Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert

Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens Deutsches Historisches Institut Rom Kulturabteilung der Italienischen Botschaft Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.06.2008 - 28.06.2008
Von
Sanela Hodžić, Universität Bern

Die Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens richtete vom 26. bis 28. Juni 2008 in Berlin in Verbindung mit dem Deutschen Historischen Institut Rom, der Kulturabteilung der Italienischen Botschaft und dem Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas in dessen Räumen ihre alle zwei Jahre stattfindende Tagung aus. Das diesjährige Thema lautete „Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert“. Ein verbindendes Element zwischen den Beiträgen stellte die Frage nach der Integration der Bevölkerung bzw. danach, welche Rolle die sogenannten Massen bei der Entstehung und Festigung des italienischen Nationalstaates spielten.

Den Auftakt der Tagung bildete eine Neuerung: die Freie Sektion. So soll vor allem NachwuchswissenschaftlerInnen die Möglichkeit gegeben werden, ihre aktuellen Forschungen auch außerhalb des Rahmenthemas vorzustellen.

Unter dem Vorsitz von Christof Dipper (Darmstadt) Stellte ANTJE DECHERT (Köln) einen Auszug aus ihrer kürzlich eingereichten Dissertation zu Filmstars und Körperdiskursen in Italien von 1930 bis 1966 vor. In ihrem Vortrag „É nata una stella. Starkult in Cinecittà“ zeigte sie, wie Filmstars den Wandel der Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit nachvollziehen, wobei die politische Zäsur von 1943/45 in dieser Hinsicht keine Rolle spielt. An Marcello Mastroiannis Rollenwandel vom virilen Don Giovanni zum „verführten Latin Lover“ zeichnete sie das Aufbrechen der Geschlechterrollen während der Phase des boom economico nach. Während Mastroiannis Filme in den 50er Jahren das damals traditionelle Ende des männlichen Siegers aufweisen, prägte sie in den 60er Jahren ein Krisennarrativ, das Ausdruck des Zusammenbruchs der männlich dominierten Ordnung sei. Mastroiannis Filme visualisieren so die Spannungen und Konflikte, die sich im Zuge der auch in Italien damals schon spürbaren Verschiebung Geschlechterrollen ergaben.

Seit einem Jahr erforscht FIAMMETTA BALESTRACCI (Trient) Leben und Werk des Florentiner Professors für Zeitgeschichte Enzo Collotti und stellte nun erste Ergebnisse unter dem Titel „Enzo Collotti lo storico del Nazismo e le due Germanie“ vor. Sie bettete sein Werk in die kulturellen und politischen Zusammenhänge der Nachkriegszeit und seine persönliche Erfahrung der Besatzung ein. Collottis Ruf als der bedeutendste italienische Deutschlandhistoriker beruhe dabei nicht nur auf seiner intellektuellen Bedeutung und schriftlichen Produktivität, sondern auch auf seiner Rolle als Konfliktperson. Der sich über die Jahrzehnte ergebende bzw. verschärfende Kontrast zwischen wissenschaftlicher Leistung und politischer Einstellung Collottis blieb in diesem Beitrag ein Stück weit unaufgelöst und wurde entsprechend kontrovers diskutiert.

Dass die Tagungen der AG Italien sehr anregend sein können, bewies MALTE KÖNIG (Saarbrücken), da sein Beitrag „Franco Basaglia und das Gesetz 180. Die Auflösung der psychiatrischen Anstalten in Italien 1978“ auf Anregungen der vergangenen Tagung zurückgeht. Vor der Reform des Jahres 1978 basierte der Umgang mit den psychisch Kranken auf einer Gesetzgebung, die bis 1904 zurückreicht und den Schutz der Gesellschaft vor den „Irren“ verabsolutierte. Eine Therapie war nicht vorgesehen. Die Zustände in den Anstalten waren derart schlimm, dass Basaglia daraus den Schluss zog, sie seien unreformierbar und müssten aufgelöst werden; die Kranken sollten in die Gesellschaft zurückgeführt werden. König zeichnete nach, wie es Basaglia gelingen konnte, seine radikalen Forderungen umzusetzen. Das Gesetz 180 stellt dabei einen Kompromiss dar, dessen Umsetzung zwar sehr mangelhaft erfolgte, jedoch vielleicht gerade deshalb noch heute, d.h. in Zeiten erheblicher therapeutischer Erfolge, unverändert in Kraft ist. In der Diskussion wurde vorgeschlagen, dieses Thema in den Kontext der Psychiatriegeschichte zu stellen und den Vergleich mit anderen europäischen Staaten zu wagen, um die ganze Bedeutung dieses wohl einmaligen Gesetzes zu erkennen.

Den inzwischen schon traditionellen Abendvortrag hielt diesmal MARCO MERIGGI (Neapel/Berlin). Er sprach über „Cittadinanza, masse e nazione nell’Ottocento italiano“ und ließ dafür in einem dreifachen Durchgang die Einstellung der Risorgimentoeliten zur Rolle der Volksmassen, die sogenannte Sachgeschichte und die wechselhaften Aussagen der Geschichtswissenschaft Revue passieren, nachdem er einleitend durch einen spannenden Problemaufriss zum Begriff der „Masse“ Grundsätzliches zum Thema der Tagung ausgeführt hatte. Nur streifen konnte er die Mobilisierungsmöglichkeiten, das heißt den Grad der Literarität und die Anzahl von Zeitungslesern. Meriggi kam zu dem Schluss, dass „einige Zehntausend“ sich aktiv am Risorgimento beteiligt hätten und fragte, ob dies viel oder wenig sei. Im Vergleich zu Frankreich (Revolution) und den USA (Bürgerkrieg) habe Italien weit zurückgelegen. Aber auf der Halbinsel waren die Liberalen die einzigen ernsthaften Träger der Nationalbewegung, das heißt eine politische Richtung, die zwar von der notwenigen Nationalisierung der Massen sprach, aber als Gruppe eine winzige Minderheit darstellte, die unter sich bleiben wollte. Dieser komplexe Sachverhalt sei von der Forschung noch nicht hinreichend gewürdigt. Auch Meriggi bot keine eindeutige Antwort an, schärfte jedoch das Problembewusstsein und spannte mit dem Stichwort Volksmasse den roten Faden, der sich durch die gesamte Tagung ziehen sollte.

Die Sektion am Freitagvormittag wurde von Marina Cattaruzza (Bern) geleitet. Zunächst stellten CAMILLA WEBER (Regensburg) und SIMONE STEINMEINER (Paderborn) ihre Dissertationen zum „Risorgimento in italienischen Schulbüchern“ vor. Zusammen decken die Referentinnen den Zeitraum von 1860 bis zur Gegenwart ab, wobei der Faschismus ausgeklammert bleibt. In ihren Vorträgen beschränkten sich beide auf die Darstellung Cavours, um eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Camilla Weber untersuchte die Jahre von 1860 bis 1923 und kam zu dem Ergebnis, dass sich die die Darstellung Cavours über den gesamten Zeitraum nur wenig wandelte. Weder wurde dem Risorgimento viel Raum gegeben, noch kam Cavour dabei die entscheidende Rolle zu. Immerhin wurden ab 1890 die Dissonanzen zwischen ihm, Viktor Emanuel II. und Garibaldi thematisiert. Simone Steinmeiers Referat reichte von 1945 bis fast in die Gegenwart. In diesen Zeitraum fallen erhebliche politische und didaktische Zäsuren. Unmittelbar nach dem Krieg nimmt das Risorgimento nun einen großen Teil des Unterrichts ein und Cavour ist die bestimmende Person. Von 1965 bis 1980 erscheinen zunehmend Schulbücher, die einerseits der Strukturgeschichte verpflichtet sind, andererseits das Tableau der Personen erweitern. Seit 1980 schließlich wenden sich die Schulbücher verstärkt der didaktischen Vermittlung zu, Cavours Person weist in der Gegenwart ein größere Bandbreite an Zuschreibungen auf als jemals zuvor.

Eine transnationale Perspektive nahm JENS SPÄTH (München) in seinem weit ausholenden Vortrag „Zwischen Europäisierung und Nationalisierung. Die Verfassungsrevolutionen von 1820/21“ ein. Ausgehend von der Verfassung von Cádiz aus dem Jahre 1812 zeichnete er kurz die Verfassungsmodelle des europäischen Frühliberalismus nach, um dann in zehn Thesen die Einordnung und Kontextualisierung der Verfassungsrevolten von 1820/21 im Königreich Neapel-Sizilien vorzunehmen. Das Königreich Sardinien-Piemont spielte aus Zeitgründen eher eine Rolle am Rande. In seinen Thesen behandelte Späth unter anderem Aspekte wie Organisationsformen, Trägergruppen, Verhalten der Monarchen und, damit zusammenhängend, Verfassungskultur und Kommunikationsstrategien. Die nationale Frage spielte keine Rolle, denn sie wurde in Süditalien damals nicht gestellt.

MICHAEL STRAUß (Freiburg/Brsg.) stellte in seinem Beitrag „Bologna nazione! Ceto dirigente und Revolution im nördlichen Kirchenstaat 1831“ Erkenntnisse aus seiner Magisterarbeit vor. Vor dem Hintergrund einer keinesfalls einfachen Forschungslage, sich widersprechender Zeitzeugenberichten und großer Unterschiede zwischen Modena und Bologna kam er aufgrund eigener Archivrecherchen zu dem Schluss, dass die Revolution in Bologna von der städtischen Oberschicht und nicht von dem Geheimbund der Carboneria angeführt wurde. Strauß vertritt die These, dass es sich um eine Verfassungsrevolution gehandelt habe, mit der die Eliten ihre Einbindung in die Regierung des Kirchenstaates durchsetzen wollten. Dementsprechend kompromissbereit seien sie gegenüber der Kirche gewesen, während sie in den Demokraten ihren Hauptgegner erblickten. In Bologna kam es deshalb erstmals zu dem in der weiteren Geschichte des Risorgimento so bedeutsamen Konflikt zwischen Demokraten und Moderati. In Modena konnte von alledem keine Rede sein, hier habe das bürgerliche Element überwogen. Gescheitert ist die Revolution bekanntlich auch dort.

Die Sektion am Nachmittag, von Oliver Janz moderiert, schloss zunächst mit dem Vortrag von JAN-PIETER FORSSMANN (Berlin) zu „Publizistik in der Toskana während der Revolution 1848“ an die Revolutionsthematik an. Er stellte sein Thema in den Spannungsbogen von Pressezensur bis 1847 und 1848 dennoch sofort entstehenden (Gesinnungs-) Parteien. Er erklärt das mit der kryptopolitischen Funktion der Arbeit an kulturellen oder auch unterhaltenden Journalen. Sie habe die zügige Umstellung auf politische Zeitschriften erlaubt, die 1848 sogleich in großer Zahl gegründet wurden. Forßmann gliedert die Revolution in drei Phasen: An den Reformprozess bis Februar 1848 schloss sich eine Phase zwischen März und August an, in der die Differenzen über die Ziele der Revolution zu Tage traten, die mit der Spaltung der Presse nach dem Zusammentritt der Verfassunggebenden Versammlung in der dritten Phase endete. Dabei führte die Verbindung von Presse und Politik zu einem Prozess der Reduzierung auf einen tagespolitischen Schlagabtausch. Auch in diesem Beitrag wurde deutlich, wie beschränkt das Mittel der politischen Publizistik als urbanes Phänomen in der Zeit doch eigentlich war und wie gering folglich die politische Erschließung der Massen bleiben musste.

Die beiden folgenden Beiträge galten politischen Mythen im Nationalisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts. FERDINAND GOEHDE (Berlin) stellte auf der Grundlage seiner Magisterarbeit den „Balilla-Mythos (1746-1881)“ vor. Leiten ließ er sich dabei von der Frage, was mit dem Mythos erzählt werde, der sich auf den genuesischen Aufstand gegen die österreichisch-piemontesische Besatzung bezieht. Ab den 1830er Jahren entstand eine Literatur, die dem ursprünglich namenlosen Knaben zur gesamtitalienischen Symbolfigur des bewaffneten Kampfes gegen die tedeschi verhalf. Dazu steht die Entwicklung in Genua in merkwürdigem Kontrast, denn in der Ursprungsstadt spaltete sich die Erinnerung in eine offiziöse, die Kirche einschließende traditionelle Festpraxis einerseits und improvisierte Erinnerungsformen im kleinbürgerlichen und von Arbeitern bewohnten Stadtviertel Portoria andererseits. Die historische, mit der gegenwärtigen Rolle Turins heftig kontrastierende Wahrheit war an diesem Konflikt wesentlich beteiligt. Erst das politische Ende der Destra storica erlaubte 1881 die Zusammenführung beider Festpraktiken und die offizielle Einweihung des bereits 1863 errichteten Denkmals.

JESSICA KRAATZ MAGRI (Berlin) präsentierte unter dem Titel „Si scopron le tombe, si levano i morti ... Zur Konstruktion und Funktion eines politischen Heldenmythos: Giuseppe Garibaldi 1882-1948“ die Ergebnisse ihrer Dissertation. Ausgehend von dem Phänomen, dass fast alle politischen Lager von Garibaldi Gebrauch machten, ging sie dem Spannungsverhältnis zwischen dem den Nationalstaat legitimierenden und delegitimierenden Mythos nach. Sie zeichnete verschiedene Konstrukte des Mythos nach und betonte, dass der Garibaldikult im späten 19. Jahrhundert zur Mobilisierung der urbanen Bevölkerung führte und damit auch zur Nationalisierung und Politisierung dieser „Massen“ beitrug, die sich allerdings auf Garibaldi auch immer als Symbol einer radikalen Alternative bezogen. Im Faschismus diente der Garibaldi-Mythos u. a. der historischen Legitimation der charismatischen Führerherrschaft und der Selbstinszenierung des Regimes als Vollender des „unvollendeten“ Risorgimento. In der Resistenza tauchte Garibaldi hingegen wieder als Chiffre der Idee eines „anderen“ Italien auf. An Garibaldi lässt sich also zeigen, dass selbst ein derart auf die Massen orientierter Mythos in ganz unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Weise narrativ, symbolisch und rituell fungibel gemacht werden konnte.

Zuletzt sprach SIMONETTA SOLDANI (Bologna) über “Le donne e la nazione nel XIX e XX secolo”. Sie nahm dabei sehr explizit Bezug auf das Thema der Tagung und gliederte ihren Vortrag in einen der Nationalisierung der Frauen und einen der Folgen der Nationalstaatsbildung gewidmeten Teil. In beiden legte sie sich, ohne das direkt auszusprechen, mit den für sakrosankt geltenden Grundüberzeugungen namentlich des älteren Feminismus an, jedenfalls soweit es die Geschichte bis in die 1880er Jahre betrifft. Frauen hatten einen wesentlichen Anteil am Risorgimento, der Zusammenhang zwischen weiblicher Emanzipation und Nationalisierung war ausgesprochen eng. Wie selbstverständlich sprach man bis in die 1850er Jahre von den donne dell’Italia, wenn es um die tragenden Kräfte des Befreiungswerkes ging. Die Kriege haben dann allerdings zu einer Passivierung der Italienerinnen geführt, fortan bezeichnet man sie eher als die madri degl’eroi oder dei martiri. Noch provokanter war Soldanis These, dass Frauen von der Nationalstaatsbildung besonders profitiert hätten. Namentlich seit dem 1865 verabschiedeten Zivilgesetzbuch war die Situation der italienischen Frauen im europäischen Vergleich fortschrittlich. Aber auch der Bildungssektor öffnete sich ihnen: Frauen dürfen in Italien seit 1876 studieren, in Deutschland erst seit rund hundert Jahren. Mit der Wahlreform von 1883 trat jedoch ein Kurswechsel ein, der sich in der Regierungszeit Giolittis verschärfte und im Faschismus eine pointierte Fortsetzung fand.

Die abschließende Sektion am Samstagmorgen wurde von Gabriele Clemens geleitet und führte thematisch vom 19. in das 20. Jahrhundert. In seinem Vortrag über die Rezeption der deutschen Wissenschaft und Universitätsverfassung in Italien zwischen 1860 und 1915 wies FRANCESCO MARIN (Stuttgart) nach, welche große Bedeutung dem „deutschen Modell“ bei der Konstruktion einer nationalen italienischen Wissenschaft zufiel. Das als deutsch identifizierte Ideal von Wissenschaftlichkeit fungierte als omnipräsenter Bezugspunkt in den Debatten um die Krise des italienischen Hochschulwesens. Erheblich war die Zahl der aus dem Deutschen übersetzten Handbücher, ebenso die der Stipendiaten. Über 20 Prozent der Hochschullehrer, die um die Jahrhundertwende an italienischen Universitäten unterrichteten, waren daher über Stipendienprogramme in Deutschland ausgebildet worden. Doch ab 1900 wurde das bis dahin so bewunderte deutsche Modell auch immer stärker zum Feindbild, gegen das es eine vermeintlich italienische Wissenschaft zu behaupten gelte. Bemüht wurden dabei Stereotype wie „deutsche Disziplin“ gegen „italienische Genialität“. Marin machte deutlich, dass ein antideutscher Nationalismus schon lange vor dem Krieg die innerwissenschaftlichen Selbstverständigungsdebatten bestimmte.

Auch in ULRICH WYRWAs (Berlin) Referat ging es um die Bedeutung von Intellektuellen bei der Entstehung und Propagierung nationalistischer Ideologien. Durch eine detaillierte Lektüre verschiedener Zeitschriften rekonstruierte Wyrwa die „Entstehung des integralen Nationalismus in Italien und die Frage des Antisemitismus“ von den ersten Zeichen einer ausformulierten nationalistischen Haltung im florentinischen Il Marzocco um 1896 über die Präzisierung der nationalistischen Rhetorik in der Zeitschrift Il Regno bis hin zur Gründung der Associazione Nazionalista Italiana 1910. Insbesondere im Vergleich zur deutschen Geschichte fällt auf, dass der italienische integrale Nationalismus im Wesentlichen nicht antijüdisch argumentierte. Erst ab 1911/12 wurden antisemitische Töne unter italienischen Nationalisten zunehmend lauter. Im Annäherungsprozess zwischen Nationalisten und Liberalen auf der einen Seite und Katholiken auf der anderen Seite avancierte „der Jude“ zum gemeinsamen Feindbild. Wyrwa schloss daraus, dass der Antisemitismus schon 1914 in der politischen Kultur Italiens angekommen sei.

In ihrem Beitrag „Nazionalizzazione conflittuale: il confine orientale italiano 1915-1954” stellte MARINA CATTARUZZA (Bern) ihr kürzlich erschienenes Buch vor, das die so ganz anders als im übrigen Italien verlaufende Nationalisierung an der östlichen Grenze Italiens behandelt. Dabei betonte sie, dass das österreichische Erbe besonders wichtig sei, um die Prozesse im östlichen Grenzbereich Italiens zu verstehen. Da in Österreich-Ungarn die Nationalisierung nicht vom Staat betrieben worden war, sondern von gesellschaftlichen Kräften (Presseorganen, Interessengruppen, Sprach- und Volkstumsforschern usw.), sind hier Konflikte entstanden, die auch für die Nachfolgestaaten eine Rolle spielten. Die konfliktträchtige Nationalisierung vollzog sich als ein Kampf um die Kontrolle über das Territorium, die Ressourcen und die symbolische Ordnung zwischen den verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen bzw. deren jeweiligen Eliten. Die vom italienischen Staat eingesetzten Ressourcen reichten nicht aus, um das Gebiet zu kontrollieren und die slowenischen und kroatischen Eliten konnten Einfluss auf ihre Nation ausüben. Cattaruzza kritisierte zu Recht, dass bis heute die Geschichte dieser Grenzgebiete meist nur als Regionalgeschichte betrieben wird, obwohl diese Territorien für die Geschichte des italienischen Nationalstaates und vor allem des Nationalismus von enormer Bedeutung waren. Dabei bietet die Venezia Giulia ein interessantes case study für die Analyse der strukturellen Schwächen des italienischen Nationalstaates.

Dem eigentümlichen Umgang mit der Leiche Benito Mussolinis wendete sich VERENA KÜMMEL (Darmstadt/Münster) in ihrem Vortrag „Die 7 Körper des Duce“ zu. Von Sergio Luzzattos Studie ausgehend rekonstruierte sie die Etappen eines Bestattungszeremoniells, das am 29. April 1945 in Mailand auf dem Piazzale Loreto begann und erst im August 1957 zu seinem Ende kam. Dazwischen war der Leichnam schon mehrere Mal fernab von der Öffentlichkeit beigesetzt worden. Erst 1957 sah sich die Regierung bereit, den Toten der Familie auszuhändigen, der in der Familiengruft in Predappio beigesetzt wurde. Die „Freigabe“ des unbequemen Toten 1957 liest Kümmel als eine „Entspannung“ des politischen Konflikts im Umgang mit der Vergangenheit und im Gegensatz von Anti-Faschisten und Faschisten. Freigabe und Entspannung sind aber auch im Kontext der politischen Geschichte zu sehen: 1957 begann die Krise der christdemokratischen Alleinherrschaft, die die Christdemokraten (zunächst) mit einer Öffnung nach rechts zu lösen versuchten.

Die nächste Tagung der Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens wird in zwei Jahren stattfinden. Die Koordination wird von Christof Dipper auf Gabriele Clemens übergehen. Weitere Informationen zur AG finden sich unter: http://www.ifs.tu-darmstadt.de/index.php?id=ag-italien.

Kurzübersicht:

Donnerstag, 26. Juni 2008

Begrüßung und Einführung:
Christof Dipper
Arnd Bauerkämper

Freie Sektion
Antje Dechert (Köln): „É nata una stella“. Starkult in Cinecittà

Fiammetta Balestracci (Trient): Enzo Collotti lo storico del Nazismo e le due Germanie

Malte König (Saarbrücken): Franco Basaglia und das Gesetz 180. Die Auflösung der psychiatrischen Anstalten in Italien, 1978.

Abendvortrag
Marco Meriggi (Neapel/Berlin): Cittadinanza, masse e nazione nell’Ottocento italiano

Freitag, 27. Juni 2008

Simone Steinmeiner (Paderborn) und Camilla Weber (Regensburg): Das Risorgimento in italienischen Schulbüchern

Jens Späth (München): Zwischen Europäisierung und Nationalisierung. Die Verfassungsrevolutionen von 1820/21

Michael Strauß (Freiburg): 1830/31 in Italien

Jessica Kraatz-Magri (Berlin): Si scopron le tombe, si levano i morti ...". Zur Konstruktion und Funktion eines politischen Heldenmythos: Giuseppe Garibaldi 1882-1948.

Jan-Pieter Forßmann (Berlin): Publizistik in der Toskana während der Revolution 1848

Ferdinand Goehde (Berlin): Der Balilla-Mythos (1746-1881)

Simonetta Soldani (Bologna): Le donne e la nazione nel XIX e XX secolo

Samstag, 28. Juni 2008

Francesco Marin (Berlin): Die „deutsche Minerva“ in Italien

Ulrich Wyrwa (Berlin): Die Entstehung des integralen Nationalismus in Italien und die Frage des Antisemitismus

Marina Cattaruzza (Bern): Nazionalizzazione conflittuale: il confine orientale italiano 1915-1954

Verena Kümmel (Darmstadt/Münster): Die 7 Körper des Duce

Kontakt

Verena Kümmel, SFB 496 - Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Universität Münster
E-Mail: <vkuem_01@uni-münster.de>

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