Jahrestagung des GWZO Leipzig: Travelling Concepts. Denkweisen und ihre (politischen) Übersetzungen im 20. Jahrhundert

Jahrestagung des GWZO Leipzig: Travelling Concepts. Denkweisen und ihre (politischen) Übersetzungen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Dietlind Hüchtker, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Alfrun Kliems, Geisteswissenschaftliches Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2007 - 09.11.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Sarah Lemmen, GWZO Leipzig

Wieso passen weder der russische Mittelstand noch die berufstätige Frau um 1900 in das deutsche Bürgertumsmodell? Was bringen postkoloniale Theorien für die Osteuropaforschung? Der Schwierigkeiten, die aus der Anwendung von Theorien auf einen neuen Gegenstand entstehen, sind sich – disziplinenübergreifend – die meisten Forscher und Forscherinnen bewusst, die sich mit „nicht-dominanten“ Regionen oder Forschungsfeldern beschäftigen. Das gilt für das Feld Ostmitteleuropa wie für den Bereich der Geschlechtergeschichte gleichermaßen. Die gängigen, meist für andere Bereiche konzipierten Modelle zwicken, weil sie sich eben nicht eins zu eins dem neuen Gegenstand überziehen lassen. Wie sich die daraus folgenden Spannungen produktiv nutzen lassen, wurde auf der Jahrestagung des GWZO zu travelling concepts diskutiert.

Die Organisatorinnen Dietlind Hüchtker und Alfrun Kliems fächerten in der Einführung verschiedene Aspekte des travelling concepts, des Reisens oder auch des Übersetzens auf. Sie nahmen das Wandern von Wissen, Konzepten und Begriffen in den Blick – und das sowohl geographisch, zeitlich und kulturell wie auch zwischen den Disziplinen. Sie beschrieben mit Edward Said, Joan W. Scott und Mieke Bal travelling concepts weniger als Modell oder wissenschaftliche Handlungsanleitung denn als analytische Praxis, um über Disziplinen hinweg diskutieren zu können.

Ausgehend von der Beobachtung der Organisatorinnen, dass diverse Theoriekonzepte, die nach der Wende in die postsozialistischen Wissenschaftslandschaften getragen wurden und werden, dort ihren Ausgangspunkt genommen hatten und damit gewissermaßen als „Re-Importe“ gelten können, lag der Fokus der Konferenz nicht nur auf dem Wandern von theoretischen Konzepten in Raum und Zeit, sondern insbesondere auf dem zwischen „Ost“ und „West“. Dabei ging es nicht um lineare Ost-West-Beziehungen. Vielmehr sollten am Beispiel eines regionalen Schwerpunkts Fragen der Vernetzungen und Übersetzungen verdeutlicht werden.

Doris Bachmann-Medick (Göttingen) hob in ihrem Eröffnungsvortrag „Konzepte in Bewegung“ die Relevanz der Regionalwissenschaften für die Spezifizierung kulturwissenschaftlicher Theoriekonzepte hervor. Sie beschrieb dies am „Reisen“ des Begriffes „Hybridität“ – an seinem Weg von den verschiedenen Umdeutungen seit dem 19. Jahrhundert über seine Schlüsselstellung im postkolonialen Diskurs bis hin zu seiner Aneignung in westeuropäischen Kontexten. Gegen die Abstraktheit und methodologische Ungenauigkeit des sich in ständiger Bewegung befindenden Terminus setzte Bachmann-Medick auf eine stärkere Konkretisierung, indem sie ihn durch die Kategorie der „Übersetzung“ lokal zu fassen suchte und betonte, dass erst über eine Lokalisierung in den je unterschiedlichen kulturspezifischen Ausprägungen die Bedeutung von Hybridität auszumachen sei. Deswegen sei es notwendig, dass auch in den Kulturwissenschaften, so Bachmann-Medick weiter, kulturelle Sesshaftigkeit und regionale Kompetenz ausschlaggebende Bedeutung erhielten. Zu fragen ist, welche lokale Praxis hinter den „reisenden“ Konzepten liegt. Travelling concepts sollten also nicht als „Verkehrswissenschaft“, sondern als „home concepts of translation“ verstanden werden.

Um der Verquickung von reisenden Konzepten und lokalen, kontextgebunden Übersetzungen gerecht zu werden, wurden in die anschließende Diskussion die Begriffe „Glokalisierung“ bzw. „glokales Heimatverständnis“ eingebracht, die nicht nur Verbindungen zwischen globalen Vernetzungen und lokalen Übersetzungen ansprechen, sondern gleichzeitig einen neuen Blick auf die Frage nach „Ursprung“, „Original“ und „Übersetzung“ zulassen, da im Begriff des „Glokalen“ eine relationale Beziehung zwischen lokal und global enthalten ist.

Einige Vorträge beschäftigten sich explizit mit dem „Wandern“ von Osteuropa nach Westeuropa und den damit einhergehenden Implikationen. Rainer Grübel (Oldenburg) stellte Überlegungen zur „Migration“ von Denkfiguren und Modellen an. Sie würden sich „spiralförmig“ zwischen verschiedenen kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten bewegen und jeweils eine Neuverortung und Veränderung der Ausgangskonzepte bewirken. So verfolgte er Bachtins Konzept der „Dialogizität“ auf seiner Reise nach Frankreich, das dort von der bulgarischen Philosophin Julia Kristeva durch ein „produktives Missverständnis“ in das Konzept „Intertextualität“ transformiert, dann in den USA (Harold Bloom / Paul de Man) als „intertextuality“ weiter entwickelt und wieder nach Mittel- und nach Osteuropa (re-)importiert wurde. Miglena Nikolchina (Sofia) dagegen untersuchte, wie die Hegelsche Grundkategorie der (dialektischen) „Aufhebung“ in verschiedenen Übersetzungen oder Kontexten seine Bedeutung verändert hat. In ihrem Vortrag ernannte sie die „Aufhebung“ zum reisenden Akteur und zeigte seine Bedeutungsverschiebungen im Russischen, Französischen und Englischen im 19. und 20. Jahrhundert. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach der „Unübersetzbarkeit“ von Konzepten oder Begriffen bzw. nach „Original“ und „Kopie“ aufgeworfen. Das Spektrum reichte von der Überlegung, inwiefern Übersetzungen als Gewaltanwendung am Ursprungstext zu verstehen seien, bis hin zu der These, dass Übersetzungen von Theorien und Konzepten (auch) ein „neues Original“ schaffen können. Als ein zentrales Thema der Übersetzung erweist sich offenbar die Frage nach dem „Original“, die nicht nur aus der kulturalistischen Perspektive diskutiert wurde.

Auf die Verdrängung und Überblendung des Vergessens durch das Wandern von Konzepten machte Katrin Steffen (Halle/Berlin) aufmerksam. Sie betrachtete die Rezeptions- und Übersetzungsprozesse, die das Werk des polnischen Mediziners Ludwik Fleck durchliefen, das im Lemberg der 1920er Jahre entstand und in Warschau und Israel weiter geführt wurde. Von seinen Ideen zur Kontextgebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse profitierte Thomas S. Kuhn, der darauf sein Konzept des Paradigmenwechsels in den USA aufbaute, ohne dass auf Fleck noch Bezug genommen wurde. In den 1970er Jahren leitete Kuhn damit eine Wende im wissenschaftlichen Denken ein. Heute wiederum gewinnt das vergessene (durch Kuhn überblendete) Flecksche Konzept in der wissenschaftlichen Theorie erneut an Aktualität.

In der Diskussion um die Verschiebungen und Relektüren von Begriffen und Konzepten auf Wanderschaft kristallisierten sich von Beginn an zwei Schwerpunktbereiche heraus, nämlich zum einen das Wandern von postkolonialen Theorien und zum anderen das von Geschlechterstudien nach Ost- und Ostmitteleuropa sowie deren dortige Neuverortung. Im Grunde geht es hierbei eher um Prozesse der Rezeption von Konzepten, ihrer Verweigerung oder ihrer Anwendbarkeit durch zwei gegenwärtig in der Forschung wesentliche Ansätze.

Ist Ostmitteleuropa eine „erst zu semantisierende Leerstelle“, wie Stefan Simonek (Wien) zur Diskussion stellte? Er zeigte, wie der postkoloniale Ansatz auf seiner Wanderung nach Ostmitteleuropa dekontextualisiert und übersetzt wurde. Der Ansatz erweist sich als methodologische Schnittstelle zwischen „Übersetzung“ und Dekontextualisierung, an der sich „autochthone“, mit Mitteleuropa verbundene theoretische Ansätze (Zoran Konstantinović / Moritz Csáky / Peter Zajac) und außereuropäische postkoloniale Theorien (Edward Said / Homi Bhabha) kreuzen, verbinden, neu verorten.
Eva Hausbacher (Salzburg) konzentrierte sich auf den russischen Kulturraum und beschrieb die Übersetzungsprozesse der postkolonialen Theorien anhand vielfältiger Debatten, die von der Frage nach der „Qualifizierung“ Russlands für diesen Diskurs (Margaret Dikovitskaja / Ekaterina Dyogot) über die Behauptung der Unmöglichkeit der Übertragung auf den (sowjet-) russischen Kontext (Boris Groys) bis zu ihrer Aufnahme in die transnationale Migrationsliteratur (Marija Rybakova, Marina Palej, Julia Kissina) reichen. Dabei taucht Russland, je nach Perspektive, entweder als Subjekt oder als Objekt des Orientalismus auf oder auch beides zugleich.

In Bezug auf das Reisen der Gender Studies nach Mitteleuropa und deren Einbettung bzw. Rekontextualisierung in einem neuen kulturellen Rahmen ging Martina Kampichler (Brünn) von einer Kritik an der „feminist ‚east/west’ debate“ (Marina Blagojevic) aus. Dabei zielte sie auf die Aufbrechung der „Ost–West-Dichotomie“, die die Sicht auf alternative oder auch überlappende Positionen sowie das Anbinden an lokale Bedingungen hemme und zugleich das „Reisen“ von feministischer und Gender-Theoriebildung in neue Situationen und Kontexte erschwere. Um eine Analyse der Mechanismen zwischen den involvierten Kontexten jenseits einer „Ost-West-Dichotomie“ zu ermöglichen, schlug Kampichler das Konzept des „situierten Wissens“ von Donna Haraway vor, das auf der Offenlegung der Perspektivität der Wissensproduktion basiert.

Therese Garstenauer (Wien) betonte dagegen in ihrem Vortrag zur Frauen- und Geschlechterforschung in der Sowjetunion in den 1990ern gerade die Polarisierung zwischen Ost und West. Sie hob die Ungleichzeitigkeiten der voneinander isolierten Entwicklungen im Osten und im Westen hervor, die ihres Erachtens den Transfer wesentlich erschwert haben. Führt man sich die unterschiedlichen Thesen dieser beiden Vorträge vor Augen, so wird deutlich, wie wichtig es ist, die verschiedenen Ebenen des Reisens – theoretischer, aber eben auch praktischer Art – zu berücksichtigen. So behindert die „Ost-West-Dichotomie“ einerseits eine komplexe Analyse, indem sie immer wieder auf sich selbst verweist, andererseits verkennt ihre Ignoranz die unterschiedlichen Bedingungen verschiedener Kontexte, und damit die Frage, inwiefern Reisen überhaupt möglich ist.

Die Metapher des travelling concepts gilt für das Reisen der untersuchten Theorien und auch für die Arbeit über sie. Sowohl Forschungsgegenstand als auch Forschungsmethode, sowohl Forschender als auch Erforschtes sind am Wandern beteiligt. Nicht zuletzt ist das disziplinenübergreifende Verständlichmachen eines Sachverhalts als Übersetzung zu verstehen.

In der Diskussion wurde dies als Gratwanderung deutlich. Wenn gerade im Rahmen von area studies, in diesem Fall der Ost(mittel)europaforschung, das Globale im Lokalen verankert werden soll, besteht immer wieder das Risiko der Essentialisierung, des „Rückfalls“ in dichotomische Automatismen (z.B. Ost-West). Dass dies auf der Konferenz weitestgehend umschifft wurde, ist als Erfolg zu verbuchen. Für die interdisziplinäre Ostmitteleuropaforschung können Konferenz wie Diskussion als wegweisend gelten.

Programm

Eröffnungsvortrag:
Doris Bachmann-Medick (Göttingen): Von der Hybridität zur Übersetzung. Konzepte in Bewegung

Rainer Grübel (Oldenburg): Dialogizität vs. Intertextualität. Transformationen eines Konzepts durch (Re-)Migration

Mirja Lecke / Alfred Sproede (Münster): Der Weg der Postcolonial Studies nach und in Osteuropa

Stefan Simonek (Wien): Dritter Raum, Leerstelle, blinder Fleck. Mitteleuropa als methodologische Schnittstelle autochthoner und „übersetzter“ Theorieangebote

Ute Raßloff (Leipzig): Text, Vernetzung und die Modellierung Ostmitteleuropas als „plurizentraler Raum“

Eva Hausbacher (Salzburg): Postcolonial á la russe. Zur Frage der Übersetzung der Postcolonial Studies in den russischen Kulturraum

Martina Kampichler (Brünn): Feministische Theoriebildung im Zeitalter des Postkommunismus im Blickwinkel von Frames, Framings und Frame Disputes

Robert Born (Leipzig): Budapest und die Entwicklung des sozialgeschichtlichen Ansatzes in der Kulturgeschichte

Katrin Steffen (Halle/Berlin): Die Bedingtheit wissenschaftlichen Wissens: Zum Übersetzungsprozess des Werkes von Ludwik Fleck

Miglena Nikolchina (Sofia): Between Irony and Revolution. The Case of Aufhebung

Therese Garstenauer (Wien): Isolation, Tradition und Transfer. Frauen- und Geschlechterforschung in der Sowjetunion und in Russland

Andrea Pető (Budapest): New Differences? Competing Canonization of History of WW II. The Case of Female War Criminals in the Post Communist Historiography

Helga Mitterbauer (Graz): Postkoloniale Konzepte in der Forschung kultureller Transferprozesse

Kontakt

Sarah Lemmen,
GWZO Leipzig
Luppenstrass 1b
04177 Leipzig
Email: lemmen@uni-leipzig.de


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