Spielregeln, Konventionen und Gewohnheiten im Mittelalter

Spielregeln, Konventionen und Gewohnheiten im Mittelalter

Organisatoren
Projekt A2 des Sonderforschungsbereichs 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.07.2008 - 12.07.2008
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Von
Katrin Bourrée, Historisches Institut, Universität Paderborn; Christiane Witthöft, Seminar für Deutsche Philologie, Universität Göttingen

Aus Anlass des 65. Geburtstags des Münsteraner Mediävisten Gerd Althoff veranstalteten Claudia Garnier (Münster) und Hermann Kamp (Paderborn) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 496 vom 10. Juli bis zum 12. Juli in Münster das Kolloquium „Spielregeln, Konventionen und Gewohnheiten im Mittelalter“, das es sich als interdisziplinäre Veranstaltung zum Ziel gesetzt hatte, vor allem Vertreterinnen und Vertreter der geschichtswissenschaftlichen, germanistischen und rechtsgeschichtlichen Forschung zum intensiven Austausch über den von Althoff vor mehr als zehn Jahren in die mediävistische Forschung eingeführten Begriff der ‚Spielregeln’ zusammenzubringen. Damit waren zugleich Wissenschaftler derjenigen Disziplinen versammelt, die sich spätestens seit dem Erscheinen der Aufsatzsammlung „Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde“ am nachdrücklichsten mit dem Spielregel-Begriff auseinandergesetzt und diesen immer wieder auch kritisch auf seine Anwendbarkeit auf die Verhältnisse mittelalterlicher Gesellschaften befragt hatten.

HERMANN KAMP (Paderborn) skizzierte in seiner Einführung zunächst die Entstehung und Verwendung des Begriffs in den Arbeiten Gerd Althoffs, um insbesondere auf seine prinzipielle Offenheit zu verweisen. Kamp charakterisierte ihn als eine einprägsame Metapher, mit deren Hilfe bestimmte wiederkehrende Verhaltensformen zugespitzt beschrieben werden könnten, die zwar nicht von schriftlich verfassten Normen abgeleitet waren, aber auf Konventionen des Verhaltens verwiesen, denen man sich zumeist überhaupt nicht, auf jeden Fall nicht ohne weiteres entziehen konnte. Besonders in den frühen Arbeiten Althoffs zeige die wechselhafte, zuweilen synonyme Benutzung von Begriffen wie Regeln, Gewohnheiten, Konventionen, Gebräuche und eben ‚Spielregeln’, die auf dasselbe Phänomen verwiesen, gerade das Gegenteil einer dogmatischen Begriffsfestlegung. In einem zweiten Schritt machte Kamp deutlich, dass der Begriff der Spielregeln grundsätzlich zwei verschiedene Themenbereiche anspreche. Zum einen betreffe er den weiten Bereich der adeligen Umgangsformen oder Etikette, also das Wissen, wie man sich korrekterweise in der Interaktion mit den anderen Großen, vor allem am königlichen Hof, zu verhalten habe. Zum anderen verweise Althoffs Spielregel-Begriff direkt auf die rechtliche Sphäre und stelle deren eigenständige Existenz provokativ in Frage.

Bereits durch den Titel des Tagungsbeitrags „Gruppenbindungen, Spielregeln, Rituale“ angedeutet, zeichnete HAGEN KELLER (Münster) die Entwicklungslinien der Forschungen des langjährigen Münsteraner Kollegen nach und unterstrich damit noch einmal das Prozesshafte bei der Entstehung des Spielregel-Begriffs. Keller hob als erste zentrale Etappe und Basis der späteren Forschungsinteressen die zunächst von Karl Schmid angeregte Frage nach den Gruppenbindungen hervor. Im Laufe der Zeit seien die Kommunikationsformen und die Art der Interaktion von Gruppen bzw. Individuen immer deutlicher in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt, später zudem die Charakteristika der mittelalterlichen Konfliktführung als Untersuchungsgegenstand hinzugetreten. Durch eine ständige Ausweitung des Blickwinkels sei es bald um die generelle Frage gegangen, wie soziale Ordnung in der Zeit des Mittelalters funktionieren konnte. Die Fokussierung auf die ungeschriebenen Gesetze des Miteinanders habe schließlich die Erkenntnis über die Bedeutung von symbolischer Kommunikation bzw. von Ritualen für die Etablierung und Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung gebracht.

Die von August Neidhardt von Gneisenau als kritische Replik auf die angeblich verfehlte symbolische Kommunikation König Friedrich Wilhelms III. mit dem Volk getätigte Feststellung, dass auf Poesie die Sicherheit der Throne gegründet sei, nahm DIETER MERTENS (Freiburg) in dem Vortrag „Dichter und Herrscher. Rituale der Zuordnung“ zum Ausgangspunkt, um nach den Funktionen von Herrscherpanegyrik und von Ritualen mittelalterlicher Dichterkrönungen zu fragen. Mertens’ Interesse galt im Rahmen des Vortrags der Frage, ob eine Analyse der Textstrukturen eine Rekonstruktion der Aufführungssituation möglich mache. Anhand des Vergleichs eines anonymen Herrscherlobes am Hof Karls des Großen über die Niederschlagung des Friauler Aufstandes von 776 mit den Sangsprüchen Walthers von der Vogelweide und Reinmars von Zweter für Friedrich II. und der Dichterkrönung Zanobis da Strada durch Kaiser Karl IV. im Jahr 1355 entwickelte Mertens zudem drei verschiedene Ritualmodelle, die sich bezüglich der herrscherlichen Zuordnung unterschieden. Die Aufgabe der Dichter sei die „Verführung zum Konsens“ gewesen, so Mertens in seinem Resümee und gerade der Vergleich zwischen den Kaisern Sigismund, Friedrich III. und Maximilian mache deutlich, wie unterschiedlich das Ritual der Dichterkrönung von den Herrschern politisch eingesetzt worden sei.

BERND SCHNEIDMÜLLER (Heidelberg) stellte in seinem öffentlichen Abendvortrag „Kaiser sein im spätmittelalterlichen Europa. Spielregeln zwischen Weltherrschaft und Gewöhnlichkeit“ das Phänomen des Heiligen Römischen Reiches als Typus des ‚Imperiums’ in seiner wechselvollen mittelalterlichen Geschichte ins Zentrum seiner Überlegungen und fragte, inwiefern der Begriff die mittelalterliche Realität beschreiben könne oder ob er lediglich als eine Denkfigur der Folgezeit zu verstehen sei. Die Definitionskriterien, die Herfried Münkler für seine Untersuchung von Imperien in verschiedenen historischen Kontexten aufgestellt habe, seien laut Schneidmüller, nur bedingt auf die mittelalterlichen Verhältnisse des Reiches anwendbar. Die Zeit bis zur Mitte des 11. Jahrhundert sei zwar durchaus durch die Suprematie des Reichs in der lateinischen Christenheit zu charakterisieren, die sich auch in der dienenden Rolle der Päpste gegenüber dem Kaiser ausgedrückt habe. Aber im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen regnum und sacerdotium hätten die west- und südeuropäischen Reiche begonnen, sich gegen den Vormachtsanspruch des römisch-deutschen Kaisers zu wehren. In dieser Situation hätten dann auch die Spielregeln der politischen Interaktion jeweils mühsam neu ausgehandelt werden müssen, besonders bei Treffen zwischen Kaiser und Papst.

Der Vortrag von HORST WENZEL (Berlin) über „Repräsentation und Täuschung. Zum theatralischen Charakter von Spielregeln“ hinterfragte den Zusammenhang von Gezeigtem und Verborgenem, von Sichtbarem und Unsichtbarem im mittelalterlichen Herrschaftsdiskurs. Gerade für den literarischen Beobachter sei es möglich, durch eine doppelte Fokussierung von Innen- und Außenräumen auch einen Blick hinter die Kulissen der öffentlichen Repräsentationsformen der Macht werfen zu können. Das ‚Nibelungenlied’ diskutiere etwa in Szenen der Brautwerbung das Spannungsverhältnis zwischen den repräsentativen Außenräumen und den nichtöffentlichen Innenräumen. Der Tarnmantel, ein kollektives Wunschsymbol des Adels nach Unsichtbarkeit, biete dem Leser eine erweiterte Beobachtungsposition. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher und verborgener Sphäre finde auch in der ‚Reimchronik’ Ottokars von Steiermark und im ‚Fürstenbuch’ Jans Enikels eine besondere Art der Reflexion – so Wenzel. In der ‚Reimchronik’ substituiere etwa ein höfischer Minnediskurs politisch motivierte Eheschließungen des Hochadels, während im ‚Fürstenbuch’ Jans Enikels eine Erzählung über die sexuellen Verfehlungen Friedrichs II. von Österreich die Sphäre des Verborgenen enthülle, um die Unfähigkeit des Herzogs zur Regierung des Landes zu verdeutlichen.

In einer detailreichen Analyse führte STEPHEN JAEGER (Urbana/Illinois) die Spielregeln einer akademischen Disputatio vor, wie sie durch Richer von St. Remy überliefert sind. Die Disputatio zwischen Gerbert und Ohtric in Ravenna gilt als eines der wichtigsten Ereignisse in der Gelehrtenkultur des 10. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher sei es, dass die Dramaturgie der Disputatio, die formalen Abläufe, weitaus wichtiger gewesen zu sein scheinen, als die Inhalte bzw. das intellektuelle Niveau der Austragung – so Jaeger. Der repräsentative Wert der Disputatio habe diese am ottonischen Hof zum Politikum werden lassen. So habe in der Disputatio von 980/981 intellektuell wenig auf dem Spiel gestanden, für Fragen der Ehre hingegen viel. Entsprechend gleiche die Disputatio im Bericht Richers eher einem Wettkampf als einer wissenschaftlichen Debatte: Worte würden zu Waffen. Durch heimliche Vorabsprachen und gezielte Einflussnahme des Kaisers, der im Vorfeld Regie führe, werde der Herausforderer Ohtric zum Verlierer, während der Hofphilosoph Gerbert – und somit auch der Kaiser – Sieger blieben. Zudem lasse sich in der Schilderung Richers, wie Jaeger unter Hinweis auf eine weitere Disputatio aus dem Umfeld Karls des Einfältigen zeigte, das literarische Schema vom betrogenen Betrüger erkennen, welches die alleinige Rekurrenz auf den Vorrat an gesellschaftlichen bzw. akademischen Spielregeln zu hinterfragen scheine.

In Anlehnung an Althoffs Aufsatz „Spielen die Dichter mit den Spielregeln der Gesellschaft?“, welcher eine neue Fiktionalitätsdebatte angestoßen habe, widmete sich der Beitrag JAN-DIRK MÜLLERs (München) den aufgebrochenen Dichotomien von Imagination und Wirklichkeit in der fiktionalen Welt des ‚Frauendienst’ Ulrichs von Liechtenstein. Literarische Imaginationen seien Teil des Imaginären der mittelalterlichen Kultur – so Müller unter Bezugnahme auf die Begrifflichkeiten Castoriadis’. Literarische Texte seien imaginäre Ordnungen zweiten Grades. Sie zitierten die Ordnungen ersten Grades, wie etwa die Spielregeln der Politik, führten diese in neue Zusammenhänge, verdichteten sie und testeten Spielräume aus. Im ‚Frauendienst’ etwa werde der österreichische Adel, der als Gefolge König Artus’ alias Ulrich auftritt, namentlich genannt und der Tod des österreichischen Herzogs in der Schlacht an der Leitha geschildert. Politische Spielregeln würden reflektiert und textinterne Spielregeln eingehalten: Die Spielregeln zweiter Ordnung offenbarten sich in der fiktionalen Parallelwelt etwa in der Maßlosigkeit des Schenkens im Minnediskurs oder in den ritterlichen Ritualen zur Aufnahme in die Tafelrunde. Störungen und Brüche dieser Ordnung würden durch Lachen markiert.

HANS-WERNER GOETZ (Hamburg) beschäftigte sich unter dem Titel „Spielregeln bei Gregor von Tours – Der Vortrag als Ritual“ mit den Spielregeln und Ritualen der Merowingerzeit. Ins Zentrum seines Vortrags stellte er unter Verwendung eines weiten Spielregel- bzw. Ritualbegriffs verschiedene Arten von Ritualen und symbolischen Handlungen, für die er Gregor von Tours als Gewährsmann anführte. Im Gegensatz zu Gerd Althoffs Einschätzung, dass es in dieser Epoche erst bescheidene Anfänge der Ritualbindung gegeben habe, kam Goetz zu dem Schluss, dass Gregors Erzählungen eine regelrechte Kette von Ritualen, ritualisiertem Verhalten oder symbolischen Handlungen böte, die alle Lebensbereiche erfasse. Laut Goetz war für Gregor die Frage der Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung und in Folge dessen mussten Rituale in seinen Schilderungen immer genau dann scheitern, wenn sie nicht auf Gerechtigkeit fußten. Gerade die missglückten Ritualhandlungen zeigten doch das Vorhandensein von Spielregeln, der ungewöhnliche Verlauf sei der Grund, warum Gregor sie überhaupt schildere.

Im vergleichenden Blick mit den Verhältnissen im Reich präsentierte SVERRE BAGGE (Bergen) in seinem Vortrag „Spielregeln in Medieval Norway“ am Beispiel der zunächst zwischen König Håkon Håkonsson und Skule Bårdsson geteilten Landesherrschaft, wie die politischen Interaktionen zwischen den Rivalen durch ‚Spielregeln’ bestimmt wurden, die teilweise eine große Ähnlichkeit zum Reich aufwiesen, aber in Norwegen eine echte Innovation darstellten. Laut Bagge schildere der Biograph König Håkons in der ‚Håkon Håkonssons saga’ ein Treffen zwischen den beiden Kontrahenten in Bergen, bei dem es zu einer regelrechten Kette an bewussten Demütigungen Skules gekommen sei. Håkon habe so seinen Vorrang als rechtmäßiger König demonstrieren wollen und auf einer deditio des Rivalen bestanden, um ihn zum Gehorsam zu zwingen. Bagge machte deutlich, dass diese symbolische Handlung in Norwegen für Mitglieder aus der Gruppe des Hochadels unüblich gewesen sei, da deditiones eigentlich nur bei schwerwiegenden Vergehen oder bei einem klaren Ranggefälle der beteiligten Personen zum Einsatz gekommen seien. Folgerichtig sei Håkon mit seinem Anliegen zunächst auch gescheitert. Der Vergleich zwischen europäischen und norwegischen Fürstenspiegeln zeige außerdem, dass die Formen der symbolischen Kommunikation mit dem Herrscher und zwischen den Großen in dem skandinavischen Land teilweise weniger elaboriert und höfisch geprägt gewesen seien.

WERNER RÖCKE (Berlin) entwarf in seinem Vortrag über die „Regeln des Vertrauens. Reduktion von Kontingenz und Stabilisierung des Verhaltens im ‚Prosalancelot’“ unter Hinweis auf die soziologische Forschung eine ‚Grammatik des Vertrauens’. So gebe es im ‚Lancelot propre’ gewisse wiederkehrende Regeln, wie etwa die der vertrauensbildenden, performativen Handlungen in face-to-face Situationen, die sich von der sozialen Praxis des Misstrauens abgrenzten. Vertrauenszusagen hingegen müssten immer wieder erneuert werden, da sie nicht rechtlich kodiert seien. So bedürfe es immer wieder eines performativen Vollzugs und der körperlichen Anwesenheit der Beteiligten. So auch in den Friedensschlüssen des ‚Lancelot propre’, die allein auf Versprechen und Zusagen basierten. Zudem ließen sich zwei unterschiedliche Formen des Vertrauens differenzieren: Zum einen diejenigen Formen des sozialen Handelns, die auf Verständigung zielten, wie es sich etwa im Erbfolgestreit des Machtmenschen Claudas zeige, und zum anderen diejenigen Formen, die auf Konsens basierten, wie etwa in der Unterwerfung Galahots auf dem Höhepunkt seiner Macht unter König Artus. Galahot verzichte auf seine Interessen, auf sein Streben nach Suprematie und schaffe so Konsens; am Ende buhle er sogar um das Vertrauen Lancelots.

PHILIPPE BUC (Stanford/Kalifornien) befasste sich in seinem Beitrag „Canossa mit und ohne Spielregeln“ mit dem Stellenwert, den die Spielregeln der Politik für das herrschaftliche Handeln Heinrichs IV. hatten. Zu Beginn seiner Ausführungen formulierte Buc verschiedene Hypothesen, die er als alternative Entwürfe zu Althoffs Einschätzung der völligen Missachtung der politischen Spielregeln durch Heinrich IV. und der damit verbundenen negativen Ausnahmestellung des Saliers unter den römisch-deutschen Kaiser des Mittelalters verstanden wissen wollte. Buc ging zunächst davon aus, dass Heinrich IV. nicht gegen die herrschenden Spielregeln verstoßen, sondern sich im Rahmen konkurrierender Normen bewegt habe. Das Herrscherhandeln sei gemäß eines ‚höheren Gesetzes’ erfolgt. Diese frühen Formen transpersonaler Staatskonzeption hätten die Idee eines ‚Staates’ über private Interessen gestellt und es so dem Herrscher erlaubt, die Spielregeln der Konsensherrschaft zu brechen. Zudem sprach Buc die Möglichkeit an, dass Heinrich sich völlig im Einklang mit den Gepflogenheiten seiner Zeit befunden und kaum abweichend von anderen Königen und Großen dieser Epoche die geltenden Normen bewusst manipuliert habe. Quellen wie das ‚Conventum Hugonis’, das ‚Carmen de bello saxonico‘ oder auch literarische Beispiele wie das ‚Rolandslied’ zeigten, dass weltliche Herrscher immer wieder den Rat ihrer Großen missachtet oder gar nicht erst eingeholt hätten.

In der Salierzeit hätten bekanntermaßen vor allem Könige das Mittel des demonstrativen Weinens regelmäßig als Instrument genutzt, politische Interessen durchzusetzen, so STEFAN WEINFURTER (Heidelberg) in seinem Vortrag „Der Papst weint. Rituelles Verhalten im Kampf gegen Kaiser Friedrich II.“ Seit dem 13. Jahrhundert sei dann ein enormer Anstieg von ‚weinenden Päpsten’ zu verzeichnen gewesen. Papst Innozenz’ IV. habe durch sein öffentliches Weinen während des ersten Konzils von Lyon, das über den Umgang mit dem gebannten Kaiser Friedrich II. beraten sollte, den Konzilsteilnehmern ganz ‚plastisch’ seine Funktion als Stellvertreter Christi ins Gedächtnis gerufen. Im Sinne einer Imitatio Christi habe er vor dem Konzil eindrücklich seine ‚fünf Schmerzen’ – in Anlehnung an die fünf Leiden Christi – geschildert und die Ausführungen durch demonstrative Tränen unterstrichen. Diese Form des Weinens habe darauf abgezielt, dem Konzil jegliches Mitspracherecht bezüglich der Absetzung Friedrich II. zu entziehen. Dass die Absetzung nicht auf Beschluss des Konzils, sondern nur in dessen Gegenwart erfolgt sei, zeige nicht nur das autoritäre Verhalten des Papstes, sondern deute auch auf einen fundamentalen Umbruch im Kirchenrecht hin. Mit Innozenz IV. habe eine neue Papstgeneration begonnen, und die Tränen des Papstes, so Weinfurter in seinem Resümee, hätten als Tränen Christi die Grundlage einer neuen Weltordnung gebildet, die auch die Spielregeln zwischen Papst und Kaiser verändert hätte.

Anhand von Beispielen des Einsatzes von Friedensküssen führte KLAUS SCHREINER (München) in seinem Vortrag „Osculum pacis. Geltungsgründe einer symbolischen Handlung“ die verschiedenen Bedeutungsebenen, aber auch die Mehrdeutigkeit eines mittelalterlichen Kollektivsymbols vor Augen. Wie Schreiner in seinen einleitenden Worten deutlich machte, sei die geschichtliche Praxis des Friedenskusses vielfältig gewesen, entscheidend für die Bedeutung seien immer die konkreten Gebrauchs- und Verwendungssituationen. Im Bereich von Frömmigkeit und Theologie hätten sie die Funktion besessen, Unbegreifbares deutbar und affektuell erfahrbar zu machen. Als signum pacis im Gottesdienst hätten sie zum Ausdruck gebracht, dass die Teilnehmer die Messe gemeinsam im Zeichen des Leibes Christi feierten und im Frieden vereint seien. Im weltlich-politischen Bereich sei die Bedeutung als Friedenszeichen ebenfalls zentral gewesen, aber der Kuss habe zudem zwischen Standesgenossen soziale Gleichheit, zwischen Ungleichen, Über- und Unterordnung symbolisiert. Auch wenn der Kuss in keiner mittelalterlichen Rechtsordnung auftauche, so Schreiner in seiner abschließenden Analyse, wirke er als Medium mit hoher sozialer Integrationskraft und entfalte große Verbindlichkeit. Hierin zeige sich, dass Friedensküsse im Bereich der sozialen und politischen Spielregeln anzusiedeln seien, da sie auf informelle, nicht ‚gesetzlich’ normierte Einstellungen und Handlungsanweisungen verwiesen, welcher die Politik jedoch unabdingbar bedürfe.

In der Abschlussdiskussion wurde schließlich noch einmal erörtert, welche Impulse die Spielregel-Metapher für die zukünftige Forschung bereithalten könne. Kontrovers diskutiert wurde zudem die Frage nach dem Grad der Normativität, der mit dem Begriff der Spielregeln verbunden sei. Die von Vertretern der Rechtsgeschichte während der Tagung mehrfach gestellte Frage nach der mittelalterlichen Rechtsgeltung von Spielregeln wurde von HEINHARD STEIGER (Gießen) aufgegriffen. Bezogen auf den Vortrag von Klaus Schreiner fragte er danach, ob Friedensküssen eine Rechtsgeltung nicht prinzipiell abzusprechen sei, sie vielmehr durch eine innere, religiöse Begründung ihre Wirkung entfalteten. Grundsätzlich stelle sich die Frage, was der Unterschied zwischen ‚Recht’ und ‚Spielregeln’ sei. Gerd Althoff unterstrich, dass der Begriff in einer modernen Verwendung etwas anderes meine als bei der Analyse mittelalterlicher Gesellschaften. Althoff plädierte in diesem Zusammenhang dafür, die spezifisch mittelalterlichen Aspekte des Begriffs in der Folgezeit noch systematischer herauszuarbeiten.
Die Veröffentlichung sämtlicher Vorträge der Tagung wird in Form eines Sammelbandes erfolgen.

Konferenzübersicht:

Hermann Kamp (Paderborn): Einführung in das Thema

Hagen Keller (Münster): Gruppenbindungen, Spielregeln, Rituale

Dieter Mertens (Freiburg): Dichter und Herrscher. Rituale der Zuordnung

Bernd Schneidmüller (Heidelberg):Kaiser sein im spätmittelalterlichen Europa. Spielregeln zwischen Weltherrschaft und Gewöhnlichkeit

Horst Wenzel (Berlin): Repräsentation und Täuschung. Zum theatralischen Charakter von Spielregeln

Stephen Jaeger (Urbana/Illinois): Gerbert und Ohtric: Spielregeln einer akademischen Disputatio im 10. Jahrhundert

Jan-Dirk Müller (München): Spielregeln zweiter Ordnung. Zu Ulrichs von Liechtenstein »Frauendienst«

Hans-Werner Goetz (Hamburg): Spielregeln bei Gregor von Tours – Der Vortrag als Ritual

Sverre Bagge (Bergen): ‚Spielregeln’ in Medieval Norway

Werner Röcke (Berlin): Regeln des Vertrauens. Reduktion von Kontingenz und Stabilisierung
des Verhaltens im »Prosa-Lancelot«

Philippe Buc (Stanford/Kalifornien): Canossa mit und ohne Spielregeln

Stefan Weinfurter (Heidelberg): Der Papst weint. Rituelles Verhalten im Kampf gegen Kaiser Friedrich II.

Klaus Schreiner (München): Osculum pacis. Geltungsgründe einer symbolischen Handlung