Zwischen Emotion und Kalkül. 'Heimat' als Argument im Prozess der Moderne

Zwischen Emotion und Kalkül. 'Heimat' als Argument im Prozess der Moderne

Organisatoren
Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.03.2008 - 28.03.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Martina Jackenkroll, Katrin Lehnert, Anja Mede, Bereich Volkskunde, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V.

Anlässlich des 100jährigen Bestehens des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e.V. veranstaltete das Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (ISGV) eine wissenschaftliche Tagung. Im Vordergrund stand die Reflexion über historische Entwicklungen und aktuelle Prozesse der Herstellung von lokaler Identität. Der Begriff „Heimat“ sollte dabei im Kontext seines Beitrags zur Konstruktion von Regionalbezügen durch seine emotionale, gesellschaftspolitische und ideologische Aufladung differenziert betrachtet werden. Dabei stellte sich die Frage nach seinen historischen Entstehungsbedingungen, seinen institutionellen Verflechtungen und den Transformationen, denen er bis heute unterliegt. Die Tagung wurde von den Organisatoren in drei Themenkomplexe geteilt. Die „historischen Entwicklungslinien“ des ersten Komplexes beleuchteten den jeweils zeitspezifischen Umgang mit dem Heimatkonzept, wobei ein Schwerpunkt auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts gelegt wurde. Der zweite Bereich – die „Ostdeutschen Befunde“ – sollte mit Hilfe von konkreten Beispielen für die Produktion von Heimat aus Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen dem Standort und dem Forschungsauftrag des ISGV in den neuen Bundesländern gerecht werden. Drittens sollten unter dem Titel der „Ortsbezogenheit in der Spätmoderne“ innovative Ansätze präsentiert werden, die sich abseits des bürgerlichen Heimatbegriffs bewegen. Diese Gliederung ließ, wie sich zeigen wird, durchaus Überschneidungen zu.

In seinen begrüßenden Worten gab ENNO BÜNZ (ISGV, Dresden) einen kurzen Überblick über die Geschichte des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. sowie über die Geschichte der sächsischen Heimat- und Landesgeschichtsforschung.

Der Initiator der Tagung, MANFRED SEIFERT (ISGV, Dresden), führte in die Tagungsthematik ein. Er skizzierte die Geschichte des institutionellen Heimatschutzes als (kulturelle) Gegenbewegung zur (ökonomischen) Industrialisierung und beleuchtete das Heimatverständnis seiner Akteure. Im Unterschied zu dem – an den Besitz von Haus und Hof gekoppelten – Heimatbegriff der Vormoderne etablierte sich in der Moderne eine neue bürgerliche Vorstellung von „Heimat“, die als Suche des Bürgertums nach gesellschaftlicher Orientierung gelesen werden kann. Das neue Heimatverständnis beinhaltete die Idee des „natürlichen“, „nicht-industriellen“ Lebens, wodurch der Begriff idealisiert, emotionalisiert und ästhetisiert wurde. Schließlich gab Seifert einen knappen Überblick über neuere Forschungsansätze zur Raumthematik und betonte, dass „Heimat“ sowohl ein subjektives Bedürfnis als auch ein gesellschaftliches Produkt darstellt.

Den Themenkreis „Historische Entwicklungslinien“ leitete MARTINA STEBER (German Historical Institute, London) ein mit einem Referat über „die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben der Weimarer Republik“. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verschränkte sich im bayerischen Schwaben die gedachte Ordnung des Regionalen endgültig mit dem Heimatbegriff, der in den 1920er-Jahren eine Konjunktur erfuhr. Ein regionales Beispiel hierfür ist die Veranstaltung der „Rieser Heimatwochen“ in der Weimarer Republik. Das verstärkte Interesse an der „Heimat“ zeigte sich auch an den Schulen, führte zur Neugründung zahlreicher bürgerlicher Heimatschutzvereine und stärkte die sozialdemokratische Naturfreunde-Bewegung. Denn die Polyvalenz des Heimatbegriffs ermöglichte es, „Heimat“ in einer als krisenhaft und instabil wahrgenommenen Zeit als politisches Allheilmittel einzusetzen. Sie versprach konfessionelle, soziale und deutschnationale Einheit und erhielt von den verschiedenen politischen Lagern je eigene Akzente. Gemeinsam war allen Heimatkonzepten die Konzentration auf das „Eigene“, die den Wiederaufstieg der deutschen Nation beleben sollte. Übergreifende Bündnisse blieben dennoch schwierig, da der Antibolschewismus des bürgerlichen Heimatkonzepts klar zu erkennen war.

SÁNDOR BÉKÉSI (Wien Museum, Wien) widmete sich in seinem Vortrag der Frage nach der Rolle des Heimatschutzes in der Großstadt. Am Beispiel der österreichischen Hauptstadt verdeutlichte er die These, dass der um 1900 aufkommende Gedanke des Heimatschutzes und seine Institutionalisierung nur im Kontext der allgemeinen Reformbewegungen im Zuge der Auseinandersetzungen mit Urbanisierung verstanden werden kann. Dabei sieht er Heimatschutz als ein im doppelten Sinne „modernes“ Konzept, das einerseits als Widerpart, andererseits aber auch als gemäßigte Variante der Modernisierung begriffen werden kann. Im Kontext der architektonisch/ästhetischen Diskurse bildet er ein Komplement und Korrektiv, an dem sich die Prozesse des „Unbehangens“ in der Kultur widerspiegeln. Der Referent setzt sich vehement für die Brechung des antithetisch verstandenen Begriffspaares von „modern“ und „antimodern“ ein, wie ihn das Nachdenken über Heimatschutz scheinbar mit sich bringt. Seine Untersuchung basiert auf einer historischen Kontextanalyse, die es ermöglicht den Diskurs um Urbanität nicht als eine Kritik, sondern als eine Suche und ein Finden von „Heimat“ in der Großstadt zu begreifen. Heimatschutz bildet demnach eine spezifische Übergangszone zwischen Tradition und Moderne.

ELISABETH TIMM (Universität Wien) stellte in ihrem Beitrag ihre Forschungen zur Volksgenealogie der Zwischenkriegszeit vor. Ihre Quellenanalyse bezieht sich dabei auf einen einzigartigen Bestand an Briefen und Aufzeichnungen eines steirischen Pfarrers, an dem sich exemplarisch die Diskurse, Netzwerke und Praktiken dieses Prozesses zeigen lassen. Sie verdeutlichte die Grenzen des Projektes und den Zusammenhang zwischen Bevölkerungspolitik und volksgenealogischer Praktik. Mit Foucault argumentierend zieht Timm in der Nutzbarmachung/Verstaatlichung der Quellen (Kirchenbücher), aus denen sich die Volksgenealogie speist, ein biopolitisches Argument. Es kommt zu einer Verwissenschaftlichung des Sozialen im Lokalen.

SILKE GÖTTSCH-ELTEN (Christian-Albrechts-Universität, Kiel) sprach anschließend über die „Konstruktion von Landkreisen als Heimatregion“ am Beispiel Schleswig-Holsteins. Nach der Einrichtung der preußischen Verwaltungskreise 1867 war Schleswig-Holstein für seine Bewohner/innen nicht mehr als eine Verwaltungseinheit, mit der sie sich kaum identifizierten. Dies hat sich bis heute sehr verändert, wie das KFZ-Kennzeichen als emotional aufgeladenes Identifikationsmerkmal zeigt. Göttsch-Elten untersuchte drei Institutionen, die diese Identitätsarbeit unterstützten: Denkmalschutz, Kreiskalender und Heimatbücher. Während es eher unwahrscheinlich ist, dass mit der ersten Inventarisierung von Denkmälern bereits eine Identifizierung mit Verwaltungskreisen beabsichtigt war, zeigte es sich, dass insbesondere in den zeitgenössischen Kreiskalendern und Heimatbüchern der Verwaltungskreis als natürlicher, gewachsener Raum präsentiert wurde. Die Kreiskalender sollten die Identität in der Region jenseits von Klasse und Stand befördern und präsentierten Nachrichten über Menschen aus dem Kreis. Die Heimatbücher gehen auf eine Initiative der Kreisverwaltungen zurück und orientierten sich an den Bedürfnissen des schulischen Heimatkundeunterrichts. Sie beschrieben den Kreis als gelebte Wirklichkeit seit Urzeiten und prägten somit eine schleswig-holsteinische Identität.

Zum Themenkreis „Ostdeutsche Befunde“ sprach SÖNKE FRIEDREICH (ISGV, Dresden) über die Entstehung des Heimatgedankens im sächsischen Erzgebirge. Er betonte die Wechselwirkung von Mobilität und Verortung im Raum und stellte die These auf, dass der Heimatgedanke nicht nur die Konsequenz aus einer wachsenden Mobilität sei, sondern auch Mobilität voraussetzt. Bereits im frühen 19. Jahrhundert verstärkte eine zunehmende Mobilisierung der Gesellschaft die Sehnsucht nach Heimat, andererseits verlor der Wandernde den Bezug zu ihr. Gleichzeitig wurde Ortsbezogenheit als ökonomische Ressource genutzt, beispielsweise von Wanderhändlern und Wandermusikanten, die sich als Einheimische ausgaben, um mehr zu erwirtschaften. Dennoch musste die Entstehung und Verbreitung des Heimatgedankens im Erzgebirge erst etabliert werden. Noch 1886 bedauerte J. A. E. Köhler in der Schrift „Woraus besteht die falsche Sicht auf das Erzgebirge?“ ein fehlendes Interesse am Erzgebirge, als Hauptgrund nannte er die Mobilität. Auch heute scheint der Erfolg der Globalisierung die Notwendigkeit von Heimat zu produzieren, wie die Band „Krippel-Kiefern“, die sich auf eine erzgebirgische Identität beruft, eindrücklich belegt.

Zwei Vorträge verdeutlichten im Anschluss die spezifischen Zusammenhänge der Heimatbewegung und die Nutzung des Heimat-Begriffs in der politischen Propaganda des Nationalsozialismus in Sachsen. DIETER HERZ (Sächsisches Staatsministerium für Kultus, Dresden) zeichnete dabei die Genese, die Praxis und die Verflechtungen des „Heimatwerk Sachsen“ nach, das durch die nationalsozialistische Propaganda initiiert wurde. Hintergrund der Neugründung auf Initiative des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann im Oktober 1936 war unter anderem die Unterordnung der bestehenden Heimatbewegung. So richteten sich die Bemühungen anfänglich auf die Herausstellung der „wahren Sachsenleistungen“, die es zu schützen galt. In der „Sachsenaktion“ wurde beispielsweise gezielt gegen so genannte Sachsenkomiker vorgegangen, denen man eine Verunglimpfung des angestrebten Sachsenbildes unterstellte.

THOMAS SCHAARSCHMIDT (Zentrum für Zeitgeschichte, Potsdam), der von Dieter Herz bereits als Pionier der Heimatwerk-Forschung eingeführt worden war, stellte in seinem Referat weiterführende Überlegungen an. Er untersuchte den Umgang mit den Instrumentalisierungen und Funktionalisierungen der Heimatbewegung in Sachsen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der DDR. Er stellte heraus, dass dabei die „Heimat“ als Ort des Unpolitischen imaginiert wurde. Verwicklungen und die Einbindung in das politische System des Nationalsozialismus wurden unter diesem Deckmantel versteckt.

JAN PALMOWSKI (King’s College, London) stellte Befunde zur sinnlichen Erlebbarmachung von „Heimat“ in Unterhaltungssendungen der 1960er- und 1970er-Jahre im DDR-Fernsehen vor. Ausgehend von Originalfilmmaterial und Einschaltquoten aus dem deutschen Rundfunkarchiv Babelsberg konnte er so beispielsweise das Bild Rostocks als „Hafen zur Welt“ oder Karl-Marx-Stadts als „moderne Metropole“ in Sendungen wie „Klock 8, Achtern Strom“ oder „Schlager einer großen Stadt“ eruieren. Das kalkulierte Ziel der Fernsehproduzenten, mit Hilfe von Emotionen nach Art eines „nation-buildings“ die „Heimat(en)“ der DDR neu zu definieren und zu schaffen, stellte Palmowski auch in den Kontext des Konkurrenzkampfes mit dem Westfernsehen. Offen ließ Palmowskis Materialgrundlage die Antwort auf die Frage nach der Akzeptanz der vermittelten Heimatbilder in der Bevölkerung und somit nach dem Aufgehen des Kalküls der sozialistischen Heimatproduzenten.

PETER F.N. HOERZ (freiberuflicher Volkskundler, Wiesbaden) und MARCUS RICHTER (Otto-Friedrich-Universität, Bamberg) verbanden die beiden Aspekte „Emotion“ und „Kalkül“ des Tagungstitels in ihrer Frage nach „wohlkalkulierte(m) Heimweh“. Dies konkretisierten sie in Beispielen „von Heimatschachteln, Binnenwanderung und glücklicher Rückkehr“. So wollen beispielsweise die Macher der Magdeburger Heimatschachteln – das sind Päckchen mit einheimischen Produkten, die an fortgezogene Magdeburger/innen geschickt werden – mit Hilfe des Heimatbewusstseins die Rückkehroption der Weggezogenen bestärken. Allerdings betonten Hoerz und Richter, dass die Entstehung eines Heimatbewusstseins nicht von solchen emotionalen Erinnerungshilfen abhängt und dass vielmehr die wirtschaftliche Situation ausschlaggebend für eine Rückkehr bzw. das Bleiben ist. Vor diesem Hintergrund plädierte das Forscherduo schließlich für eine volkskundliche Ostdeutschlandforschung, die sich solchen Themen rund um die innerdeutsche Binnenwanderung und daraus resultierenden kulturellen Praxen wie ostdeutsche Stammtische in westdeutschen Großstädten oder spezifisch ostdeutschen Chatrooms und E-Gästebüchern widmet.

Der erste Tag der Tagung fand seinen Abschluss in einem Abendvortrag von KONRAD KÖSTLIN (Universität Wien), der zum Thema „Heimat denken“ referierte. Dabei eröffnete er vielfältige Zugänge und verdeutlichte vor allem, wie stark der Begriff von kulturellen und individuellen Zuschreibungen determiniert wird. Auf den ersten Blick ist jeder Experte. Alle haben Heimat und können Heimat denken. Konrad Köstlin nahm die Zuhörer an diesem Abend mit auf eine Reise durch die Begriffsgeschichte. Er reihte Zitate und Meinungen aneinander und malte so ein ganz differenziertes Bild von Heimat. Diskutiert als deutscher Sonderweg, als Alleinstellungsmerkmal, als Unwort oder als das schönste Wort für Zurückgebliebenheit ist Heimat zunächst vielschichtiger als vermutet. Der Referent spannte einen Bogen von den ideengeschichtlichen Verortungen des Begriffs bis hin zu den Gefahren, die in ihm lauern, wenn Identität zu einem mörderischen Mythos wird, in dem das Fremde keinen Platz mehr findet. Als Kompensation einer „unaushaltbaren“ Moderne ist Heimat zu einem Synonym für die symbolische Ordnung der Welt avanciert.

ANNETTE SCHNEIDER (Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V., Halle) präsentierte zu Beginn des zweiten Tagungstags in ihrem Vortrag „Refugium Heimat oder Erlebnisraum? Die Sicht der Einwohner auf ihre Region“ eine kulturökologische Annäherung an das Tagungsthema. An der Schnittstelle von Wissenschaft und Regionalmanagement hat eine dreiköpfige, interdisziplinäre Forschergruppe für die Dübener Heide eine Studie erstellt, die sich methodisch und inhaltlich an der groß angelegten Studie des Frankfurter Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie über Bedeutung und Funktion von Region in der individualisierten Gesellschaft aus den frühen 1990er-Jahren orientierte. Ausgehend von empirisch erhobenem qualitativem und quantitativem Material filterte Schneiders Forschergruppe Aspekte der Wahrnehmung des Nahraums einer Gruppe von Schülern heraus. Sie kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Gruppe ein individuell geprägtes Raumverständnis hatte, das soziokulturelle Orte wie Geschäfte, Restaurants, den Badesee oder die Mountainbike-Hügellandschaft hervorhob und dem Raum häufig emotional-ästhetische Komponenten wie Ruhe und Natur als „Refugium“ zuschrieb. Die konkrete Region Dübener Heide und ihre Attribute stellen für die Schülergruppe die „Heimat“ dar, die gegenüber anderen Regionen Alleinstellungsmerkmale aufweist.

Der Dipl-Ing. und Landschaftsplaner MICHAEL SPERBER (Brandenburgische Technische Universität Cottbus) referierte über eine von ihm als Regionalmanager betreute Region in der Lausitz. Die von ihm als „schrumpfende“ oder „peripher“ bezeichnete Region um die Industriestadt Lauchhammer ist maßgeblich vom Verlust der Braunkohle als wichtigstem Wirtschaftsfaktor geprägt. Der Zusammenbruch des Tagebaus bestimmt den Diskurs um die „richtige“ Kulturlandschaft und den einsetzenden Prozess um Beheimatung in der nun durch Arbeitslosigkeit definierten Gegend mit. Sperbers Aufgabe als Regionalmanager ist, soziale Potenziale zu aktivieren und so den Identitätsprozess zu befördern. Dabei entsteht eine „Heimat“, die nicht unter der Decke einer Idylle verschwinden soll, sondern als Instrument der Bewältigung verstanden wird. Geschichtsbewusstsein und die produktive Auseinandersetzung mit dem industriellen Raubbau an der Natur werden so zu Orientierungsmarken der Auseinandersetzung mit dem, was „Heimat“ nun sein soll.

Den Themenkreis „Ortsbezogenheit in der Spätmoderne“ eröffnete IRENE GÖTZ (Ludwig-Maximilan-Universität, München) mit einem Vortrag über „nationale und regionale Identitäten“. Sie verwies auf die Konstruiertheit des Identitätsbegriffs und das Problem seiner mangelnden analytischen Schärfe. Dennoch plädiert Götz in Anlehnung an Hermann Bausinger dafür, den Begriff beizubehalten und seine Konstruiertheit und Kontextabhängigkeit mitzudenken. So betrachtet zeigte sich, dass neben der „Ortspolygamie“ (U. Beck) der zweiten Moderne auch nationale und regionale Befindlichkeiten immer wieder bemüht werden. In Mikroanalysen hat Götz letztere kurz nach der deutsch-deutschen Vereinigung erforscht. Ihre Interviews in den neuen Bundesländern verdeutlichen, dass deren Bewohner/innen um eine Neuverortung bemüht waren. Bei einigen folgte auf die Fremdethnisierung eine Selbstethnisierung als „Ostdeutsche“, andere sahen sich als „Gesamtdeutsche“ und suchten nach passenden Identitätsentwürfen in der eigenen Geschichte. Wieder andere machten ihre Region zur Projektionsfläche. Dazu wurden lokale Besonderheiten hervorgehoben und Werte, die als „typisch deutsch“ gelten, als regionale Werte umgedeutet.

MANUELA BARTH (Ludwig-Maximilians-Universität, München) stellte anhand der Ergebnisse ihrer Magisterarbeit die Wandlung des Münchner Stadtteils Messestadt Riem „vom Transitraum zur Heimat“ kritisch dar. Am Beispiel einer Hainbuchenhecke diskutierte sie die „Geschichtlichkeit, Natürlichkeit und Grenzziehung in einem Neubau-Quartier auf einem ehemaligen Flughafengelände“. In ihrer Diskursanalyse spielte die Stadtteilzeitung „Take Off“ die herausragende Rolle. Diese wird von einer Gruppe Bewohner/innen der Messestadt Riem herausgegeben und dient als öffentliches Kommunikationsmittel im Stadtteil. In der auf städtische Raumplanungen folgenden Auseinandersetzung mit der Hecke manifestieren sich unterschiedliche, gar konträre Zugänge zu Historizität, Naturraum und Begrenzungen. So wird beispielsweise die historische Bedeutung der Hecke als Bestandteil des nationalsozialistischen „Stadions der Lüfte“ sowohl negativ als Belastung wie auch positiv als Erinnerung gegen das Vergessen interpretiert. Anhand diesem und anderer ausgewählter Beispiele erläuterte Barth, wie sich ein qualitativer Umschwung in der Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt vollzogen hat und wie eine „unschuldige“ Hecke zu einem zeichenhaften Ort, zur Konstruktion von „Heimat“ umgedeutet worden ist.

RENÉ GRÜNDER (Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau) sprach über „Religiöse Beheimatungsversuche“ am Beispiel von germanischem Neuheidentum. Er stellte die verschiedenen heidnischen Strömungen vor, so das völkische Heidentum, das seit etwa 1900 existiert, das ökospirituelle Heidentum, das in den 1970er-Jahren – angeregt durch New Age – aufkam und das sogenannte universalistische Heidentum, das seit den 1990er-Jahren anzutreffen ist. In Interviews, die Gründer im Kontext des DFG-Projektes „Inszenierung des ‚Germanischen’“ durchgeführt hat, ist er der Frage nachgegangen, welche Bezüge zu Raumkonzepten (etwa durch die Nutzung bestimmter „Kultplätze“) verbreitet sind. Er kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass einige Befragte ihren Glauben als Weg zur „Wiederbeheimatung“ in einer als entfremdet wahrgenommenen städtischen Zivilisation verstehen. Hierin zeigt sich eine Überschneidung zum traditionellen, rückwärtsgewandten Heimatbegriff, gleichzeitig beinhaltet insbesondere das universalistische Heidentum eine transnationale Komponente.

BEATE BINDER (Universität Hamburg) beleuchtete „transnationale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit“. Sie bemerkte, dass das Nachdenken über Heimat nicht nur eine Folge der Glokalisierung ist, sondern auch eine Folge der Einwanderung. „Heimat“ sei daher unter anderem eine Referenz für Veränderungen in der Einwanderungsgesellschaft. Die Referentin machte plausibel, dass in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand „Heimat“ Widersprüche auftreten. Beispielsweise wird der Heimatbegriff von einigen Migrant/innengruppen positiv oder strategisch gebraucht, um verweigerte Rechte einzufordern. Gleichzeitig bleibt der Begriff aber auch in dieser Verwendung an einen territorialen Ort gebunden und behält somit seinen grenzziehenden, ausschließenden Charakter. In der transnationalen Migrationsforschung wird deshalb gefragt, was „home“ oder „Zuhause“ für Migrant/innen bedeutet. Grundsätzlich hat die transnationale Forschung den Blick auf das „Dazwischen“ als Möglichkeit der Beheimatung gerichtet. Dabei sollte die Herstellung plurilokaler Beheimatung nicht als konfliktfrei gedacht werden, sondern der Blick auf die Brüche und die Prozesshaftigkeit solcher Praxen gerichtet werden. Dies ist möglich, wenn von Einzelpersonen ausgegangen wird. Sie können nicht nur als „ethnisch“, sondern auch als sozial und geschlechtlich verortet angesehen werden, wodurch die Heterogenität unterschiedlicher Soziospähren der Beheimatung sichtbar wird.

Abschließend präsentierte BARBARA KNORPP (University of Westminster, London) ihre „ethnographische Betrachtung einer industrialisierten Heimat: Braunkohle und Hochhausarchitektur“. Am Beispiel einer aufgrund des Braunkohletagebaus teilweise verlegten Kleinstadt in der Nähe von Köln – der Heimatstadt Knorpps – hinterfragte sie das rückwärtsgewandte, mit den historischen und landschaftlichen lokalen Schauplätzen verbundene Verständnis des Heimatbegriffs. Sie wies auf unterschiedliche, sich widersprechende Wahrnehmungen der neuen Heimat zwischen Ästhetik und Hässlichkeit, zwischen städtischer Architektur und Ländlichkeit hin und definierte Heimat schließlich als traumstiftenden Begriff, der letztendlich immer nach Harmonie sucht. Einen Ausschnitt ihrer Feldforschung präsentierte sie in Form von bereits bearbeitetem Filmmaterial, das sie auch technisch dem Format eines „Homevideos“ angepasst hatte.

Die Referent/innen der Tagung haben präsentiert, wie vielschichtig der Begriff „Heimat“ gedacht werden kann und muss. Dabei verdeutlichten die Beiträge den Konstruktionscharakter von Raumgebundenheit. Das Argument „Heimat“, so wurde deutlich, konnte immer auch strategisch eingesetzt werden, um kulturelle, soziale oder politische Ziele durchzusetzen, sei es durch staatliche, institutionelle oder eben auch individuelle Ansprüche. Es zeigte sich, dass die Verwendung des Heimatbegriffs eng verknüpft ist mit einem kollektiv hergestellten persönlichen Bedürfnis nach einer Verortung im Raum. Insgesamt wurden auf der Tagung wichtige historische und gegenwartsbezogene Momente von Ortsbezogenheit kritisch beleuchtet, so etwa das Verhältnis von „modern“ zu „antimodern“ und „spätmodern“. Gleichzeitig kann bemerkt werden, dass in den einzelnen Beiträgen eine unterschiedlich starke Distanzierung vom Heimatbegriff und dessen regionalpolitischen Konnotationen spürbar war. Die Tagung hat einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Institutionalisierung des Heimatgedankens und ihrer zukünftigen Erforschung geleistet.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung durch Enno Bünz (Dresden)

Manfred Seifert (Dresden): Einführung in die Tagungsthematik

Themenkreis: historische Entwicklungslinien

Martina Steber (London): Fluchtpunkt „Heimat“. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben der Weimarer Republik

Sándor Békési (Wien): Heimat(schutz) in der Großstadt? Zur Urbanität einer traditionalistischen Reformbewegung um 1900 in Wien

Elisabeth Timm (Wien): Volksgenealogie: Wie ein steirischer Pfarrer in den 1920er-Jahren die „Heimatliebe“ zu fördern suchte und stattdessen Kulturgeschichte betrieb

Silke Göttsch-Elten (Kiel): "...von der Urgeschichte bis in die Gegenwart". Zu Konstruktion von Landkreisen als Heimatregion

Themenkreis: Ostdeutsche Befunde

Sönke Friedreich (Dresden): Die Entstehung des Heimatgedankens aus der Mobilität. Das historische Beispiel des sächsischen Erzgebirges

Dieter Herz (Dresden): Operation Sachsenstolz. Zu Anspruch und Methode des „Heimatwerks Sachsen“ (1936-1945)

Thomas Schaarschmidt (Potsdam): Heimat in der Diktatur. Zur Relevanz regionaler Identifikation im Nationalsozialismus und in der frühen DDR

Jan Palmowski (London): Kalkulierte Emotionen. Heimat im DDR-Fernsehen

Peter F. N. Hoerz (Wiesbaden)/Marcus Richter (Bamberg/Gera): Wohlkalkuliertes Heimweh? Von Heimatschachteln, Binnenwanderung und glücklicher Rückkehr

Abendvortrag: Konrad Köstlin (Wien): Heimat denken. Zeitschichten und Perspektiven

Annette Schneider (Halle): Refugium Heimat oder Erlebnisraum? Die Sicht der Einwohner auf ihre Region

Michael Sperber (Cottbus): Gebrochene Heimat – Lebenswelten in einer peripheren Region

Themenkreis: Ortsbezogenheit in der Spätmoderne

Irene Götz (München): Nationale und regionale Identitäten: Zur Bedeutung von territorialen Verortungen in der zweiten Moderne

Manuela Barth (München): Vom Transitraum zur Heimat. Zur Diskussion um Geschichtlichkeit, Natürlichkeit und Grenzziehung in einem Neubau-Quartier auf ehemaligem Flughafengelände

René Gründer (Freiburg): Religiöse Beheimatungsversuche: germanischgläubiges Neuheidentum als Ausdruck spiritueller Glokalisierung

Beate Binder (Hamburg): Beheimatung statt Heimat? Transnationale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit

Barbara Knorpp (London): Ethnographische Betrachtung einer industrialisierten Heimat: Braunkohle und Hochhausarchitektur