zunächst plädierte er für einen sorgfältigen Umgang mit zentralen Begriffen der Sektion, insbesondere mit „den bedrohten Völker(n)“ oder auch „den Indigenen“ und führte aus, dass Konstruktionsprozesse, die hinter diesen aus den Quellen stammenden Terminologien stünden, nicht aus den Augen verloren werden dürften. Anschließend skizzierte Conrad ein dreigestuftes Spannungsfeld, innerhalb dessen er den „Schutz bedrohter Völker“ für eine vertiefte historische Auseinandersetzung angesiedelt sehen wollte. Erstens verwies er auf die Dialektik zwischen Kolonialismus bzw. innerer Kolonisierung einerseits und Modernisierung andererseits, die gerade für den „Schutz bedrohter Völker“ nicht selten charakteristisch zeichnete, und überlegte, ob nicht ein Vergleich zwischen Modernisierungsprozessen in der postkolonialen Welt und jenen im Europa des 19. Jahrhunderts fruchtbare Ergebnisse zeitigen könnte, wobei insbesondere die Parallelität von Nationalstaatsbildungen berücksichtigt werden müsste. Zweitens und eng damit verbunden hob Conrad das Spannungsverhältnis zwischen Homogenisierungsbemühungen im Zeichen der Nation auf der einen Seite und Toleranz unterschiedlicher Kulturen auf der anderen Seiten hervor, das beim „Schutz bedrohter Völker“ stets eine Rolle spielte, wobei die Einsicht zur Toleranz mitunter ökonomischen Motiven geschuldet war, was Conrad die „Inwertsetzung von Differenz“ nannte. Abschließend ging er auf die übergeordnete Bedeutung von Rasse und Kultur ein, die nach wie vor Praktiken der Ausgrenzung strukturieren würden und dadurch kulturalistische Argumentationsweisen gerade in der Debatte um den „Schutz bedrohter Völker“ weiterleben ließen.

Die zweigeteilte Diskussion zeitigte teils konzeptionelle Kritik, teils weiterführende Fragestellungen. So wurden einerseits konkretere, differenziertere Zugänge angemahnt, was sich unter anderem an Forderungen manifestierte, Binnenstrukturen „bedrohter Völker“ stärker zu berücksichtigen. Andererseits kam die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen jene Völker nicht mehr nur von den Kolonialmächten oder Entwicklungsstrategen als „schutzbedürftig“ angesehen wurden, sondern selbst dazu übergingen, für ihre kulturelle, soziale und politische Integrität einzutreten. Damit betonten beide Punkte letztlich die Agency „bedrohter Völker“, eine Dimension, die bedauerlicherweise allzu oft in der Geschichte der Entwicklungshilfe zu kurz kommt, was jedoch angesichts rar gesäter Quellen auch nicht weiter verwundern dürfte. Dessen ungeachtet hat die – im übrigen sehr gut besuchte – Sektion insgesamt den „Schutz bedrohter Völker“ aus historischer Perspektive sinnvoll abgesteckt und mit den wichtigsten übergreifenden historischen Entwicklungen in Beziehung gesetzt. Ein Anfang ist gemacht – nun bleibt zu hoffen, wie auch Sektionsleiter Büschel in seinem Resümee bemerkte, dass das vorhandene Potential des Themas künftig ausgeschöpft wird.

Sektionsübersicht:

Ewald Frie (Duisburg-Essen): Sind Aborigines Australier? Indigene, Geschichtswissenschaft und Nation in Australien nach 1945

Dirk Moses (Sydney / Köln / Berlin): Raphael Lemkin, “Threatened People” and the Concept of Genocide

Ulrich Mücke (Hamburg): Indianer und Nation. Die Kritik am Schutz indianischer Kultur in Peru

Anika Oettler (Hamburg): Guatemala – „Bedrohte Völker“ als Standortvorteil

Hubertus Büschel (Potsdam): „Aus der Steinzeit in die Moderne“ – Massai, Buschleute und „Pygmäen“ und die Entstehung moderner Ungleichheiten in Afrika in den 1960er und 1970er Jahren

Sebastian Conrad (Florenz): Kommentar