Jahrgang 1943 – zu den Konturen einer Historikerkohorte

Jahrgang 1943 – zu den Konturen einer Historikerkohorte

Organisatoren
Christof Dipper, Heinz Duchhardt, Barbara Stambolis
Ort
Hofgeismar
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.09.2008 - 05.09.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Christof Dipper, TU Darmstadt / FRIAS-School of History, Freiburg

Mit der Konferenz „Jahrgang 1943 – zu den Konturen einer (westdeutschen) Historikerkohorte“ wurde ein gleichlautendes, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ab August 2008 mit einer eigenen Stelle finanziertes Projekt für Beteiligte und Experten zur Diskussion gestellt: Es geht um das Kollektivporträt eines zahlenstarken Historikerjahrgangs, wobei aus pragmatischen Gründen nur die in Spitzenpositionen gelangten Angehörigen berücksichtigt werden konnten. Er weist weder eine Frau auf noch finden sich Angehörige dieses Jahrgangs in der DDR, die die genannten Kriterien erfüllen. Die Grundlage stellen 44 Interviews dar (d.h. knapp hundert Prozent der Kohorte), die zwischen September 2007 und Februar 2008 von Barbara Stambolis durchgeführt wurden. Eingeladen waren deshalb alle Interviewten sowie Experten aus dem In- und Ausland.

Dass sich sämtliche Historiker eines Jahrgangs für ein Kollektivporträt über Werdegang und Stellung im Fach befragen lassen, ist neu. Dass dies der Jahrgang 1943 tut, ist bemerkenswert, denn er unternahm im Gegensatz zu den „45ern“ (d.h. jener Kohorte um 1930 geborener, politisierter Wissenschaftler, für die ‚1945’ der berufsrelevante Bezugspunkt ist), zu denen viele seiner Lehrer zählen, bislang nichts zu seiner Selbsthistorisierung und steht darum bislang auch kaum im Blickpunkt wissenschafts-, geschweige denn wissenschafts- und generationengeschichtlichen Interesses.

Die Tagung bestand aus vier Themenblöcken, die die Rahmenbedingungen der um 1943 Geborenen ganz allgemein mit den Biographien dieses Jahrgangs in Verbindung bringen sollten. Ungefähr gleichaltrige ausländische Historiker waren um vergleichende bzw. kontrollierende Kommentare gebeten worden. Generationsexperten begleiteten die Tagung.

Nach einleitenden Berichten zu Entstehung und Ziel dieses Vorhabens durch CHRISTOF DIPPER (Darmstadt/Freiburg) und HEINZ DUCHHARDT (Mainz) berichtete BARBARA STAMBOLIS (Darmstadt/Münster) über den Stand des Projekts und die Ergebnisse einer ersten Auswertung der von ihr geführten Interviews. Zu diesen zählen erstens, keineswegs verwunderlich, die enorme emotionale Bedeutung der Nachkriegszeit (zwei Drittel hatten ihre Väter ganz oder für viele Jahre verloren) für die eigene Biographie, zweitens der hohe Anteil sozialer Aufsteiger, drittens die deutliche Distanz zum studentischen Protest im Jahre 1968, viertens die bedeutsame Rolle der neugegründeten Universitäten für die eigene Karriere und fünftens natürlich die Tatsache, dass die Beschäftigung mit der eigenen Person, zumal im Zusammenhang mit dem gewählten Beruf, für die allermeisten ganz neu war. Dass sich unter den 1943 geborenen Historikern bzw. im untersuchten Ausschnitt keine Frau befindet, war Gegenstand späterer Erörterungen. Zunächst kommentierte der das Projekt begleitende JÜRGEN REULECKE (Gießen). Er fasste seine Erkenntnisse in der These zusammen, entgegen den Behauptungen des Generationenforschers Bude finde sich diese Kohorte nicht im Kürzel „1968“ wieder, sondern als Zwischengeneration. Dieser Deutungsvorschlag spielte in den kommenden Sitzungsblöcken eine maßgebliche, kaum bestrittene Rolle.

PETER SCHULZ-HAGELEIT (Berlin) zählte zunächst die Kristallisationspunkte einer psychohistorischen Retrospektive ganz allgemein auf, betonte dann die in der Regel übersehene oder unterschlagene Bedeutung von Emotionen in der Wissenschaft und stellte zum Schluss sein Konzept des „Durcharbeitens“ vor, das die lebensweltlichen Zusammenhänge, worunter er das eigene Denken und Empfinden verstand, des wissenschaftlichen Arbeitens bewusst machen möchte. INSA FOOKEN (Siegen) diskutierte den Spannungsbogen, der das Leben der männlichen 1943er aus der Sicht der Psychogerontologie kennzeichnet, wobei sie gleich einräumte, dass die Forschung dazu noch ganz am Anfang stehe. Auch sie veranschlagte die Bedeutung von Kriegs- und unmittelbarer Nachkriegszeit hoch und hielt die an diesen Jahrgang damals gestellten hohen Erwartungen (‚neues Leben in Ruinen’) für eine lebenslängliche Belastung, die womöglich auch noch das Altwerden erschwere.

Den zweiten, mit „Wege in den Beruf“ überschriebenen Themenblock leitete ADELHEID VON SALDERN (Hannover) mit Ausführungen zu Gender und Generation – ein bislang unzureichend wahrgenommener Zusammenhang, wie sie betonte – ein. Beispiele für das unterschiedliche Erleben der 1950er und 1960er Jahre für Töchter und Söhne ließ sie in einen Erklärungsversuch münden, weshalb in der fraglichen Kohorte keine Frau zu finden ist: Weil angesichts des Endes des Universitätsausbaus Mitte der 1970er Jahre die Konkurrenz viel zu groß war, um in der durchaus männerbündisch funktionierenden Universität eine Chance zu haben; auf die weiblichen Karrierevorstellungen und die daraus abgeleiteten spezifischen Bedürfnisse an Förderung und Stellen nehme die Universität bis heute viel zu wenig Rücksicht. Die weitere, von Barbara Stambolis geleitete Aussprache kreiste um vier von ihr vorgeschlagene Schwerpunkte: Karriere zwischen Zufall und Können, Verhaltensmuster nach der Berufung auf eine Professur, Funktionen jenseits der Professur und schließlich Bilanz der Lebensarbeit. So gut wie alle Anwesenden erlebten es zum ersten Mal, dass – und zwar völlig zwanglos – Biographisch-Persönliches öffentlich vorgestellt und in Beziehung zu anderen Biographien gestellt wurde, damit Spezifisches und Verallgemeinerbares gegeneinander abgegrenzt werden konnten. Fraglos eine Premiere überhaupt, die auch dazu diente, Stambolis’ Befunde abzusichern und zu erweitern.

Der dritte Themenblock galt der Rolle des 43er-Jahrgangs in der Geschichtswissenschaft, und zwar sowohl aus der Sicht der Betroffenen als auch der ausländischen Kommentatoren. Dipper griff Reuleckes Deutungsvorschlag auf und sprach von einer Brückengeneration in vierfacher Hinsicht. Erstens wissenschaftsgeschichtlich, denn von den 43ern lasse sich – mit einer gewissen Ausnahme, die Alltagsgeschichte betreffend, – keine methodische Wende im Fach verbinden. Die sozialgeschichtliche Erweiterung war nicht seine Erfindung, ebenso wenig die kulturalistische Wende. Zweitens universitätsgeschichtlich. Dieser Jahrgang wurde in der Ordinarienuniversität groß, ihn begleitete dann aber sein eigentliches Berufsleben die Gruppenuniversität, die derzeit, also wenn er in den Ruhestand tritt, von der Präsidentenuniversität abgelöst wird. Drittens professionell. Er erlebte noch (und konnte dies wohl noch selbst leben) das ganz auf den Lehrstuhlinhaber zugeschnittene, kontrollfreie Berufsdasein, doch ist offensichtlich, dass sich die NachfolgerInnen auf seinen Lehrstühlen vornehmlich an ihren quantifizierbaren Leistungen in Lehre und Forschung messen lassen und ihren Beruf daher ganz anders verstehen und organisieren müssen. Viertens materiell. Zwar genoss dieser Jahrgang nicht mehr die Privilegien der Ordinarien hinsichtlich Besoldung und Emeritierung, aber er ist unendlich viel besser dotiert als seine NachfolgerInnen, die als Geisteswissenschaftler wenig Chancen haben, von den denkbaren Vorteilen der W-Besoldung zu profitieren. Vor allem die erste Feststellung wurde erwartungsgemäß kontrovers diskutiert, während über die drei anderen Einverständnis herrschte.

MOSHE ZIMMERMANN (Jerusalem) demonstrierte im Anschluss anhand einer Reihe von Biographien, dass die in den frühen 1940er Jahren geborenen israelischen Historiker die Professionalisierung und Differenzierung der Geschichtswissenschaft in ihrem Lande fast als einzige zu verantworten haben und so ihre Disziplin über Jahrzehnte hinweg dominieren. Auf diese Formel wollte sich RICHARD BESSEL (York) nicht einlassen. Was aber sein Land bzw. seine Generation von den Lebensläufen der deutschen Kollegen vorteilhaft unterscheide, sei die Möglichkeit, schon früh in feste Stellen einzurücken und in diesen dann bei entsprechender Bewährung aufzusteigen. Wer gut sei, werde eingestellt, Promotion hin oder her; sie war übrigens bis vor ca. zwanzig Jahren in Oxford für Forschungsnachwuchs nicht einmal gerne gesehen. Die Möglichkeit, schon in jungen Jahren auf einer festen Stelle zu arbeiten, erkläre den eher geringen methodischen und thematischen Konformismus englischer Historiker. Leider war ETIENNE FRANÇOIS (Berlin/Paris) erkrankt und konnte die generationenspezifischen Erfahrungen aus französischer Perspektive nicht vortragen.

Der letzte Themenblock handelte vom Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Selbsthistorisierung und leitete in die Reflexion der Tagung selbst über. DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) stellte seine Überlegungen zu Zufall und Kontingenz der Lebensläufe der 43er in den Kontext der von Wehler und anderen postulierten These von der Konstanz der Eliten in der Bundesrepublik. Für den Wissenschaftsbereich versah er sie mit einem Fragezeichen. Herkommen und Karriere seien hier nicht eng gekoppelt, vermutlich dank ausgeprägter Anpassungsbereitschaft, verbunden natürlich mit außerordentlichem Leistungswillen. Die 43er seien „weich gebettet“ in den Beruf eingetreten und das präge auch ihre Habitusformen. Die dabei erworbenen Berufserfahrungen würden gegenwärtig aber durch den radikalen Umbau der kontinentaleuropäischen Universität entwertet. Die Anwesenden sahen das ähnlich. ACHATZ VON MÜLLER (Basel) war verhindert und konnte seine parallelen Überlegungen nicht vortragen. In der Schlussdiskussion gaben zunächst die Experten ihre Eindrücke wider. Insa Fooken fiel auf, dass das klassische Männerbild nicht zu sehen war, und führte dies auf die generationsprägende Offenheit der nach 1945 angebrochenen „Wendezeit“ zurück. Peter Schulz-Hageleit stellte eine bemerkenswerte „Toleranz gegenüber Ambiguitäten“ fest, bedauerte aber, dass die Frage, ob und wenn ja, weshalb die 43er welche Gegenstandsbereiche in ihren Forschungen bevorzugen, ohne Antwort geblieben sei.

Jürgen Reulecke bezeichnete Gedanken und Verlauf der Tagung als ein geglücktes „ Spiel, das sonst nicht gespielt wird“, weil Historiker anders zu denken pflegen. Hier sei endlich einmal der Zusammenhang von Biographie und Wissenschaft als Beruf zur Sprache gekommen. Er hoffe, dass dies im Interesse der Generationsforschung Nachahmer finde. Die expertenbegleitete Reflexion dieses Zusammenhangs habe verhindert, dass die Tagung unter ihren Möglichkeiten geblieben und nichts anderes geworden sei als, um es mit der ironischen Warnung Bessels zu sagen: „Alte Historiker stellen sich vor“.

Kurzübersicht

Mittwoch, 3. September 2008

Begrüßung - Idee, Rahmen und Perspektiven des Projekts (Christof Dipper, Heinz Duchhardt)

Erfahrungsbericht (Barbara Stambolis): Stand des Projekts

Block I Die Altersgruppe der 1943 Geborenen

Die 1943er als exemplarische Altersgruppe

aus der Sicht des Generationenhistorikers (Jürgen Reulecke)
aus psychohistorischer Perspektive (Peter Schulz-Hageleit)
aus der Sicht der Psychogerontologie (Insa Fooken)

Ton- und Filmdokumente zu den 1950ern und 1960ern

Donnerstag, 4. September 2008

Block II Wege in den Beruf

Die 1943er Historikerkohorte und ihre „Karriereleiter“: Karrierewege und -profile, Auf- und Umbrüche, Genderfragen usw.

mit Diskussionsbeiträgen u.a. von Karin Hausen, Adelheid von Saldern und Barbara Stambolis

Block III Die Position in der Wissenschaft im Blick von außen

Die 1943er in „Amt und Würden“: Netzwerke, Themenmoden, die „turns“ und die eigene Forschung, Wandlungen im Fach, akademische Lehrer und Schüler

mit Diskussionsbeiträgen u.a. von Richard Bessel, Etienne François, Moshe Zimmermann, Christof Dipper, Heinz Duchhardt, Barbara Stambolis

Freitag, 5. September 2008

Block IV Geschichtswissenschaft und Selbsthistorisierung

Selbsthistorisierung und Selbstverortung der 1943er: Entwicklungslogik zwischen. Herkommen und Karriere (Kontingenz, Zufall?), Perspektiven der Geschichtswissenschaft, „Botschaften“ an Schüler und Nachfolger?

mit Diskussionsbeiträgen u.a. von Dieter Langewiesche, Achatz von Müller, Barbara Stambolis

Kontakt

Christof Dipper
TU Darmstadt / FRIAS-School of History, Freiburg
E-Mail: <dipper@pg.tu-darmstadt.de>


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