Im Interesse des Gemeinwohls. Infrastruktursysteme und Kulturlandschaften als Potenziale der Regionalentwicklung

Im Interesse des Gemeinwohls. Infrastruktursysteme und Kulturlandschaften als Potenziale der Regionalentwicklung

Organisatoren
Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Forschungsabteilung 2: Regionaler Institutionenwandel zur Sicherung von Gemeinschaftsgütern
Ort
Erkner
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.07.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Ute Hasenöhrl, Frank Hüesker, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner

Über die Gemeinwohlpotenziale regionaler Gemeinschaftsgüter wie Infrastruktursysteme und Kulturlandschaften in Geschichte und Gegenwart debattierten am 11. Juli 2008 im Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner 85 Wissenschaftler und Praktiker aus ganz Deutschland. Die Forschungsabteilung „Regionaler Institutionenwandel zur Sicherung von Gemeinschaftsgütern“ lud zur Tagung „Im Interesse des Gemeinwohls – Infrastruktursysteme und Kulturlandschaften als Potenziale der Regionalentwicklung“ ein. Die Veranstaltung hatte sich das Ziel gesetzt, aus historischer wie aus gegenwartsbezogener Perspektive Brücken zwischen den (bislang weitgehend unverbundenen) Forschungen zu Gemeinschaftsgütern, zu Gemeinwohlkonzepten sowie zu den Raumwissenschaften zu schlagen. Dem Selbstverständnis der Leibniz-Gemeinschaft folgend, anwendungsbezogene Grundlagenforschung zu betreiben, sollten die vorgestellten wissenschaftlichen Ergebnisse auf ihre Praxisrelevanz befragt sowie künftiger Forschungsbedarf ausgelotet werden. In den theoretisch-konzeptionellen wie in den empirischen Vorträgen spielte dabei die historische Dimension eine zentrale Rolle, etwa durch die Einbeziehung historischer Wandlungsprozesse. Eine wesentliche Aufgabe geschichtswissenschaftlicher Analysen wurde von den Veranstaltern dabei – neben einer Relativierung historischer Klischees bzw. Fragen der Periodizität – in der historischen Anbindung aktueller Debatten gesehen.

Die Direktorin des IRS, HEIDEROSE KILPER (Erkner), eröffnete die Veranstaltung mit einer Annäherung an raumrelevante Gemeinwohlinhalte. Sie betonte, dass das allgemeine Wohl keine allgemeingültige Kategorie bilde, sondern vom jeweiligen Raum- und Zeitkontext abhängig sei. Beispielsweise stehe die gemeinwohlorientierte Verantwortung des Verwaltungsstaats für die Sicherung von Daseinsvorsorge und Ressourcen derzeit angesichts von Megatrends wie Globalisierung, Liberalisierung und Regionalisierung zunehmend auf dem Prüfstand. Es stelle sich daher die Frage, auf welche Weise die Inhalte des Gemeinwohls festgelegt und gewichtet werden (sollen).

Die Frage nach der Bestimmung und Operationalisierung des Gemeinwohls wurde im ersten Tagungsblock zum Thema „Gemeinwohlbelange als Maßstab der Raumentwicklungspolitik“ weiter vertieft. UWE ALTROCK (Universität Kassel) ging in seinem Beitrag den Wurzeln des Gemeinwohlkonzepts in der Planungstheorie nach, welche er in der Wohlfahrtstheorie (Utilitarismus), der Moralphilosophie (Gerechtigkeitslogik) sowie in der Ökologiedebatte verortete. Derzeit dominierten zwei gegensätzliche Diskurse: Auf der einen Seite stehe das auf Jürgen Habermas und Patsy Healey zurückgehende kommunikative Paradigma, demzufolge das Gemeinwohl dialogisch ausgehandelt werde (Konstrukt einer idealen Sprechsituation). Auf der anderen Seite betone die Diskussion um die ‚dunkle Seite der Planung’ die Bedeutung von Machtmechanismen bei der Bestimmung des Gemeinwohls (Michel Foucault, Bent Flyvbjerg). Jenseits derartiger selbstreflexiver Überlegungen sei die konkrete Planungspraxis aber oft von einem komplexen gewachsenen Geflecht von Gemeinwohlbelangen und -interessen geprägt, das sich nur schwer beeinflussen lasse.

Derartige Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung gemeinwohlorientierter Zielsetzungen in Planungsprozessen wurden auch in der Plenumsdebatte über die 2006 beschlossenen Leitbilder der Raumentwicklung in Deutschland problematisiert, welche HANNO OSENBERG (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin) vorstellte. So kritisierten einige Teilnehmer, dass das dritte Leitbild („Ressourcen bewahren, Kulturlandschaften gestalten“) derzeit nicht gleichwertig in die planerische Praxis integriert sei. Diese werde vielmehr vom ersten Leitbild („Wachstum und Innovation“) dominiert.

Zu den Foren zu Wasserinfrastrukturen und Kulturlandschaft überleitend, thematisierte TIMOTHY MOSS (IRS, Erkner) die raumwissenschaftliche Relevanz von Gemeinwohlkonzepten und Gemeinschaftsgütern (das heißt kollektiv genutzten Gütern). Die Untersuchungen der Forschungsabteilung hätten diesbezüglich zwei Grundprobleme ermittelt: So bestehe für Infrastruktursysteme ein potenzielles Spannungsverhältnis zwischen der Bereitstellung von Netzwerkgütern und dem Schutz von Umweltgütern. Wasserinfrastrukturen bedürften einer hohen Auslastung, um effizient betrieben werden zu können. Dagegen müsse das darin transportierte Umweltgut Wasser möglichst sparsam gebraucht werden. In Bezug auf die Kulturlandschaften wiederum liege das Hauptproblem darin, dass diese fast immer als Nebenprodukte anderweitiger sektoraler Nutzungen (beispielsweise durch Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz, Siedlungen) entstehen. Angesichts dieser Heterogenität der Zugänge stelle sich die Frage, wie Kulturlandschaften als ganzheitliches regionales Entwicklungspotenzial herangezogen und gezielt gesteuert werden können. Regionale Governance-Muster und institutionelle Arrangements (im Sinne formeller und informeller Regelungen) in Geschichte und Gegenwart standen entsprechend im Zentrum der IRS-Forschung zur Kulturlandschafts- und Infrastrukturpolitik.

Im „Forum Kulturlandschaft“ zeigten LUDGER GAILING, ANDREAS RÖHRING und INGRID APOLINARSKI (alle IRS, Erkner) am Beispiel von Berlin und Brandenburg die vielfältigen sektoralen und räumlichen Herangehensweisen im Umgang mit Kulturlandschaften. Angesichts eines komplexen Interessensgeflechts komme der Raumordnung als integrierendem Institutionensystem eine wesentliche Vermittlungsaufgabe zu. Die neuen Ansätze der Gemeinsamen Landesplanung bildeten hierfür einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt. Wie schwierig eine derartige Integration sektoraler Ansätze in die Realität umzusetzen ist, wurde unter anderem am Beispiel des Landeskulturgesetzes der DDR (1970) verdeutlicht, das eine ähnliche Zielsetzung verfolgt habe. Erfolg oder Scheitern hänge nicht nur von planerischen Angeboten wie integrierten Management- und Förderansätzen ab, sondern auch vom Engagement, der Selbstorganisationsfähigkeit und der Kooperationsbereitschaft der dezentralen Akteure (bzw. vom Vorhandensein entsprechender Handlungsräume).

Die Problematik von Multi-Level-Governance-Prozessen wurde von CHRISTOPH GÖRG (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Leipzig) am Beispiel des „Südraum Leipzig“ fortgeführt und theoretisch fundiert. Als Steuerungsansatz für die regionale Ebene, der zwischen sozialen und biophysischen Raumkonstruktionen vermitteln könne, schlug er das Konzept der „Landscape Governance“ vor. Als Maßstab für die Gestaltung von Landschaft dürften weder Natürlichkeit noch soziokulturelle Traditionen allein angelegt, sondern es müßte vielmehr eine Verknüpfung beider Dimensionen angestrebt werden. Hierbei seien auch die komplexen Wechselwirkungen und differierenden Machtverhältnisse zwischen den Ebenen zu berücksichtigen („Politics of Scale“).

Einen Blick in die aktuelle Praxis projektorientierter Regionalentwicklung bot REIMAR MOLITOR (Regionale 2010 Agentur, Köln), der das Kulturlandschaftsnetzwerk der „Regionale 2010 Köln/Bonn“ vorstellte. Durch eine bewusste Gestaltung der „blau-grünen Infrastruktur“ sollen hier Freiräume vernetzt und im Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit aufgewertet werden. Als zentrale Erfolgsfaktoren bezeichnete er zum einen die Zusammenführung wesentlicher regionaler Akteure aus sämtlichen Sektoren, zum anderen die Steuerung und Koordinierung verschiedener Ansätze und Projekte.

Alle Beiträge des Forums demonstrierten das Integrationspotenzial des Kulturlandschaftsbegriffs. Jedoch wurde auch deutlich, dass angesichts seiner hohen Komplexität ohne entsprechende Unterstützung durch staatliche Einrichtungen eine latente Überforderung dezentraler Akteure droht.

Im Zentrum des „Forums Wasserinfrastrukturen“ standen Fragen nach der Anpassungsfähigkeit etablierter institutioneller Arrangements sowie nach den Faktoren für Stabilität und Wandel. Wie Moderator Timothy Moss betonte, galten Organisationsformen und technische Anlagen der Wasserinfrastrukturen wegen ihrer hohen Stabilität lange Zeit fast als Selbstverständlichkeiten und waren den Stadtbürgern zumeist nicht sichtbar. Im Zuge der aktuellen Debatten um Privatisierung und Klimawandel erlangten Aspekte ihrer institutionellen Regelung jedoch wieder an Brisanz (und damit auch Sichtbarkeit) im politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Es stelle sich daher die Frage, wie hier am besten gemeinwohlfördernde Lösungen hervorgebracht werden könnten.

CHRISTOPH BERNHARDT (IRS, Erkner) und MARKUS WISSEN (Universität Wien) referierten zum Thema „Wasser im Spannungsfeld zwischen Netzwerkgütern und Umweltgütern“ und präsentierten dazu historische und aktuelle Befunde aus Berlin und Brandenburg. Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts sollte das Gemeinwohl hier durch eine Überführung der Wasserinfrastrukturen von privater in die öffentliche Hand gesichert (und darüber hinaus für letztere eine neue Einnahmequelle erschlossen) werden. Der institutionelle Umwandlungsprozess folgte dabei den Leitbildern „Hygiene“ und „flächendeckende Versorgung“ (welches bis heute im Rahmen des Anschluss- und Benutzungszwangs bestehen blieb). Während diese Ansprüche inzwischen in hohem Maße erreicht seien und damit an relativer Bedeutung verloren hätten, würde die Knappheitsproblematik heute angesichts des Klimawandels wieder neue Relevanz gewinnen. Die Vortragenden verwiesen hierzu auf die historischen Vorläufer dieser Debatte in den 1930er-Jahren (Versteppung, „dust bowls“).

Neben den Folgen des Klimawandels wurden als wichtige Gegenwartsprobleme vor allem Überkapazitäten der Infrastrukturen in Regionen stark rückläufiger Wassernutzung thematisiert. Dabei wurde kritisiert, dass beide Problematiken im politischen Diskurs nicht ausreichend aufeinander bezogen würden und entsprechend keine problemadäquaten, gemeinwohlfähigen institutionellen Lösungen gefunden werden könnten. ENGELBERT SCHRAMM (Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt am Main) betonte in diesem Zusammenhang, dass der technische Umbau von Netzinfrastrukturen – zum Beispiel der Einbau dezentraler Systeme – immer mit einer Neukonfiguration der institutionellen Arrangements einhergehen müsse. IRIS HOMUTH (Landeswasserverbandstag Brandenburg, Potsdam) beschrieb praktische Möglichkeiten, aktuelle Wasserknappheitsproblematiken ohne überdimensionierten Infrastrukturausbau lösen zu können.

In der Schlussdebatte wurden die Diskussionsstränge der Tagung zusammengeführt und auf Perspektiven für Regional Governance und Raumwissenschaften befragt. Als wesentlicher Ansatzpunkt für die zukünftige praxisorientierte Forschung kristallisierte sich die Bedeutung der Faktoren „Macht in Kommunikationsprozessen“ und „Legitimation von Entscheidungsprozessen“ im Umgang mit regionalen Gemeinschaftsgütern heraus, wie EVELYN GUSTEDT (Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover) in ihrem Fazit herausstrich. Dabei ist etwa zu klären, welche Abwägungs- und Beteiligungsstrukturen angesichts unterschiedlicher Machtressourcen der Akteure eine ebenso legitime wie effiziente Aushandlung von Gemeinwohlbelangen in der Planungspraxis gewährleisten könnten. Es müsse jetzt um die Qualifizierung der prozeduralen Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs gehen, so abschließend Christoph Bernhardt.

Die Präsentationen der Tagung sind demnächst über die Homepage des IRS unter www.irs-net.de abrufbar.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Heiderose Kilper (Erkner)

Plenum: Gemeinwohl als Maßstab der Raumentwicklungspolitik
Moderation: Christoph Bernhardt (Erkner)
Uwe Altrock (Kassel): Gemeinwohlorientierung und Planungstheorie
Hanno Osenberg (Berlin): Gemeinwohlbelange in den Leitbildern der Raumordnung
Timothy Moss (Erkner): Gemeinwohl und Gemeinschaftsgüter: Relevanz für die Regionalentwicklung

Forum Kulturlandschaft
Moderation: Heiderose Kilper (Erkner)
Ludger Gailing/ Andreas Röhring/ Ingrid Apolinarski (alle Erkner): Kulturlandschaft als regionales Entwicklungspotenzial – historische und aktuelle Befunde aus Berlin und Brandenburg
Christoph Görg (Leipzig): ‚Landscape Governance’ – Steuerungsansätze zwischen sozialen und biophysischen Raumbezügen
Reimar Molitor (Köln): Erfahrungen mit Regionalmanagement und Projektentwicklung im Rahmen des Kulturlandschaftsnetzwerkes der Regionale 2010 Köln/Bonn

Forum Wasserinfrastrukturen
Moderation: Timothy Moss (Erkner)
Christoph Bernhardt (Erkner)/ Markus Wissen (Wien): Wasser im Spannungsfeld zwischen Netzwerkgütern und Umweltgütern – historische und aktuelle Befunde aus Berlin und Brandenburg
Engelbert Schramm (Frankfurt am Main): Transformationsprozesse im Infrastruktursystem Wasser. Zum Kontext aktueller Gemeinwohldebatten
Iris Homuth (Potsdam): Aktuelle Probleme und Akteurskonstellationen im Umgang mit Wasserressourcen aus Sicht der Praxis

Schlussdiskussion: Perspektiven für Regional Governance und die raumwissenschaftliche Forschung
Moderation: Christoph Bernhardt (Erkner)
Evelyn Gustedt (Hannover): Fazit


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