Jazz hinter dem Eisernen Vorhang

Jazz hinter dem Eisernen Vorhang

Organisatoren
Projekt „Jazz im ‚Ostblock“, Lehrstuhl für Geschichte Ostmitteleuropas, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin
Ort
Warschau
Land
Poland
Vom - Bis
26.08.2008 - 28.08.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Roland Borchers, Warschau

Ziel der Konferenz „Jazz hinter dem Eisernen Vorhang“ war es, eine historische Forschungslücke zu besetzen: die kulturelle und politische Rolle von Jazz in den Ostblockstaaten. Jazz war zu Zeiten des Kalten Krieges in den sozialistischen Staaten außerordentlich populär – und das als eine Musikform, die für den „american way of life“, für den politischen Feind, stand und steht.
Die internationale Tagung fand im Rahmen des Forschungsprojekts „Jazz im ‚Ostblock’. Widerständigkeit durch Kulturtransfer“ statt, das am Lehrstuhl für Geschichte Ostmitteleuropas des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin angesiedelt ist. Tagungsort war das Deutsche Historische Institut Warschau. Die polnische Hauptstadt war im Ostblock Dreh- und Angelpunkt nicht nur der osteuropäischen Jazzszenen, sondern überhaupt moderner, westlich orientierter Kultur. Seit 50 Jahren findet in Warschau das Jazz Jamboree Festival statt. Begleitet wurde die Konferenz nicht nur durch eine Jazzband zum Auftakt und zahlreiche Audioeinspielungen, sondern auch durch eine Ausstellung mit Fotografien von Marek Karewicz im Konferenzsaal. Die Bilder zeigen polnische Jazzmusikerinnen und –musiker in den Jahren 1958 bis 1979.

Die Einführung ins Thema übernahm JOSEF JAŘAB (Olmütz, Tschechien), indem er die Grundlinien der Entwicklung und Bedeutung von Jazz in unfreien Gesellschaften nachzeichnete. Mittels eines persönlichen Zugangs über Biographien von Jazz-Musikern wie Eddie Rosner, zeigte er die Politisierung des Jazz im Nationalsozialismus, Stalinismus und während des Ost-West-Konflikts in der östlichen Hälfte Europas auf. Jazz trage in sich immer etwas Befreiendes, betonte Jařab.
Inhaltlich war die Tagung in fünf Blöcke eingeteilt. Der erste Teil widmete sich dem Austausch zwischen den USA als „Homeland“ des Jazz und Europa bzw. Osteuropa. JOHN GENNARI (Vermont, USA) sprach über Jazz-Diskurse in den Vereinigten Staaten in Zeiten des Kalten Krieges. Durch die tiefe Verwurzelung des Jazz in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung habe der Freiheitsbegriff für diese Musikrichtung eine zentrale Rolle gespielt, so Gennari. Als internationale, interkulturelle Errungenschaft der USA eignete sich Jazz hervorragend für die Freiheitspropagierung im Kontext des Kalten Krieges. Akustisch sei der Eiserne Vorhang transparent gewesen, erklärte Gennari, und die US-Regierung habe Jazz bewusst als Mittel zum Kampf gegen den Kommunismus eingesetzt. Bedeutende Jazzmusiker schickte das State Department auf Tour nach Europa. Als Schlüsselfigur im Jazz-Transfer von West nach Ost sieht Gennari Willis Conover (1920-1996). Er war Moderator der Jazzprogramme von „Voice of America“, des US-Auslandsradios. Es startete 1942, fünf Jahre später nahm es Sendungen für die Sowjetunion auf. Insbesondere Conovers Jazzprogramme waren im Ostblock sehr beliebt, er selbst erreichte in Osteuropa beinahe Kultstatus und zog sich während der Konferenz wie ein roter Faden durch viele Vorträge.
An dieser Stelle setzte RÜDIGER RITTER (Berlin) mit seinem Beitrag über Jazz in westlichen und östlichen Radiosendern an. Er betonte, dass die Vereinigten Staaten Jazz nicht direkt zur politischen Provokation des Ostens genutzt, sondern vielmehr versucht hätten, einen alternativen „Way of Life“ aufzuzeigen. Auch Willis Conover habe nie politische Absichten gehabt, so Ritter, sondern lediglich Musik spielen wollen. Die Sowjetunion hatte dem nichts entgegenzusetzen. Nachdem die Verdrängung des Jazz im Stalinismus nicht den erwünschten Erfolg erbracht hatte, versuchte die sozialistische Kulturpolitik, den amerikanischen Einfluss ab Mitte der 50er durch Jazz-Eigenproduktionen zurückzudrängen. Konzerte, Festivals und Magazine wurden zugelassen, doch änderte dies nichts daran, dass die Szene sich weiterhin am Mutterland des Jazz, den USA, orientierte.
CLAIRE LEVY (Sofia) befasste sich mit Jazz im Kontext von Migration und interkulturellem Austausch am Beispiel des bulgarischen Jazzmusikers Milcho Leviev (geb. 1930). In den 1960er-Jahren hatte er erfolgreich Jazz und bulgarischen Folklore zusammengeführt und legte damit den Grundstein für Folk-Jazz, den er nach seiner Auswanderung in die USA 1970 auf der ganzen Welt verbreitete. Emigration, insbesondere in die Vereinigten Staaten, spielte für alle osteuropäischen Jazzszenen eine große Rolle. YVETTA KAJANOVÁ (Bratislava) versuchte eine semiotische Analyse von Jazzmusik anhand tschechischer und slowakischer Beispiele. Der Empfänger setze, so Kajanová, das, was er beim Jazz hört, also Rhythmus, Improvisation oder einzelne Passagen, in Verbindung mit bestimmten Konnotationen. Amerikanischer Jazz werde beispielsweise mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden, osteuropäischer mit Protest gegen den totalitären Kommunismus. Im Folgenden stellte Kajanová verschiedene Assoziationsketten vor, so sei beispielsweise Improvisation im Jazz ein Kennzeichen von Freiheit, Protest und Provokation.

Die zweite Themenrunde der Konferenz widmete sich der Sowjetunion und Polen. MARTIN LÜCKE (Bochum) ging auf die Bekämpfung des Jazz in der UdSSR in den Jahren 1945-1953 ein, MICHEL ABESSER (Freiburg) auf die Folgejahre bis 1964. Anfang der 1920er-Jahre, so Lücke, gelangte Jazz in die Sowjetunion und verbreitete sich unter Stalins Herrschaft in den 1930er-Jahren im ganzen Reich. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Jazz unerwünscht, er stand für die Kultur des Feindes, galt als Musik der Bourgeoisie. Die meisten bekannten Jazzmusiker wurden 1946 verhaftet. Trotzdem konnte Jazz überleben: Über die im Westen stationierten sowjetischen Truppen kamen Platten in die Sowjetunion, westliche Radiostationen übertrugen Jazzsendungen und im Baltikum existierte Jazz trotz Repression weiter. Mit Stalins Tod 1953 wurde die Musikrichtung wieder toleriert. Wie Michel Abesser erklärte, hatte dies mit einer zunehmenden Unterwanderung des staatlichen Kulturmonopols zu tun. Die staatliche Kulturpolitik suchte nach Möglichkeiten, die Jugend stärker einzubinden und weil Jazz sich nicht bekämpfen ließ, versuchte man, ihn im sowjetischen Sinne umzudeuten und eine Art „Sovetsky Dzhaz“ zu etablieren. Der erste Jazzclub in der Nachkriegszeit entstand 1958 in Leningrad.
MARTA DOMURAT (Warschau) ging auf die polnische Jazzpresse ein. Als mit der Tauwetter-Periode nach Stalins Tod die „Katakomben-Ära“ (Domurat) endete und erste Konzerte stattfanden, entstand 1956 in Danzig die Zeitschrift „Jazz“ und zehn Jahre später „Jazz Forum“ als Organ der Polnischen Jazz Förderation. „Jazz Forum“ wurde das führende Jazzmagazin im gesamten Ostblock und war in allen Staaten verbreitet. 25 Jahre lang gab es neben der polnischen Ausgabe auch eine englische, fünf Jahre lang zudem eine deutsche.
PIOTR BARON (Breslau), selbst erfolgreicher Jazzmusiker, zeigte anhand eines biographischen Zugangs Spezifika des polnischen Jazz’ auf. Via E-Mail hat er zahlreiche polnische Jazzmusikerinnen und – musiker befragt, welche Bedeutung für ihr Musikmachen Fragen wie Politik, Patriotismus oder Freiheit hatten und inwiefern traditionelle Volksmusik auf die Herausbildung eines polnischen Jazz gewirkt hatte. Laut Jazzpianist Andrzej Jagodziński gebe es eine polnische Jazzschule, womit er den Einfluss slawischer Elemente auf Jazzmusik vor einem europäischen Hintergrund bezeichnet.
Im dritten Referat zum polnischen Jazz versuchte IGOR PIETRASZEWSKI (Breslau) eine soziologische Analyse des Jazzmusikers anhand verschiedener Feldzuordnungen. Jazz trage den Konflikt mit Autoritäten, einem gegnerischen Regime und das Verlangen nach Freiheit in sich, so Pietraszewski.

Der dritte Abschnitt der Konferenz war dem Baltikum gewidmet. TIIT LAUK (Tallinn) berichtete über den estnischen Jazz in den Jahren 1940-1967. Während des Zweiten Weltkrieges verlor Estland, das vor dem Krieg eine ausgeprägte Jazzszene hatte, viele seiner Musikerinnen und Musiker, die nach Finnland und Schweden emigrierten. In den ersten Nachkriegsjahren konnte Jazz auf die Bühnen zurückkehren, ein estnisches Jazzorchester tourte gar durch die Sowjetunion. Nach dem Politbürobeschluss der KPdSU vom Februar 1948, Jazz als Musik der Bourgeoisie und des Imperialismus zu verdammen, konnte Jazz bis Ende der 1950er-Jahre nur noch im Untergrund existieren. Erst 1966 fand wieder ein richtiges Jazz-Festival statt, doch schon 1968 wurde es wieder verboten. Eine fast 20-jährige Phase des „Semi-Untergrund“ (Lauk) begann.
RUTH LEISEROWITZ (Berlin) sprach über litauischen Jazz am Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren, als Jazzmusik in der Sowjetrepublik wieder öffentlich in Erscheinung treten konnte. Besondere Bedeutung für den litauischen Jazz hatte das Café Neringa in Vilnius als zentraler Veranstaltungsort. Wie Leiserowitz hervorhob, zeichnete sich die litauische Jazzszene vor allem durch Multiethnizität aus und setzte sich aus russischen, jüdischen und litauischen Musikerinnen und Musikern zusammen. Die wichtigste litauische Band war das „Ganelin Trio“, das aus Wladimir Tarassow, Wladimir Tschekassin und Wjatscheslaw Ganelin bestand, die alle aus Russland stammten. Sie nahmen zahlreiche Platten auf, tourten durch die Sowjetunion und wurden auch im Westen rezipiert, unter anderem auf „Voice of America“.

Der vierte Themenblock beschäftigte sich mit der Vielfalt von Jazzszenen in Ostmitteleuropa. GERGŐ HAVADI (Budapest) untersuchte den ungarischen Jazz anhand von Erzählungen sowie Berichten von Spitzeln. Das Milieu war durchsetzt mit Agenten hinauf bis zu den prominentesten Jazzleuten. Wie die Berichte betonen, war die Jazzszene ein Sammelbecken für intellektuelle Opponenten. Havadi teilt den Zeitraum von 1945 bis zur Wende 1989 in vier Abschnitte ein. Das „Goldene Zeitalter“ seien die Jahre 1945-1949 gewesen, als es rund 50 Jazzbars in Budapest gab. Es folgte 1950-1961 das totale Jazz-Verbot und die Existenz im Untergrund oder in kleinen Nischen. Nach dem Volksaufstand 1956 wanderten viele Jazzmusikerinnen und –musiker aus. In den Jahren 1962-1968 kehrte Jazz auf die Bühne zurück. Die 1970er- und 1980er-Jahre waren gekennzeichnet durch den Zerfall der Jazzszene in zahlreiche Subkulturen.
In Rumänien wurde Jazz ebenfalls erst in den 1960er-Jahren wieder zugelassen, wie ADRIAN POPAN (Texas, USA) ausführte. Im Rahmen von Bemühungen der Kommunistischen Partei, die Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion auszubauen, wurde die Kulturpolitik gelockert und Jazz erlebte ein Revival. Doch blieb er außerhalb der offiziellen Kulturpolitik, des offiziellen Diskurses. Die Stärke des Jazz’ habe darin bestanden, dass er sich nicht im Sinne einer Gegenideologie gegen die kommunistische Weltanschauung stellte, sondern ideologiefrei war und vor allem frische Luft in den Ostblock brachte, so Popan.
PETR MOTYČKA (Bratislava) stellte seine Forschungen über die Jazzsektion in der Tschechoslowakei und die von ihr organisierten Prager Jazztage als „Plattform der Freiheit“ vor. Die Jazzsektion bestand in den Jahren 1971-1985 und zählte in den Anfangsjahren 3.000, später 8.000 Mitglieder. Sie organisierte die Prager Jazztage (1974-1982), die jedoch weit über eigentlichen Jazz hinausgingen, sondern alternativen Rock, Punkrock, Experimental und andere Musikrichtungen miteinbezogen. Zudem gab die Sektion eigene Publikationen heraus, die größtenteils nur für Mitglieder bestimmt waren und ebenfalls bald deutlich über Jazz hinausreichten, sondern moderne Kunst im weiteren Sinne betrafen. So gab es Hefte über Theater, Dadaismus, Surrealismus usw. Die Jazzsektion bot, so Motyčka, mit den Jazztagen und ihren Publikationen eine progressive Alternative zum offiziellen Kulturprogramm des Staates, der dies mit wachsender Unruhe beobachtete. 1980 wurde das Festival erstmals von staatlicher Seite abgesagt, 1982 fand es zum letzten Mal statt. Die Regierung löste die Jazzsektion auf, führende Personen wurden verhaftet. Wie Motyčka betonte, habe die Jazzsektion eine entscheidende Bedeutung für die Diskreditierung des kommunistischen Systems in der Tschechoslowakei gehabt.
CHRISTIAN SCHMIDT-ROST (Berlin) referierte über Wechselbeziehungen zwischen den Jazzszenen in der DDR und der Volksrepublik Polen in den 1950er-Jahren, verstanden als Kulturtransfer zwischen zwei sozialistischen Staaten. Jazz war nicht Bestandteil der staatlichen Kultur und somit auch nicht des offiziellen Kulturaustausch, der stattdessen informell stattfand. Eine Schlüsselrolle spielten dabei Kontakte zwischen den Jazzmagazinen „Posaune“ (Eisenach) und „Jazz“ (Danzig). Außerdem trafen sich Jazzleute auf Festivals und Jam-Sessions und machten Aufnahmen für Radio oder Fernsehen.

Der fünfte und letzte Teil der Konferenz widmete sich dem Verhältnis von Jazz und Kunst. GERTRUD PICKHAN (Berlin) sprach über vier Jazzfilme: die sowjetischen Produktionen „Festnacht“ (Karnavalnaya Noch) von Eldar Ryazanov (1956) und „Wir vom Jazz“ (My iz Jazza) von Karen Shakhnazarov (1983) sowie die polnischen Filme „Die unschuldigen Zauberer“ (Niewinni czarodzieje) von Andrzej Wajda (1960) sowie „Es war einmal der Jazz“ (Był Jazz) von Feliks Falk (1980). Die beiden älteren Filme entstammen der Periode, als Jazz im Ostblock florierte, während die Filme der 1980er-Jahre bereits dokumentieren, wie der Jazzmythos entstand – und gleichzeitig selbst dazu beitrugen. In Filmen erscheint Jazz oft, so der Frankfurter Soziologe Heinz Steinert, als Schnittstelle zwischen Musik und Lifestyle, was auch für ost- und ostmitteleuropäische Kinoproduktionen gilt.
MARINA DMITRIEVA (Leipzig) thematisierte das Verhältnis von Jazz und Kleidungsstil („Jazz and Dress“), wobei sie das Aussehen als Visualisierung von Jazz versteht. In Sowjetrussland, aber auch in anderen Blockstaaten, bildete sich in den 1950er- und 1960er-Jahren ein an modernen, westlichen Vorbildern orientierter Jugendstil heraus, deren Anhänger als „Stilyagi“ bezeichnet wurden. Sie stammten größtenteils aus der Oberschicht. Gemeinsam war ihnen eine positive Einstellung zum Westen, zu den USA. Ihre Kleidung war farbenfroh und meist zwei Größen zu groß. Der spezielle visuelle Code ermöglichte eine Unterscheidung, wer zu der Gruppe gehörte bzw. wer nicht. Es bildete sich ein ganzes Netz von Treffpunkten heraus, von Kneipen, Cafés, bestimmten öffentlichen Plätzen oder privaten Wohnungen. Dreh- und Angelpunkt der „Stilyagi“ war Polen, dessen Kultur-, Kunst- und Jazzmagazine im ganzen Ostblock verbreitet waren.
KARL BROWN (Texas, USA) setzte sich mit einer ähnlichen Frage auseinander, bezog sein Referat aber auf Ungarn in den Jahren 1948-1956, als Jazz aus der ungarischen Öffentlichkeit verbannt war. Das Verbot sei oft gebrochen worden, bis spät in die Nacht wurde zu westlicher Musik getanzt, so Brown. Vor allem die junge Generation war vom Jazz angezogen und setzte sich durch auffällige Kleidung und einer Orientierung am Westen von der Gesellschaft ab. Gerade junge Männer der Arbeiterklasse wendeten sich auf diese Weise vom Regime ab. Brown verortete die Ursache dieses Phänomens in einem Generationenkonflikt, der sich an der Schnittstelle zwischen Faszination für Amerika und Widerspruch gegen das Regime entflammte. Die Träger dieser Gruppe bezeichnete er als „Hooligans“, ein Begriff, der in der anschließenden Diskussion auf Ablehnung stieß, weil er mit brutalen, randalierenden Fußballfans konnotiert ist. WIEBKE JANSSEN (Halle) verwendete in ihren Ausführungen zur Rock’n’Roll-Bewegung in der DDR die zeitgenössische Bezeichnung „Halbstarke“.
MICHAEL DÖRFEL (Berlin) sprach über die Verbindung von Lyrik und Jazz am Beispiel des ostdeutschen Plattenlabels „Amiga“. In den Vereinigten Staaten tauchten derartige Kombinationen bereits in den 1920er-Jahren auf und in der BRD Anfang der 1950er-Jahre, während in der DDR die erste derartige Aufnahme 1962 unter dem Titel „Negerlyrik – Negermusik“ erschien. Sehr populär waren in der DDR die Aufführungen von „Jazz und Lyrik“, die dann durch die Reihe „Lyrik – Jazz – Prosa“ abgelöst wurde. Die Shows, die Jazz und Literatur kombinierten, fanden in den Jahren 1963-1967 fast hundertmal statt, vor allem mit Manfred Krug als Hauptinterpret. Laut Dörfel wurden auf diese Weise sowohl Lyrik als auch afrikanische bzw. afroamerikanische Literatur einem breiten Publikum in der DDR bekannt. Ende der 1960er-Jahre verlor Jazz durch neue Musikrichtungen seine soziale, kulturelle und literarische Bedeutung in der DDR.

Im Resümee fasste BERT NOGLIK, deutsch-polnische „Jazz-Koryphäe“ und Träger des Silbernen Verdienstkreuzes Polens, die einzelnen Beiträge zusammen und ordnete sie in den Kontext des mittel- und osteuropäischen Jazz ein. Weitere Fragen kamen in den Diskussionsrunden zur Sprache. So merkte John Gennari an, dass es ein Forschungsdefizit zu Frauen im Jazz gebe. Er verwies auf die Monografie „Swing shift“ von Sherrie Tucker über Frauen, die in den USA in Swing-Bands spielten, da die männlichen Musiker im Krieg in Europa waren.1 Zudem sei die Verbindung von Religion und Jazz eine spannende Frage. Es wurde angeregt, das Augenmerk mehr auf den transnationalen Transfer zu richten und sich von der engen Vorstellung eigenständiger nationaler Jazzszenen abzulösen. Eine lebhafte Debatte gab es über die intellektuelle Diskreditierung von Jazz, einerseits durch Maxim Gorki für den östlichen Diskurs 2, andererseits durch Theodor Adorno im Westen 3, und inwiefern deren Argumentation vergleichbar wäre. Gertrud Pickhan erklärte in ihrem Schlusswort, dass es noch zahlreiche unbeantwortete Fragen zum Jazz im Ostblock gebe und die Forschung erst am Anfang stünde.
Im Frühjahr 2009 wird, als Auftakt einer umfangreicheren Reihe, ein Sammelband mit Beiträgen aus der Konferenz erscheinen.

Kurzübersicht:

Josef Jařab: Marching Regimes and Syncopating Drummers: The Stories of Jazz in Unfree Societies

1. USA - Europe
John Gennari: The Other Side of the Curtain: U.S. Jazz Discourse, 1950s America, and the Cold War
Rüdiger Ritter: Americanization and Counter-Americanization – Jazz in Western and Eastern Radio Stations
Claire Levy: East and West in Dialogue? On the Intercultural Aspects of Jazz History
Yvetta Kajanová: Additional Components and Components of Meaning in Jazz in the Period of Communism Exemplified on Czech and Slovak Jazz

2. Two ways of jazz: Poland and SU
Martin Lücke: The campaign against the jazz in the USSR – 1945-1953
Michel Abesser: Jazz in the Soviet Union 1953 and 1964 – Cultural Opening, Nostalgia and Isolation
Marta Domurat: Jazz - Press in the People's Republic of Poland. The significance of "Jazz" and "Jazz Forum" in the past and in the present
Piotr Baron: Development of „national styles“ in Jazz
Piotr Pietraszewski: To be a Jazzman in Poland. A sociological Analysis

3. Between East and West: The Baltics
Tiit Lauk: Estonian Jazz under the Conditions of Soviet Power in 1940 - 1967
Heli Reimann: Developing Musical Identity under Conditions of Soviet Regime: A Portrait of Jazz Artist Lembit Saarsalu
Ruth Leiserowitz: Jazz in Soviet Lithuania – a nonconformist niche

4. Variety of East Central European Jazz scenes
Gergő Havadi: An individual subculture in Narratives and reports of spies. Hungarian Jazz in Socialist Period
Adrian Popan: Jazz Revival in Romania 1964 - 1971
Petr Motycka: Jazz Section: Platform of Freedom in CSSR (Prazhske jazzove dny and publishing acitivities)
Christian Schmidt-Rost: Freedom within limitations – interplay of the PRP’s and GDR’s jazz scene

5. Jazz and Art
Gertrud Pickhan: Visualizations of Jazz: Soviet and Polish Film
Marina Dmitrieva: Jazz and Dress. Labukhi and Stilyagi in Soviet Russia of the 50s and 60s
Wiebke Janssen: Rock’n’Roll – „Halbstarke“ in both German states in the 1950ies
Karl Brown: Dance Hall Days: Jazz and Hooliganism in Communist Hungary, 1948-1956
Michael Dörfel: Negro lyrics and Negro music. The Jazz and Literature discs of AMIGA
Bert Noglik: Résumé

Anmerkungen:
1 Sherrie Tucker, Swing shift. “Aall-girl” bands of the 1940s, Durham 2001.
2 Maxim Gorki, O musike tolstych, in: Pravda, 18.04.1928, S. 4; Übers. in: Frederick Starr, Red and hot. Jazz in Russland von 1917 – 1990. Wien 1990.
3 Adorno verfasste mehrere Schriften über Jazz. Die erste erschien 1936 unter dem Titel „Über Jazz“ in der Zeitschrift für Sozialforschung. Nachdruck in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1982, S. 74-108.


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