Transformationen der Gesundheit zwischen Politik und Kultur. Praktiken der Prävention im europäischen Vergleich (20. Jahrhundert)

Transformationen der Gesundheit zwischen Politik und Kultur. Praktiken der Prävention im europäischen Vergleich (20. Jahrhundert)

Organisatoren
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.07.2008 - 25.07.2008
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Von
Ina Bömelburg, Christian Sammer, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Tagung fand im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsverbundes „Präventives Selbst“ statt. Der aus vier Teilprojekten zusammengesetzte Verbund beschäftigt sich seit Januar 2007 mit den Wechselwirkungen zwischen Präventionsprogrammen und Gesellschaft. Am Beispiel der Herzkreislauferkrankungen werden die historischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Aspekte dieser Wechselwirkungen über drei Jahre empirisch untersucht. Die historische Analyse der Rolle von Prävention im 20. Jahrhundert steht dabei neben ethnologischen, medizinischen und linguistischen Untersuchungen des heutigen gesellschaftlichen Präventionsalltags.

Die Veranstalter der Tagung, MARTIN LENGWILER (Zürich/Basel) und JEANNETTE MADARÁSZ (Berlin), hatten sich zum Ziel gesetzt, aus kulturhistorischer und historisch-anthropologischer Perspektive die großen Züge der westeuropäischen Politiken, Praktiken und Diskurse über Gesundheit und Krankheitsprävention im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Vergleichend sollte dabei den binneneuropäischen Variationen von Gesundheitsvorstellungen, etwaigen Transferprozessen sowie dem Ausmaß und den Folgen der gesundheitspolitischen Europäisierungsprozesse seit den 1950er-Jahren nachgegangen werden. Wie Lengwiler in der Einleitung betonte, galt es des Weiteren, ein Augenmerk auf mögliche Grundprobleme und Paradoxien von Prävention zu richten, die sich aus ihrer Lagerung zwischen staatlich-bürokratischen, zivilgesellschaftlichen und individuellen Akteuren einerseits sowie zwischen Wissenschaft, Lebenswelt und Politik andererseits ergeben könnten.

Die Genese und Entwicklung des modernen Präventionsgedankens griffen die beiden ersten Keynotes auf. Während THEODORE PORTER (Los Angeles) die Rolle der Statistik als Mittel, Erkrankungswahrscheinlichkeiten zu messen, in den Mittelpunkt rückte, beschritt JAKOB TANNER (Zürich) eine tour de force durch die historischen Konzeptionalisierungen von Ernährung für Gesundheit und Vorsorge. Aus dem gegenwärtigen Blick auf Prävention, so Tanner, zeige sich in der Angst vor Übergewicht sowohl eine angewachsene Sorge um Gesundheit als auch die grundlegende Prämisse der Perfektionierbarkeit von Gesellschaft und Individuum. Dies, so Tanner weiter, gehe auf eine Bedeutungsverschiebung von Ernährung während der Zwischenkriegszeit zurück: Aus einer universalen Diätetik habe sich Ernährung im Zuge ihrer Technisierung zu einem „Medium der Selbstperfektionierung“ entwickelt. Prävention gerate dadurch zunehmend zu einem Zwang zur Selbstrationalisierung des auf den eigenen Körper bezogenen ökonomisch angeleiteten Verhaltens, so Tanners Fazit.

Porter hingegen widmete sich der Frage nach der Wissensgrundlage für die Vermeidung von Krankheit. Er zeichnete in seinen Ausführungen nach, wie US-amerikanische Lebensversicherungsunternehmen an der Wende zum 20. Jahrhundert ihre Gewinn- und Verlustrisiken auf den Menschen übertrugen und dabei das Konzept des Krankheitsrisikos in statistischer Form beförderten. Aus dieser unternehmerischen Initiative heraus, so Porter, hätten Präventionsstatistiken Eingang in die Medizin gefunden und dort durch die Verlinkung einzelner Aspekte bzw. Korrelationen zu Risikofaktoren einen hinsichtlich Krankheit kalkulierbaren Menschen geschaffen. Prävention sei daraus erst als Handlungsoption am Horizont der unterschiedlichen Akteure aufgetaucht.

Dies bezog Lengwiler in seinem Kommentar auf Tanner zurück, indem er die Frage nach einer alternativen Bewertung der Individualisierung von Prävention aufwarf. Im Hinblick auf den Einfluss nicht-staatlicher Akteure, der für die einzelnen europäischen Staaten noch zu evaluieren sei, könne, so Lengwiler, Prävention in ein Spannungsfeld zwischen individueller Autonomie und Verpflichtung eingeordnet werden. Die Beharrungskräfte des individuellen Verhaltenseigensinns würden auch die Frage nach der bewertenden Historisierung von Präventionspraxen aufwerfen. Historische Kontinuität oder Novität spezieller Präventionsstile müsste jeweils unterschieden werden. Genauso wie Prävention und Prophylaxe insgesamt nicht nur als Zwang, sondern auch als Chance für den Einzelnen verstanden werden könnten.

Einem Überblick über die wissenschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklungen in Deutschland während des 20. Jahrhunderts widmeten sich die Papers der darauf folgenden Sektion. WINFRIED SÜß (Potsdam) verfolgte in seinem Beitrag einen sozialgeschichtlich vergleichenden Blick auf die Gesundheitspolitik(en) der beiden deutschen Diktaturen und der Bundesrepublik. Strukturkontinuitäten, regimespezifische Umformungen und Differenzen sowie spezifische Umgänge mit Traditionsbeständen exemplifizierte Süß anhand der jeweiligen Ordnungsideen, Schwerpunktsetzungen und institutionellen Probleme. Mit dem heuristischen Modell der funktionalen Differenzierung klassifizierte er die beiden deutschen Diktaturen als entdifferenziert, was in einer Überforderung der Gesundheitswesen durch die Voranstellung politisch vorgegebener Orientierungen resultierte. Dabei ähnelte sich in beiden Diktaturen die Produktionsorientierung der medizinischen Versorgung. Das Ausmaß der anvisierten Integration der Bevölkerung in sie unterschied sich jedoch radikal. Im Vergleich dazu, so Süß, verfügte das wiederum umfassend integrativ ausgerichtete Gesundheitswesen in der Bundesrepublik über einen höheren Grad an funktionsspezifischer Autonomie. Dies ging jedoch zugleich mit einer kurativen Schwerpunktsetzung und einer Vernachlässigung der sozialhygienisch präventiven Tradition der Weimarer Republik einher.

Diese Tradition stand im Vortrag von SILVIA BERGER (Zürich) im Vordergrund. Mit einer diskurs- und wissensgeschichtlich inspirierten Perspektive ging sie dem Niedergang der bakteriologischen Deutungsmacht in Medizin und Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik nach. Nicht nur das vorherrschende Bild der Einzelinfektion, mit dem die Influenza-Pandemie von 1918/19 nicht mehr hinreichend erklärt werden konnte, stieß die Bakteriologie in eine Krise. Auch die immer wichtiger werdenden chronisch-degenerativen Krankheiten wie Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems oder Krebs untergruben das Vertrauen in die Diagnostik und Therapeutik der Bakteriologie. Den institutionellen Ausdruck fand dies in der personellen Umbesetzung an der Spitze der preußischen Medizinalverwaltung 1919. Der Statistiker und Sozialhygieniker Adolf Gottstein habe, so Berger, eine auf die Bevölkerung und das Individuum gerichtete und mit den Konzepten der Erziehung zur Gesundheit und der individuellen Kräftigung operierenden Vorbeugung verkörpert. Diese Umdeutung des Präventionsgedankens in die Richtung der „Ermächtigung jedes Einzelnen zum individuell abgestimmten Selbstschutz“ habe dann auch zum Ende der Weimarer Republik seinen Eingang in eine an zentralen Theoremen revidierte Bakteriologie gefunden.

In ihrem Kommentar stellte JESSICA REINISCH (London) vor allem die Frage nach den Erklärungsmöglichkeiten der von beiden Referenten vorgetragenen Veränderungen. Sie betonte, dass in beiden Vorträgen eine Erweiterung der Vergleichsstruktur hilfreich gewesen wäre. Im Falle von Silvia Berger könnte ein generationengeschichtlicher Blick auf die gegenseitig bedingenden Einflussgrößen Politik, Wissenschaft und Ökonomie die Transformationen der Bakteriologie noch heller beleuchten. Ein Rekurs auf weitere Staaten könnte Süß’ Vergleich dahingehend vertiefen, wechselseitige Beeinflussungen in ihren konkreten Formen nachzuzeichnen und zugleich eine Fortschreibung spezifisch deutscher Traditionen der Historiografie sozialstaatlicher Gesundheitspolitik zu vermeiden.

Zwei zentralen Fragen der Konferenz – die nach der Rolle unterschiedlicher Akteure für die Entwicklung der Prävention und die nach den nicht intendierten Effekten und Widersprüchen ihrer jeweiligen Ausformung – gingen die Vorträge von ROBERT ARONOWITZ (Philadelphia) und VIRGINIA BERRIDGE (London) nach. Für den US-amerikanischen Kontext, so Aronowitz, ließe sich am Ende des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Konvergenz in den Erfahrungen des Risikos einer Erkrankung und der Krankheit selbst feststellen. Am Beispiel der Brustkrebsprävention zeigte Aronowitz, dass diese Deckungsgleichheit aus veränderten Krankheitsdefinitionen und Risikowahrnehmungen resultiere. Die Ansatzpunkte für Diagnostik und Therapeutik würden durch eine personalisierende Risikozuschreibung und ein zeitlich ausgeweitetes ätiologisches Verständnis mit einer Neigung zur frühen Krebsdiagnose zunehmend vor die eigentliche Erkrankung verschoben. Aufgrund einer Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten richte sich die Praxis medizinischer Prävention nicht auf die Verhinderung von Krankheit, sondern auf die Reduzierung des Risikos. Als Effekte seien dann nicht nur soziale Imperative der Risikovermeidung, sondern auch die Ausweitung des Marktes für Präventionsmaßnahmen festzustellen.

Anhand der Fallstudie des Rauchens beschrieb Berridge im Anschluss zentrale Dilemmata der britischen Präventionspolitik nach 1945. Idealtypisch unterschied sie dabei zwei Strategien der Prävention, die zu Beginn der 1970er-Jahre von einem „systematic gradualism“ zu einer „coercive permisseveness“ überging. Sei die erste Phase der staatlichen Präventionspolitik dadurch geprägt gewesen, zu versuchen, mit allen maßgeblichen Akteuren einvernehmlich zu einer sukzessiven Verminderung gesundheitsschädlicher Faktoren zu gelangen, habe man in der Zweiten im Rahmen staatlicher Regulation den individuellen Lebensstil zur Beförderung selbstbestimmter, präventionsgerechter Verhaltensweisen in den Blick genommen. Doch die unterschiedlichen und damit konfliktträchtigen Interessen der beteiligten Akteure – Gesundheitspolitiker, Wissenschaftler, Interessensvertreter der Industrie sowie zivilgesellschaftliche Interessensgruppen – hätten den älteren Präventionsstil latent fortbestehen lassen.

Die Verwendung des Strategiebegriffs rückte MARTIN DINGES (Stuttgart/Mannheim) kommentierend in den Vordergrund. Für die Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Adressaten und zielgerichteter, politischer Wissensnutzung seien bei beiden Betrachtungen die Interaktionen zwischen den einzelnen Akteuren im präventionspolitischen Feld noch stärker herauszuarbeiten – im Bezug auf die Konvergenz von Risiko und Krankheit, insbesondere das finanzielle Eigeninteresse der Ärzteschaft. Auch ein generationengeschichtlicher Ansatz könne des Weiteren dabei helfen die Bruchlinien zwischen den Strategien zu erklären. Schließlich gelte es auch in vergleichender Perspektive die nationalen Besonderheiten hinsichtlich Kultur, Politik und Ökonomie Großbritanniens bzw. der USA sowie mögliche transnationale Transferprozesse abzuwägen.

Die folgende Sektion richtete im Anschluss mit einem diskurs- und mediengeschichtlichen Blickwinkel das Augenmerk auf die Bundesrepublik. Beide Beiträge gingen dabei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit im Hinblick auf populäre Deutungen chronisch-degenerativer Krankheiten nach. PATRICK KURY (Bern) widmete sich der in den 50er-Jahren aufkommenden „Managerkrankheit“ und setzte sie mit einer wachsenden Zivilisationskritik in der Konsumgesellschaft in Zusammenhang. In medizinischer und populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur seien die gruppenspezifischen Lebensweisen und Umweltbedingungen von Männern in leitenden Funktionen an Herzerkrankungen erklärend zurückgebunden worden. Hierdurch habe sich ein aus dem Nationalsozialismus überkommener Kulturpessimismus in der Euphorie der Wirtschaftswunderzeit mit dem Appell zur lebensweltlichen Krankheitsprävention amalgamiert. Das Modell der Managerkrankheit habe demzufolge nicht nur die Rezeption des Risikofaktorenmodells vorbereitet, sondern auch das damalige Geschlechtsrollenverhältnis stabilisiert, indem es die Frau als Abweichung vom Normalfall der krankheitsbedrohten, arbeitenden Männer thematisierte.

Dem Risikofaktorenmodell als Bündelung komplexer Ätiologien der Herz-Kreislauferkrankungen galt das Interesse von JEANNETTE MADARÁSZ (Berlin). Anhand der Darstellung und präventiven Deutung eben jener Krankheiten in den Ausgaben dreier Zeitungen bzw. Zeitschriften von 1968 bis 1986 zeichnete Madarász exemplarisch den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit im Kräftefeld zwischen medizinischem Wissen, standespolitischen Interessen sowie wirtschaftlichen und politischen Aspekten des Krankheitsdiskurses nach. So kann in der Zusammenschau von Deutschem Ärzteblatt, Spiegel und Kritischer Medizin ein divergentes und politisiertes Konfliktfeld ausgemacht werden, das die Realisierung von Prävention langfristig behinderte.

Der Kommentar von EBERHARD WOLFF (Zürich) sowie die anschließende Diskussion hinterfragten insbesondere die Erklärungsmöglichkeiten und -modelle für den Wandel bestimmter Sinnstiftungen von Krankheit. Hinsichtlich der Zeitachse könnte man, so Wolff, zentrale Momente der Erklärung, wie das Motiv der Zivilisationskritik, über einen längeren Zeitraum beobachten. Dies würde es ermöglichen, die Frage nach Neuartigkeiten und Wandel diese Deutungen zu beurteilen. Latenz oder Wiederaufkommen sowie wirkliche Neuheit solch populärer Deutungen wie auch ihr Oszillieren zwischen diesen Polen könnten damit bewertet und in eine Geschichtsschreibung der langen Dauer eingeordnet werden. Auch könnten durch transnationale Vergleiche ebenso besondere bundesdeutsche Reaktionsweisen auf die Herausforderung von Krankheit beschrieben werden.

Die zwei Papers der fünften Sektion von ULRIKE LINDNER (München) und TOBIAS DIETRICH (Trier) waren zwei unterschiedlichen Beispielen für Prävention gewidmet. Im Vortrag von Ulrike Lindner ging es um die Schwangerenvorsorge in Großbritannien und Deutschland seit 1945. Lindner verdeutlichte den Umbruch von einer staatlich kontrollierten Gruppenvorsorge durch den öffentlichen Gesundheitsdienst zur individualisierten Prävention durch Ärzte. Der Vergleich zeigte, dass dieser historische Trend – trotz unterschiedlicher Ausgangslagen – in beiden Ländern zu finden sei. Sie führte diese Gemeinsamkeit einer individualisierten Prävention auf gesundheitspolitische Entscheidungen einerseits und zivilgesellschaftliche Akteure (z.B. die Frauenbewegung) andererseits zurück.

Dietrich hingegen ging es nicht um die Frage nach kollektiven Akteuren und ihrem Einfluss auf die Prävention, sondern um die Wechselwirkung zwischen Präventionspraxis und ihrer medialen Vermittlung. Der Ausdauersport, insbesondere das Jogging, wurde in Deutschland in den 1970er-Jahren als die Form körperlicher Bewegung entdeckt, popularisiert und vermarktet. Einzelne Ärzte und Sportler veröffentlichten eine Flut von Ratgebern und Handbüchern, in denen sie dem Dauerlauf primär- und sekundärpräventive, ja sogar kurative Wirkungen gegen die Zivilisationskrankheiten Herz-Kreislaufkrankheiten und Krebs zuschrieben. Dietrich erkannte in der Verbreitung dieses „Allheilmittels“ Jogging einen Wandel des gesundheitlichen Leitbegriffs: statt sich durch Prävention vor Krankheit zu schützen, dominierte nun die Vorstellung einer individuellen Gesundheitsförderung. Die Medien griffen diesen Wandel in der Wahrnehmung der Zeitgenossen auf, reproduzierten ihn und beschrieben damit die sozialen und kulturellen Lebensumstände der Zeit.

THOMAS MERGEL (Berlin) fragte in seinem Kommentar unter anderem nach dem Begriff von Individualität, der in beiden Vorträgen eine wichtige Rolle spielte. Die Frage nach der Individualisierung hätte eine gute Grundlage zum Vergleich beider Vorträge bieten können, jedoch werfe seine unterschiedliche Verwendung Probleme auf. Hier müsse unterschieden werden, so Mergel, ob öffentliche Risiken – wie durch die Verlagerung der Schwangerenvorsorge in die Arztpraxen – privatisiert würden oder ob die Individualisierung darin bestünde, dass der Einzelne sich um seine Gesundheit sorge und aus eigener Motivation heraus aktiv würde. Dietrich schlug daraufhin vor, die Individualisierung im Gesundheitsdenken als Teil eines allgemeinen Wertewandels zu verstehen. Dieser wiederum könne durch eine Untersuchung der gesellschaftspolitischen Debatten, wie sie in der Läuferbewegung z.B. über die Atomenergie geführt wurden, näher beschrieben werden.

Die letzten zwei Vorträge befassten sich mit aktuellen Diskursen in der medizinischen und humangenetischen Forschung aus linguistischer bzw. sozialanthropologischer Sicht. Sie betonten den interdisziplinären Ansatz des Verbundprojektes „Präventives Selbst“. MARTIN DÖRING (Hamburg) und REGINE KOLLEK (Hamburg) beschäftigten sich mit medizinischen Veröffentlichungen über das Metabolische Syndrom, welches das gleichzeitige Vorhandensein von Fettleibigkeit, Diabetes, Fettstoffwechselstörung/hohes Cholesterin und Bluthochdruck bezeichnet und in dieser Konstellation ein diametral erhöhtes Risiko einer Erkrankung an kardiovaskulären Krankheiten erkennt. Döring und Kollek zeigten, dass die medizinische Forschungsdiskussion eine immer länger zurückreichende Entstehungsgeschichte entwirft und das Metabolische Syndrom zunehmend als historisch beständiges Konzept darstellt. Um die Wirkung dieser für die medizinische Forschung stabilisierend wirkenden „Historisierungsarbeit“ zu ermessen, sei es allerdings zu früh, so Döring.

Auch im Vortrag von JÖRG NIEWÖHNER (Berlin) und STEFAN BECK (Berlin) ging es um die Erweiterung des Risikofaktorenkonzepts, hier durch die Molekularbiologie. Vorgetragen wurden drei Konzepte, mit denen Molekularbiologen Herz-Kreislaufkrankheiten erklärt haben. Nachdem die Genetik lange deterministische Konzepte vertrat, tauchen inzwischen wieder soziale und von der Umwelt beeinflusste Komponenten auf, die sowohl den Einzelnen zu Eigenverantwortung aufrufen, als auch dem Lebens- und Arbeitsumfeld eine entscheidende Rolle in der Gesundheitsvorsorge zuschreiben.

Die Kommentatorin BRIGITTA BERNET (Zürich) fragte nach möglichen Wirkungen der beschriebenen Forschungsdiskurse. Welche Bedürfnisse erfüllen die Konzepte und welche Bedeutung haben sie? Daran schlossen die Diskutanten mit der Frage an, in welcher Beziehung denn die Risikokonzepte zum Individuum und zur Gesellschaft stünden. Da Döring/Kollek und Niewöhner/Beck hauptsächlich Forschungsdiskurse untersucht hatten, ließ sich über die individuelle Rezeption und gesellschaftliche Wirkungen noch nichts aussagen. Anhand eines Beispiels von Döring wurde jedoch deutlich, dass sich Begriffe der medizinischen Forschung, wie der des Metabolischen Syndroms, im Sprachgebrauch von Patienten wieder finden lassen und daher die Rezeption einen interessanten Forschungsgegenstand darstellen würde. Niewöhner betonte, wie wichtig interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Sozialanthropologie, den Sprachwissenschaften, den Geschichtswissenschaften und der Medizin für derartige Fragestellungen sei.

DIETER GOSEWINKEL (Berlin) und Lengwiler fassten die Ergebnisse der Tagung zusammen und benannten Desiderate. Gosewinkel erkannte in der „Zivilgesellschaft“, die er als Sphäre außerhalb des Staates definierte, ein Thema, zu dem viele Vorträge der Tagung etwas zu bieten hatten. Im Vortrag zur Schwangerenvorsorge etwa oder wenn es um die Patientenbewegung in den USA ging, wurde deutlich, wie gesellschaftliche Akteure im Gesundheitswesen aktiv wurden und damit sozialstaatliche Maßnahmen ergänzten, ersetzten oder ihnen sogar entgegenwirkten. Offene Fragen machte Gosewinkel im Bereich staatlichen Handelns und der institutionellen Rahmenbedingungen von Prävention und Gesundheitsförderung aus. Er bemerkte, dass möglicherweise die Zunahme staatlicher Regulierungen im Gesundheitsbereich mit Zurücknahmen von Strafmaßnahmen einherginge und dass dies Ausdruck einer Stärkung der Bürgerrechte gewesen sein könne.
Sein Kommentar betraf außerdem die Periodisierung der angesprochenen Debatten. Möglicherweise hätten die Diskurse über die politische Zäsur 1945 hinausgewirkt und seien stattdessen erst 1968 gebrochen worden. Deshalb sei nach Kontinuitäten über 1945 hinaus zu fragen. Die Entwicklung des Gesundheitsdenkens müsse außerdem im Zusammenhang mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates analysiert werden. Denn die Rolle staatlichen Handelns sei auf der Tagung insgesamt vernachlässigt worden, so Gosewinkel.

Diese Kritik aufgreifend verwies Lengwiler bilanzierend auf die Vielschichtigkeit von Prävention im 20. Jahrhundert. Die Beiträge hätten sowohl die epidemiologische Konstellation von Herz-Kreislauf-Krankheiten, als auch die wissenshistorischen Prozesse, die den Aufstieg von Prävention begünstigt haben, gezeigt. Dabei ließ sich eine deutliche Sensibilisierung für Gesundheitsrisiken einerseits, aber auch Desinteresse und eine Verharmlosung des Themas andererseits beobachten. Um an die vielen interessanten Ergebnisse der Tagung anzuknüpfen, könnten in Zukunft privatwirtschaftliche Akteure wie die Pharmaindustrie oder Versicherungen und internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stärker berücksichtigt werden, so Lengwiler. Außerdem seien nationale Entwicklungspfade internationalen Konvergenzen gegenüberzustellen, um die historischen Gesundheitsdiskurse im europäischen Kontext besser zu verstehen.

Konferenzübersicht:

Einführung:
Martin Lengwiler (Zürich/Basel) und Jeannette Madarász (Berlin)

Keynotes 1 – Chair: Jan C. Behrends (Berlin)
Jakob Tanner (Zürich):
Lebensmittel und Technologien des Selbst: Die Inkorporation von Nahrung als präventive Diät und Gesundheitsmanagement

Theodore Porter (Los Angeles):
Risk and Responsibility: Health Becomes Statistical

Martin Lengwiler (Zürich/Basel): Kommentar

Papers 1 – Chair: Ursula Ferdinand (Technische Universität Berlin)

Winfried Süß (München):
Drei Wege aus dem Staat von Weimar. Deutsche Gesundheitspolitik im 20. Jahrhundert

Silvia Berger Ziauddin (Zürich):
„Die Jagd auf Mikroben hat erheblich an Reiz verloren.“ Das Ende der bakteriologischen Deutungsmacht in Medizin und Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik

Jessica Reinisch (London): Kommentar

Keynotes 2 – Chair: Christine Holmberg (Berlin)

Robert Aronowitz (Pennsylvania):
The converging experience of risk and chronic disease

Virginia Berridge (London):
Systematic gradualism or coercive permissiveness? Dilemmas for public health in the second half of the twentieth century.

Martin Dinges (Stuttgart/Mannheim): Kommentar

Papers 2 – Chair: Malte Zierenberg (Berlin)

Patrick Kury (Bern):
Von der „Managerkrankheit“ zum Streßmanagement. Überlegungen zur Demokratisierung medizinisch-psychologischer Risikofaktoren nach 1945

Jeannette Madarász (Berlin):
Gesellschaftliche Debatten um Risiko und Wissen: Das Risikofaktorenkonzept zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft

Eberhard Wolff (Zürich): Kommentar

Papers 3 – Chair: Marion Hulverscheidt (Berlin)

Ulrike Lindner (München):
Präventionskonzepte im Umbruch: Schwangerenvorsorge in Großbritannien und Westdeutschland nach 1945

Tobias Dietrich (Trier):
Eine neue Sorge um sich? Ausdauersport im „Zeitalter der Kalorienangst“

Thomas Mergel (Berlin): Kommentar

Papers 4 – Chair: Christoph Heintze (Berlin)

Martin Döring / Regine Kollek (Hamburg):
Transformationen des Cardio Metabolic Risk: Eine wissenschafts- und begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Konzeptualisierung des metabolischen Syndroms

Jörg Niewöhner / Stefan Beck (Berlin):
Sieben Millionen Jahre Fett - Zur Entwicklung von Übergewichtsätiologien und Interventionen in Biologie und Medizin seit 1960

Brigitta Bernet (Zürich): Kommentar

Resümee und Verabschiedung:
Dieter Gosewinkel (Berlin) und Martin Lengwiler (Zürich/Basel)


Redaktion
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