Völkische Wissenschaften im 20. Jahrhundert

Völkische Wissenschaften im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin in Verbindung mit dem Zentrum für historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.04.2008 - 12.04.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Felix Wiedemann, Berlin

Dass deutsche Wissenschaftler sowohl bei der Legitimierung als auch bei der Organisation und Durchführung der NS-Verbrechen eine zentrale Rolle spielten, ist zwar seit langem hinlänglich bekannt; das ganze Ausmaß dieser Verstrickung und deren Konsequenzen für die Wissenschaftsgeschichte werden jedoch immer noch häufig unterschätzt. Dass dies keineswegs lediglich ein Problem jener Disziplinen wie Biologie, Medizin und Anthropologie darstellt, aus denen die schnell als bloß pseudowissenschaftlich abqualifizierten Felder wie Rassenforschung und Rassenhygiene hervorgegangen sind, sondern auch nahezu alle Geistes- und Sozialwissenschaften betrifft, dürfte spätestens seit den Diskussionen auf dem Frankfurter Historikertag 1998 auch einem allgemeinen Publikum bekannt sein. Damals ging es vorwiegend um die NS-Vergangenheit von Historikern und Sozialwissenschaftlern, die nach 1945 zu anerkannten Größen ihres Fachs aufstiegen und denen allseits ein hohes methodisches Innovationspotential zugeschrieben wurde (dies bezog sich seinerzeit vor allem auf die Gründerväter der bundesdeutschen Sozialgeschichte Theodor Schieder und Werner Conze).

Im Anschluss an die damalige Diskussion entstand die Idee, die Forschungsergebnisse zu diesem Themenkomplex handbuchartig zusammenzutragen. Aus Anlass der nun erfolgten Veröffentlichung des von INGO HAAR (Berlin/Wien) und MICHAEL FAHLBUSCH (Basel) herausgegebenen „Handbuchs der völkischen Wissenschaften“ veranstaltete das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin in Verbindung mit dem Zentrum für historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften am 11. und 12. April 2008 eine zweitägige Tagung. Im Anschluss an die Pressevorstellung des „Handbuchs“ im Literaturhaus Berlin mit Ansprachen des Direktors des Zentrums für Antisemitismusforschung WOLFGANG BENZ und des Verlegers KLAUS G. SAUR konnten in diesem Rahmen über 20 Fachwissenschaftler verschiedener Disziplinen zentrale Forschungsergebnisse zum Themenkomplex völkische Wissenschaften vor ca. 80 Personen präsentieren.

Die überwiegend auf den Handbuch-Artikeln basierenden Tagungsbeiträge verteilten sich auf fünf zentrale Bereiche:

Anhand der deutschen „Ost-, West- und Südostforschung 1918/19-1945“ ging es in der ersten, von Michael Fahlbusch (Basel) moderierten Sektion um völkische Raumkonstruktionen und ihre politische Umsetzung. Den Anfang machte hier THOMAS MÜLLER (Aachen) mit einem Beitrag über die Geschichte der „Westforschung“ und der antifranzösischen Grenzziehungspolitik. Müller schilderte zunächst die Verwissenschaftlichung tradierter antifranzösischer Ressentiments, die die Westforschung bereits während der Weimarer Republik durchlaufen habe. Eine deutliche Kehrtwendung konstatierte er hingegen nach der Niederlage in Stalingrad, als sich die Westforschung um die Entledigung der antifranzösischen Stoßrichtung bemüht und versucht habe, vermeintlich gesamteuropäische Gemeinsamkeiten im Kampf gegen den „asiatischen“ Bolschewismus herauszustellen. Genau diese begriffliche Substitution des Deutsch-Germanischen durch das Europäisch-Abendländische, so Müller, habe den einstigen Westforschern schließlich in der Bundesrepublik den erneuten Weg in Wissenschaft und Politik ermöglicht.

Gewissermaßen das geographische Gegenstück zu Müllers Beitrag behandelte anschließend MARKUS KRZOSKA (Gießen) in seinem Vortrag über die „Ostforschung“. Dabei zeichnete er die Geschichte der relevanten Denkfiguren des Ostdiskurses wie „deutscher Kulturboden“ oder „deutsche Sprachinseln“ nach und hob die Rolle der Ostforscher bei der Umsetzung der verbrecherischen NS-Politik im Krieg hervor. Schließlich bemängelte Krzoska das Fehlen einer detaillierten Untersuchung der personellen wie paradigmatischen Kontinuitäten der „Ostforschung“ zur „osteuropäischen Geschichte“ in der frühen Bundesrepublik und regte überdies an, die deutsche Ostforschung in den weiteren Kontext nationalistisch-expansiver Forschungsprogramme im Europa der Zwischenkriegszeit zu stellen.

Den engen Konnex von Forschungsparadigmen und expansionistischer Politik verdeutlichte auch MICHAEL WEDEKIND (Münster) anhand der „Südostforschung“. Der Vortrag konzentrierte sich auf die institutionelle Verankerung dieser Richtung im grenznahen Kärnten und zeigte deren Rolle bei der Expansionspolitik gegenüber Slowenien nach der deutschen Besetzung 1941. Dabei konstatierte Wedekind eine ähnliche Verschiebung nach der Kriegswende 1943 wie Müller im Fall der „Westforschung“ gegenüber Frankreich: So hätten dieselben „Südostforscher“, die zuvor kulturräumlich scheinbar eindeutige Grenzen zwischen „Germanen“ und „Slawen“ in der „Krain“ konstruierten, danach versucht, Gemeinsamkeiten der slowenisch- und deutschsprachigen Bevölkerung herauszustellen.

Behandelten die bisherigen drei Beiträge konkrete Raumvorstellungen, so widmete sich KARL KEGLER (Aachen) einem abstrakten geographischen Modell: Dem in der Raumplanung bis in die 1980er-Jahre maßgeblichen Konzept der „zentralen Orte“ Walter Christallers. Kegler zeigte, wie dieses Modell in den 1930er-Jahren zur raumplanerischen Leitvorstellung avancierte und nach 1939 zwar nicht im „Altreich“, wohl aber – und hier unter maßgeblicher Beteiligung Christallers selbst – im besetzen Polen konsequent ungesetzt wurde. Hier habe das Modell der „zentralen Orte“ als unmittelbare Grundlage der verbrecherischen „völkischen Menschenökonomie“ fungiert.

Im abschießenden Kommentar zur ersten Sektion griff JAN PISKORSKI (Szczecin) die Anregung Markus Krzoskas auf und plädierte für eine Kontextualisierung der zentralen Konzeptionen völkischer Wissenschaften in die zutiefst nationalistisch aufgeladenen Historiographien des seinerzeitigen Gesamteuropa; nur in einer solch vergleichenden Perspektive könnten schließlich auch die paradigmatischen Spezifika des deutschen Falls herausgearbeitet werden.

Die zweite, von PETER SCHÖTTLER (Berlin) moderierte Sektion beschäftigte sich anschließend mit der Umsetzung zentraler außenpolitischer, revisionistischer Zielvorstellungen der Weimarer Rechten in die Praxis während des Nationalsozialismus. Den Anfang machte HANS WERNER RETTERATH (Freiburg) mit einer biographischen Skizze Hans Steinachers als zentraler Figur des revisionistischen „Volkstumskampfes“ der 1920er- und 1930er-Jahre. Keinesfalls jedenfalls könne der „Reichsführer“ des „Volksbundes der Deutschen im Ausland“, wie noch in jüngeren Publikationen nachzulesen, bloß als Repräsentant einer konservativ-traditionellen Haltung und seiner späteren Absetzung wegen als „Opfer“ der NS-Volkstumspolitik gesehen werden; vielmehr sei er durch seine militante Irridentapolitik, die auch vor politischen Morden keinen Halt machte, maßgeblich an der Einführung der NS-Volkstumspolitik beteiligt gewesen.

Anschließend beschäftigte sich GERHARD WOLF (Berlin) mit der Funktion der „Deutschen Volksliste“ für die nationalsozialistische Selektions-, Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik in den eingegliederten Ostgebieten nach 1939. Dabei kam Wolf zu anderen Ergebnissen als etwa vor einigen Jahren Isabel Heinemann in ihrer Studie über das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS: Denn obwohl die SS auf eine stärkere Berücksichtigung „rassischer“ Kriterien drang, habe sich auf diesem Feld letztlich die pragmatischere, auf „Integration“ weiter Teile der Bevölkerung setzende Linie der Zivilverwaltung durchgesetzt. Nicht unwidersprochen in der anschließenden Diskussion blieb schließlich Wolfs Bezeichnung der „Deutschen Volksliste“ als bevölkerungspolitisches „Inklusionsinstrument“.
Im Unterschied hierzu dominierte bei einer anderen bevölkerungspolitischen Institution, der von Heydrich initiierten „Einwandererzentralstelle Litzmannstadt“ (EWZ) eindeutig das „rassische“ Prinzip, wie ANDREAS STRIPPEL (Hamburg) in seinem anschließenden Beitrag über die EWZ und ihre Rolle in der deutschen Selektions- und Einbürgerungspolitik zeigte. Hier habe man sich bei der Klassifizierung der Bevölkerung grundlegend an den rasssenkundlichen Schemata Hans F.K. Günthers und anderer prominenter NS-Rassenforscher orientiert, hinter die selbst die eugenischen Ansprüche partiell hätten zurücktreten müssen.

Dass der Apparat Himmlers in seiner Funktion als „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ (RKF) als entscheidende Instanz der gesamten nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik angesehen werden muss, betonte ALEXA STILLER (Hannover). Zumindest bis Himmler 1943 als Reichsinnenminister Zugriff auf staatliche Stellen erlangte, habe der RKF die ethnischen Säuberungen in den besetzen Gebieten zentral koordiniert; insofern, so Stillers Schlussfolgerung, ließe sich Götz Alys Herleitung der Mordpolitik aus einem Scheitern der völkischen Neuordnungspläne nicht halten oder müsse zumindest revidiert werden.

DIETER GOSEWINKEL (Berlin) betonte in seinem abschließenden Kommentar zur zweiten Sektion noch einmal die terminologische Inkohärenz der Kategorien „Volk“ und „Rasse“ innerhalb der völkischen Wissenschaften. So zeuge gerade die Praxis der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik davon, dass der Rassengedanke letztlich bloß als nützliche Fiktion der radikalen Selektions- und Segregationspolitik gedient habe und auch auf diesem Terrain von einem Primat des Politischen über das Ideologische auszugehen sei.

In der dritten Sektion, die von Ingo Haar (Wien/Berlin) moderiert wurde, ging es um die Zusammenhänge der in den 1930er-Jahren institutionalisierten „Judenforschung“ mit der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. So verdeutlichte zunächst DIRK RUPNOW (Wien) in seinem einleitenden Überblick über die zentralen Instanzen der „Judenforschung“ die Einbindung dieser Einrichtungen in die antisemitische Politik. Dabei zeigte er deren doppelte Verankerung sowohl in akademischen – zumeist der Theologie und Orientalistik zugeordneten – als auch außerakademischen Einrichtungen. Trotz interdisziplinärer Ausrichtung und der Zusammenarbeit mit nationalsozialistischen Anthropologen sei die „Judenforschung“ von Historikern und Theologen dominiert worden; entsprechend habe man auf diesem Gebiet den geistig-metaphysischen, auf historische Argumentationsfiguren rekurrierenden Rassenbegriff gegenüber dem rein anthropologischen vorgezogen. Hinsichtlich der Kontinuitätsfrage war schließlich insbesondere Rupnows These von der Geburt der philosemitischen Nachkriegsjudaistik aus der antisemitischen „Judenforschung“ aufschlussreich, haben doch einige der ehemaligen NS-Judenexperten nach 1945 in diesem Fach ihr Auskommen gefunden. Beispielhaft verwies er in diesem Zusammenhang auf die Nachkriegskarriere des einstigen Heidelberger Professors für „Judenforschung“ Karl Georg Kuhn als renommierter Qumranforscher.

Anschließend befasste sich MATTHIAS BERG (Berlin) mit dem wohl prominentesten „Judenforscher“, Wilhelm Grau, und dessen Transformation der „jüdischen Geschichte“ in das dezidiert antisemitisch ausgerichtete Forschungsfeld „Geschichte der Judenfrage“. Berg ging dabei der Frage der Wissenschaftlichkeit von Graus Ansatz nach und zeigte anhand der positiven Rezeption seiner Elaborate in der Fachwissenschaft, dass diese in zeitgenössischer Perspektive durchaus als wissenschaftlich anerkannt wurden.

Dass zentrale Denkfiguren der nationalsozialistischen „Judenforschung“ auch noch in der bundesdeutschen Sozialgeschichte ihre Spuren hinterlassen haben, zeigte anschließend WERNER LAUSECKER (Wien) anhand Werner Conzes Bild des osteuropäischen Judentums vor und nach 1945 auf. Lausecker verglich Conzes Studien zur Bevölkerungsstruktur Osteuropas im Rahmen der nationalsozialistischen „Ostforschung“ mit späteren sozialhistorischen Aufsätzen zum gleichen Gegenstand und wies zahlreiche Parallelen und identische Denkfiguren nach; vor allem habe Conze bis zuletzt an der Behauptung einer negativen Funktion der Juden für die Wirtschaftsstruktur Osteuropas (Topos des „jüdischen Wucherers“) festgehalten.

Im abschließenden Kommentar zur dritten Sektion stellte NICOLAS BERG (Leipzig) die Frage nach dem wissenschaftsgeschichtlichen Ort der nationalsozialistischen „Judenforschung“ und situierte deren zentrale Paradigmata und Denkfiguren im weiteren ideengeschichtlichen Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts. In Anlehnung an George L. Mosses wegweisender Studie zur Geschichte völkischen Denkens verwies Berg dabei beispielhaft auf den Zusammenhang des Topos der jüdischen „Natur-“ und „Raumfremdheit“ (dessen Nachhaltigkeit Lausecker zuvor anhand Conzes aufgezeigt hatte) mit der romantisch-nationalistischen Landschaftsmythologie des 19. Jahrhunderts. Als Teil eines binären Ausspielungsmusters seien Begriffe wie „deutsche Landschaft“ – und, so ließe sich hinzufügen, „deutscher Wald“ – zum zentralen Bestandteil einer antisemitischen Semantik avanciert, die auch ohne expliziten Verweis auf das Jüdische von den Diskursteilnehmern noch als solche erkennbar gewesen seien (diese Struktur hat Eva-Maria Ziege in ihrer Studie zum völkischen Antisemitismus vor einigen Jahren treffend als „mythische Kohärenz“ bezeichnet). Auch die anschließende Diskussion drehte sich um die Frage nach den Kontinuitäten derartiger ideologischer Strukturen. Hier verwies etwa Peter Schöttler auf den Zusammenhang antisemitischer und antiwestlicher Ausspielungsmuster und behauptete, gerade antifranzösische Denkfiguren hätten in der Geschichte der bundesdeutschen Sozialgeschichte eine konstitutive Rolle gespielt.

Unter der Moderation GERHARD BAADERS (Berlin) befassten sich die Referenten der vierten Sektion mit dem Themenkomplex „Rassenhygiene, Anthropologie und Bevölkerungswissenschaften 1918/19-1945“ sowie mit Fortleben und Transformation der Kategorie „Rasse“ in den Natur- und Sozialwissenschaften bis heute. Der erste Beitrag von KATJA GEISENHAINER (Leipzig) beschäftigte sich mit dem NS-Engagement des Anthropologen und Ethnologen Otto Reche und wies hier insbesondere auf die Bedeutung von dessen Blutgruppenforschung in Abstammungsgutachten zwecks Nachweises der „arischen“ Herkunft hin. Dass Reche nach 1945 seine Tätigkeit als Sachverständiger – ausgerechnet in Vaterschaftsgutachten – wieder aufnehmen konnte, zeugt schließlich von einem hohen Maß an Kontinuität auf diesem Feld.

Auch der Rassenforscher und Anthropologe Egon Freiherr von Eickstedt, mit dem sich DIRK PREUSS (Jena) befasste, galt als Fachmann in rassischen Abstammungsfragen und war entsprechend ebenfalls als Gutachter für NS-Institutionen sowie als Berater bei der Umsetzung der Rassengesetzgebung tätig. Im Zentrum von Preuss’ Beitrag standen Eickstedts umfangreiche rassenkundliche Untersuchungen in Schlesien und die für die Rassenforschung charakteristische Vermischung von anthropologischen, psychologischen und historischen Spekulationen.

Hatten sowohl Reche wie von Eickstedt ihren disziplinären Hintergrund in Anthropologie und Ethnologie, so kam Friedrich Burgdörfer – die zentrale Figur der nationalsozialistischen Bevölkerungswissenschaft – von der Nationalökonomie. THOMAS BRYANT (Berlin) wies in seinem Beitrag allerdings auf die Nachrangigkeit der Kategorie Rasse bei Burgdörfer hin und bezeichnete ihn als „Rassisten ohne Rassenbegriff“. Zudem widersprach er Einschätzungen etwa Stefan Kühls, wonach Burgdörfer zu den wichtigsten nationalsozialistischen Eugenikern gerechnet werden müsse. Der Beitrag Burgdörfers liege hingegen generell in der Einführung qualitativer, biologischer Merkmale in die Bevölkerungswissenschaft, und in diesem Sinne erlebten dessen Kategorien gerade in den aktuellen Diskussionen über die Risiken des „demographischen Wandels“ eine Renaissance.

Abschließend betonte SABINE SCHLEIERMACHER (Berlin) in ihrem Kommentar zu den Beiträgen der vierten Sektion nochmals, dass es sich bei den Rassenwissenschaften keineswegs um bloße Pseudowissenschaften gehandelt habe, sondern ihre Methoden und Prämissen durchaus den damaligen Maßstäben entsprochen hätten. Gerade Rassenhygiene und Bevölkerungswissenschaft seien junge, dynamische Disziplinen gewesen, deren Selbstverständnis auf ihrer praktischen Anwendbarkeit beruht habe und die insofern die sich nach 1933 bietenden Möglichkeiten, den eugenischen „Rassenstaat“ zu verwirklichen, am Schopfe gepackt hätten.

Die abschließende fünfte Sektion behandelte unter der Moderation HANS HENNING HAHNS (Oldenburg) die Kontinuitäten und Brüche völkischer Denkmuster in Wissenschaft und Politik nach 1945. Zunächst befasste sich SAMUEL SALZBORN (Gießen) mit Fortwirken und Transformation völkischer Vorstellungen in der Vertriebenenforschung der Nachkriegszeit. Dabei zeigten sich in der Propagierung des „Rechtes auf Heimat“ und des „Volksgruppenparadigmas“ sowohl Elemente der Kontinuität als auch des Wandels älterer Vorstellungen von „Blut und Boden“. Einen gewichtigen Unterschied machte Salzborn etwa in der Abkehr von der Fixierung auf den Staat aus, wohne doch dem Volksgruppenparadigma immer schon ein antietatistisches Element inne.

Die beiden folgenden Beiträge zeigten den Prozess von Kontinuität und Bruch anhand zweier wissenschaftlicher Institutionen, die in der bundesdeutschen Ost- und Ostmitteleuropaforschung bis heute eine wichtige Rolle spielen. Zunächst schilderte JÖRG HACKMANN (Greifswald/Chicago), selbst im Vorstand des Herder-Forschungsrats, die Entstehung dieser Einrichtung aus dem Geist und mit dem Personal der nationalsozialistischen „Ostforschung“. So seien im Herder-Forschungsrat bis Ende der 1980er-Jahre unkritisch ältere völkische Vorstellungen tradiert worden und erst in den 1990er-Jahren habe man diesbezüglich einen Bruch vollzogen. Von einem weitgehend analogen Prozess wusste anschließend auch TOBIAS WEGER (Oldenburg) zu berichten, der sich mit der Entstehung des Münchener Collegium Carolinums aus der „Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung“ beschäftige.

Im letzten Beitrag dieser Sektion zeigte JIRI NEMEC (Brno) anhand einer biographischen Fallstudie über den Kirchen- und Osteuropahistoriker Eduard Winter die Ambivalenz und Undurchsichtigkeit von Karrieren und Biographien auf: Winter, aus der nationalistischen katholisch-sudetendeutschen Jugendbewegung kommend, fungierte nach seiner endgültigen Lösung von der katholischen Kirche als nationalsozialistischer Experte für osteuropäische Kirchen- und Religionsgeschichte, zu dessen Tätigkeit auch „kriegswichtige“ Einsätze in der Ukraine gehörten; anders als seine Weggefährten setzte Winter seine Kariere nach dem Krieg dann aber in der DDR fort, wo er zu einem führenden Osteuropahistoriker avancierte.

Im abschließenden Kommentar hob PETER THOMAS WALTHER (Berlin) als wichtiges Moment der Kontinuität völkischer Paradigmen nach 1945 die Rolle der kollegialen Solidarität unter den Protagonisten hervor. So wie es 1933 einen – raschen – „Lernprozess“ in die völkischen Wissenschaften hinein gegeben habe, so bedurfte es nach 1945 eines – allerdings sehr viel langwierigeren – umgekehrten Prozesses. Die zukünftige Erforschung dieses Themenkomplexes sollte zudem sehr viel stärker nach der intellektuellen und paradigmatischen Attraktivität völkischer Denkformen in den Wissenschaften fragen.

Dies setzt freilich eine Einbettung der völkischen Wissenschaften in den weiteren politischem, wie ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext voraus, wie sie in den Diskussionen im Anschluss an die Einzelsektionen auch vielfach als Perspektive für die künftige Forschung eingefordert wurde. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, inwieweit die geschilderten Vorstellungskomplexe gewissermaßen einen wissenschaftsgeschichtlichen deutschen Sonderweg darstellten oder nicht eher als radikale Varianten gesamteuropäischer Tendenzen begriffen werden müssen, die nur unter den spezifischen Bedingungen der NS-Herrschaft in den Einzeldisziplinen hegemonial und schließlich in mörderischer Praxis zur „Anwendung“ gelangen konnten.

Neben dieser vergleichenden Perspektive bezogen sich viele Fragen auf die Herkunft zentraler Ideologeme der völkischen Wissenschaften. Von Bedeutung ist hier zweifellos der im Kontext der Tagung eher weit gefasste Begriff des Völkischen selbst. Die Beiträge waren vorwiegend auf den Nationalsozialismus bezogenen, wobei der Begriff ‚völkisch’ in diesem Zusammenhang nicht problematisiert wurde. Anzuregen wäre an diesem Punkt eine stärkere Rezeption der jüngeren Forschung zur völkischen Bewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, die sich gerade der Frage nach dem durchaus komplexen Verhältnis der Völkischen zum Nationalsozialismus angenommen hat. Eine weitere Perspektive bestünde in der Einbeziehung außerakademischer Diskurse als Forschungsgegenstand, nicht nur was die Vor-, sondern gerade auch was die Nachgeschichte der völkischen Wissenschaften betrifft. So ließe sich fragen, ob und inwieweit zentrale Paradigmen und Vorstellungskomplexe der völkischen Wissenschaften nach 1945 in die außerwissenschaftliche allgemeine Sachbuchliteratur oder Populärkultur eingeflossen sind und dort nach wie vor prägend sind. Möglicherweise wären diese Zusammenhänge von neuen Beiträgern für den geplanten Supplementband des „Handbuchs“ aus den Disziplinen Archäologie, Religionswissenschaft und Psychologie angesprochen worden, die auf der Konferenz aber leider noch nicht vertreten waren.

Hinsichtlich des im Zentrum der Veranstaltung stehenden Komplexes völkische Wissenschaft und Politik wurden durch die Fülle der Beiträge und die Diskussionen jedoch zweifellos disziplinübergreifende Muster und Kontinuitätslinien deutlich. Dies bezieht sich insbesondere auf die wechselseitige Verflechtung von Kategorien wie „Volk“ und „Rasse“ im politischen Diskurs und in den Humanwissenschaften, die Funktion wissenschaftlicher Expertisen bei der Umsetzung der verbrecherischen NS-Politik sowie auf die fortwährende Präsenz zentraler völkischer Denkmuster in den Wissenschaften der Nachkriegszeit.

Konferenzübersicht:

Ansprachen und Buchvorstellung durch Wolfgang Benz, Klaus G. Saur, Ingo Haar und Michael Fahlbusch/Begrüßung und Ansprache durch Ingo Haar und Robert Traba

Sektion I: Ost-, West- und Südostforschung 1918/19-1945

Thomas Müller/Aachen: Westforschung und Grenzziehungspolitik gegen Frankreich (1918-1944/45)

Markus Krzoska/Gießen: Profilierung, Anpassung, Radikalisierung. Zur Entwicklung der »Ostforschung« vor 1945

Michael Wedekind/Münster: »Südostforschung« und die NS-Expansion nach Jugoslawien 1939-1944/45.

Karl Kegler/Aachen: Raumordung als »Volksordnung«. Walter Christallers Konzept der zentralen Orte als methodische Menschenökonomie

Jan M. Piskorski/Szczecin: Kommentar

Sektion II: »Judenforschung« und -verfolgung 1933-1945

Dirk Rupnow/Wien: »Judenforschung« im Nationalsozialismus

Matthias Berg/Berlin: Wilhelm Grau und die Konzeption der »Geschichte der Judenfrage« im Nationalsozialismus

Werner Lausecker/Wien: Werner Conze und das Bild von osteuropäischen Juden in »Ostforschung« und Sozialgeschichte vor und nach 1945

Nicolas Berg/Leipzig: Kommentar

Sektion III: Politikfelder 1918-1945. Von der Revisionspolitik gegen den Versailler Vertrag bis zur Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg

Hans-Werner Retterath: ans Steinacher: Völkischer »Abwehrkampf« mit allen Mitteln. Zur Biografie eines »Opfers« der NS-Volkstumspolitik

Gerhard Wolf/Berlin: Die Deutsche Volksliste in der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik (1939-1944) und ihre Expertise

Andreas Strippel/Hamburg: Die Einwandererzentrale Litzmannstadt und die deutsche Selektions- und Einbürgerungspolitik (1939-1944)

Alexa Stiller/Hannover: Der Apparat des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums: Zusammenarbeit von SS und Wissenschaftlern

Dieter Gosewinkel/Berlin: Kommentar

Sektion IV: Rassenhygiene, Anthropologie und Bevölkerungswissenschaften 1918/1919-1945

Katja Geisenhainer/Leipzig: Otto Reches Rassenkunde als Leitwissenschaft und Basis seines Engagements für den NS-Staat

Dirk Preuss/Jena: Zur »Bevölkerungsbiologie« des »deutschen Ostens« bei Freiherr von Eickstedt

Thomas Bryant/Berlin: Burgdörfer und der Rassen-Begriff in der amtlichen Bevölkerungstatistik des »Dritten Reiches«

Sabine Schleiermacher/Berlin: Kommentar

Sektion V: Kontinuitäten und Brüche nach 1945

Samuel Salzborn/Gießen: Vertriebenenforschung im Kontext von Heimatrecht- und Volksgruppenparadigma (1918-1960)

Jörg Hackmann/Chicago: Von der »Ostforschung« zur Osteuropaforschung: der Johann Gottfried Herder-Forschungsrat und -Institut von 1945 bis heute

Tobias Weger/Oldenburg: Sudetendeutsche Heimat- und Vertriebenenforschung: Von der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung zum Collegium Carolinum

Jiri Nemec/Brno: Eduard Winter und seine zwei Karrieren: von der Reinhard-Heydrich-Stiftung zur Berliner Akademie der Wissenschaften der DDR

Peter Thomas Walther/Berlin: Kommentar

Wojciech Kunicki/Wroclaw: Schusswort

Kontakt

Felix Wiedemann
Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften
Freie Universität Berlin
E-Mail: <fj.wiedemann@freenet.de>


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts