Stagnation oder Fortbildung? Das allgemeine Kirchenrecht im 14. und 15. Jahrhundert. Historiker und Juristen im Gespräch

Stagnation oder Fortbildung? Das allgemeine Kirchenrecht im 14. und 15. Jahrhundert. Historiker und Juristen im Gespräch

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut, Rom
Ort
Rom
Land
Italy
Vom - Bis
19.03.2003 - 23.03.2003
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Von
Ernst-Dieter Hehl

Der Liber Extra (1234), der Liber Sextus (1298) und die Clementinen (1317) bilden die systematischen und amtlichen Sammlungen der päpstlichen Dekretalen. Im weiteren 14. und im 15. Jahrhundert (und in der Zeit danach bis zum Codex Juris Canonici von 1918) sind keine Kodifikationen des Kirchenrechts mehr entstanden. Gleichzeitig sind diese beiden Jahrhunderte des späten Mittelalters durch eine Fülle päpstlich-kurialer Entscheidungen und Verfügungen in den Bereichen des Pfründen-, Buß- und Prozeßwesens geprägt, die sich als praktiziertes Kirchenrecht verstehen lassen. Wie das Versiegen allgemeiner und systematisierbarer Gesetzgebung sich zur Ausweitung rechtsgebundener kurialer Praxis verhalte, stand im Zentrum der Internationalen Fachkonferenz des DHI vom 19. bis 22. März 2003. In ihrem Titel stellte sie eine provozierende Alternative zur Diskussion. Beunruhigt waren wohl eher die Historiker, denn die von ihnen untersuchte Praxis entfernt sich zeitlich immer weiter von den rechtlichen Normierungen aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Stagnation ist wohl überhaupt eher in dem begrifflichen Instrumentarium des Historikers als dem des Juristen verwurzelt. Die meisten Beiträge der Tagung stammten so auch von Historikern, Juristen setzten mit dem Eröffnungs- und Schlußvortrag die Eckpunkte und kamen vor dem Ende der Tagung in einer Podiumsdiskussion zu Wort, die als vielstimmiger juristischer Kommentar zu den Fragen (und Sorgen) der Historiker galt. Eine weitere, im wesentlichen von Juristen besetzte Podiumsrunde am späten Nachmittag des 21. März hatte solche Fragen aus angelsächsischer Perspektive und Forschungstradition bereits aufgegriffen, galt aber zunächst den spezifischen Schwierigkeiten des kirchenrechtlichen Studiums im angelsächsischen Bereich, die gar nicht so weit von denen des alten Europa entfernt sind. Aber an einer Stelle blitzte doch eine Begrifflichkeit auf, mit der die Kluft zwischen historischen und juristischen Fragestellungen geschlossen werden könnte: James Brundage (Kansas) sprach von der doctrina der gelehrten Juristen des späten Mittelalters und bettete diese in die damalige Lebenswelt ausgeübter Lehrtätigkeit ein. Da die deutsche historiographische Tradition eher von der Gegensätzlichkeit von "Theorie - Praxis" ausgeht, erübrigt sich damit leicht die Frage, in welcher Lebenswirklichkeit die Theoretiker standen.

Den Auftakt der Tagung bildete, bereits am Vorabend (19. März), das Referat von Peter Landau (München), Schwerpunkte und Entwicklung des klassischen kanonischen Rechts bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Landau betonte, daß bereits der Liber Extra das "klassische kanonische Recht in seinen Grundstrukturen" festgelegt hatte und die päpstliche Gesetzgebung, die in den weiteren Kodifikationen bis hin zu den Clementinen gesammelt wurde, nur Fortentwicklungen im Detail brachte. Nicht der Gesetzgeber, sondern die kanonistische Wissenschaft sei bis zum Ende des Mittelalters entscheidend für die Fortentwicklung des Rechtes gewesen, wobei Landau vor allem zwei Tendenzen herausstellte: die Anpassung der kanonistischen an die romanistische Begrifflichkeit in den gelehrten Arbeiten Innozenz' IV. und der theologische Hintergrund der Kanonistik, der vor allem im Werk des Hostiensis herausgestellt und für die Zukunft bewahrt wurde. Mit der Orientierung an der aequitas entwickelte vor allem Hostiensis überdies ein außerordentlich flexibles und dynamisches Rechtsprinzip. Damit waren bereits wichtige Kriterien für die Einordnung der Entwicklung im 14. und 15. Jahrhundert angesprochen, die im einzelnen Gegenstand der Tagung werden sollten.

Martin Bertram (Rom) - zusammen mit Ludwig Schmugge und Brigide Schwarz spiritus rector der Tagung -, nahm in seiner Einführung zu den Arbeitssitzungen die Lücke, die in der Darstellung des Kirchenrechts von Stutz/Feine für das 14. und 15. Jahrhundert besteht, zum Ausgangspunkt zweier Fragen: Ob das Kirchenrecht in diesen beiden Jahrhunderten fortentwickelt oder nur "verwaltet" wurde und ob der Eindruck von letzterem durch die Quellen selbst oder die Art ihrer Erschließung und Befragung hervorgerufen werde.

Entsprechend galten auch die ersten drei Referate spezifischen Formen der Quellenerschließung. Ludwig Schmugge (Zürich), Kanonistik in der Pönitentiarie, skizzierte die Themenbereiche, mit denen sich die Pönitentiarie befaßte, und nahm speziell die Suppliken als Beleg, wie sich die Kenntnis vom allgemeinen Kirchenrecht außerhalb der Kurie vertieft und verbreitet habe: zahlreiche juristische Maximen, ohne Quellenangabe zitiert, bezeugten diesen Vorgang, aber auch das Zitieren päpstlicher Dekretalen, die nach den offiziellen Sammlungen entstanden seien. - Brigide Schwarz (Berlin), Kanonistik im Repertorium Germanicum, knüpfte gleichsam personenbezogen an die Überlegungen Schmugges an, indem sie darauf verwies, daß Dienst an der Kurie für eine Juristenkarriere fast unentbehrlich wurde. Kenntnis kurialer Praxis und juristische Ausbildung verknüpfen sich hier mit dem Weg von der römischen "Zentrale" in die "Peripherie". - Gero Dolezalek (Leipzig), Kanonistische Auswirkungen der Rechtssprechung der Sacra Romana Rota - unter besonderer Berücksichtigung der Rotamanualien des Basler Konzils, griff scheinbar auf die Formel zurück, das Kirchenrecht sei nur noch "verwaltet" worden, indem er feststellte, daß Decisiones der Rota sich als Fortsetzung der offiziellen Dekretalensammlungen lesen lassen, doch deuten die Frühdrucke der Decisiones darauf hin, daß gleichzeitig ein Verbreitungsprozeß kanonischer Rechtskenntnis vorliegt. - In der Diskussion der drei Vorträge prägte Brigide Schwarz die Formel von einem "Reich der Notwendigkeiten und einem Reich der Möglichkeiten", die in den Repertorien der Pönitentiarie und dem Repertorium Germanicum abgebildet seien. Die Einwirkung des kanonischen Rechts auf die Lebenswelt war angesprochen. Dispenserteilung der Pönitentiarie konnte unumgehbar sein, wenn ein bestimmter Lebensweg eingeschlagen werden sollte, über Ehefragen waren hier auch die Laien betroffen; das Reich der (Karriere-)Möglichkeiten läßt sich aus den Angaben des Repertorium Germanicum erschließen. In die politische Realität des späten Mittelalters führte der Hinweis, daß Prozesse an der Rota eine eher deutsche Angelegenheit gewesen sind - mithin ein Reflex einer spezifischen Situation der Rechtssprechung im Reich.

Die folgenden Vorträge führten von den großen Werken der Quellenerschließung weg zu Problemen des konkreten Handelns zunächst an der päpstlichen Zentrale. Othmar Hageneder (Wien), Päpstliche Reskripttechnik: Kanonistische Lehre und kuriale Praxis, befaßte sich mit der Bedeutung der veritas precum als Voraussetzung für die päpstlichen Privilegien in forma communi und mit Ausfertigungen ex certa scientia, die sich häufig zusätzlich auf die päpstliche plenitudo potestatis beriefen; letzteren wären auch die Urkunden motu proprio zur Seite zu stellen. Das allgemeine Problem war, wie päpstliche Entscheidung und Verwaltung ohne sichere Kenntnis der Verhältnisse vor Ort zu gestalten waren. - Patrick Zutshi (Cambridge), The registration of papal letters under the Avignon popes (1305-1378), fragte nach den Ursachen für das Übergewicht der Registerüberlieferung im Vergleich zur Überlieferung bei den Urkundenempfängern und führte dies darauf zurück, daß individuelle Privilegien über den Tod des Nutznießers hinaus nicht aufbewahrt werden mußten. - Brigitte Hotz (Konstanz), Von der Dekretale zur Kanzleiregel: Assekutionsprärogativen im 14. Jahrhundert, zeigte, wie die im Liber Sextus grundgelegten Normen zur Lösung der Konkurrenz von Expektanzen mittels Prioritäts- und Präsenzrogativen in den Kanzleiregeln modifiziert wurden. Persönliche Merkmale des Petenten (Graduierung vor allem, aber auch Nähe zum Papst oder einem Kardinal, Zugehörigkeit zum Hochadel) wurden zu übergeordneten Kriterien, wobei den Kanzleiregeln teilweise ausdrücklich Geltung vor Gericht zugeschrieben wurde. - Orazio Condorelli (Catania), Dottrine sulla giurisdizione ecclesiastica e teorie del consenso: il contributo dei canonisti e teologie (secoli XIV-XV), zeigte am Ende des ersten Haupttages des Kolloquiums, wie bei Zabarella, Tudeschi und Nikolaus von Kues der juristische und theologische Diskurs wieder zusammengeführt wurde.

Auf konkrete, europaweite Bedeutung des kanonischen Rechts machte Peter Herde (Würzburg), Formelsammlungen für Papsturkunden als Quelle des spätmittelalterlichen Kirchenrechts, aufmerksam, denn die hier faßbaren Rechtsvorstellungen haben auf die lettres de justice der französischen Könige Einfluß genommen (etwa bei dem Problem der veritas precum) und die königliche Delegationsgerichtsbarkeit hat oft nach den Kriterien der päpstlichen gearbeitet. Den Praxisbezug der Formelsammlungen stellte er den großen Briefsammlungen des 13. Jahrhunderts (Thomas von Capua u.a.) gegenüber, die aus stilistischen Interessen zusammengestellt worden waren und deren kirchenrechtlich interessante Beispiele für den Alltag eher selten und untypisch waren. - Ein ihn selbst überraschendes Ergebnis erzielte Andreas Meyer (Marburg), Die Neuedition spätmittelalterlicher päpstlicher Kanzleiregeln: Zum Stand der Arbeit. Häufig nämlich sind die Kanzleiregeln auch dann noch abgeschrieben worden, als sie schon durch neue überholt waren. Die Abschriften stammen überwiegend aus dem deutsch-österreichischen Raum. Wie diese Befunde in Hinblick auf die Rechtswirklichkeit in diesen Gebieten und ein Interesse am Recht zu interpretieren seien, war Gegenstand intensiver Diskussion. - Einer besonderen Entwicklung im päpstlichen Finanzwesen widmete sich Götz-Rüdiger Tewes (Köln), Recht und Rechtspraxis der päpstlichen Datarie um 1500. Er verfolgte die Ausbildung einer "persönlichen" Finanzbehörde des Papstes, der seit Sixtus IV. die bisher auf verschiedene Behörden verteilte Kompositionsgewalt (bes. hinsichtlich von Pfründenerwerb und Ehefragen) fast ausschließlich übertragen war. - Harald Müller (Berlin), Kompetenz und Dezenz: Prozeßkosten an den kurialen Gerichten des späteren Mittelalters, relativierte die eingängige moralische Bewertung des päpstlichen Fiskalismus. Er stellte fest, daß die detaillierten Kostenregelungen und die Zahlungspflicht des Unterlegenen im Prozeß beschleunigend (demnach: kostendämpfend) wirkten, die Parteien und später ihre Notare für die Prozeßverschleppung haftbar gemacht wurden, weshalb man sich nach der Zeit des avignonesischen Papsttums um die Fachkenntnisse des Notars kümmerte. Für Frankreich hat sich Thomas Basin an dem kurialen Vorbild orientiert, und Müller stellte deshalb zur Diskussion, ob man die kirchliche Rechtsentwicklung im europäischen Rahmen zwar nicht als normgebend, doch aber als beispielgebend betrachten könne. - Normgebung und ihre Vermittlung standen ausdrücklich im Mittelpunkt der Überlegungen von Tilmann Schmidt (Rostock), Die Rezeption des Liber Sextus. Die Einführungsbulle des Liber Sextus (so auch später bei den Clementinen) wandte sich an die Universitäten, und hier erfolgte die maßgebliche Rezeption - nach Ausweis der erhaltenen Handschriften schon bald verbunden mit einer ebenfalls rezipierten wissenschaftlichen Kommentierung. Früh belegt ist ein, mit Schmidts Worten, "hierarchischer, gleichsam natürlicher Publikationsweg" an die Erzbischöfe und Orden. Bezugnahmen auf den Liber Sextus auf Provinzialsynoden, Anweisungen der Ordensoberen, sich den Liber Sextus (zumindest die für das Ordensleben einschlägigen Kapitel) zu beschaffen, sind dessen Zeugnisse. Schwieriger herauszufinden ist die inhaltliche Rezeption, und hierbei schlug Schmidt den Bogen zur konkreten kurialen Rechtsentscheidung und dem Tagungsthema, indem er ausdrückliche Dispense von Verfügungen des Liber Sextus als Zeichen einer kirchenrechtlichen Stagnation wertete, gleichsam als "negative Rezeption".

Rezeptionsvorgänge, wie sie in den Vorträgen von Peter Herde bis Tilmann Schmidt immer wieder angesprochen wurden, lenken den Blick von der Zentrale auf die Vorgänge vor Ort. Regionale Synoden, und damit die von den Bischöfen zu organisierende und zu verantwortende Umsetzung allgemeinen Kirchenrechts, wurden in zwei Vorträgen behandelt. Antonio García y García (Salamanca), Los sínodos diocesaneos de península ibérica (siglos XIV-XV), hob besonders auf die Diözesansynode und die Visitation als Leitungsorgan des Ortsbischofs ab. Peter Johanek (Münster), Die Partikularsynoden des deutschen Spätmittelalters und das Kirchenrecht, betonte den Anstoß, den päpstliche Konzilien und Erlasse für die Provinzialsynoden gaben. Die Statutengesetzgebung der Provinzialsynoden sei ein "Transformationsprozeß" des allgemeinen Kirchenrechts, partikulare Probleme werden hier allgemeinen Normen unterworfen. Der Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt hat zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Mainzer Statuten in einem Corpus vereinigt, das in Entsprechung zum Liber Extra/Liber Sextus gegliedert war. Für das 15. Jahrhundert konstatierte Johanek, daß die Statuten einen stärker theologisch-pastoralen Charakter annahmen als in der Zeit zuvor.

Johaneks Beitrag warnte bereits vor einer Engführung des Kirchenrechts auf verfahrens- und strafrechtliche Belange. Diesen Faden griff am letzten Tag des Kolloquiums Mario Ascheri (Siena), I trattati De ornatu mulierum e il diritto canonico, erneut auf. Das Problem des Luxus interessierte sowohl die Theologen (Thomas von Aquin) als auch die Römischrechtler. Seit Beginn des 13. Jahrhunderts befassen sich städtische Statuten mit ihm, die kirchliche Diskussion dürfte das ausgelöst haben. Die Traktatliteratur selbst war im universitären Milieu verwurzelt. Sie folgte einer moderaten Linie, die durch ihre Argumentationsgrundlage (Gratian) vorgegeben war, Polemiker und Prediger verfochten hingegen häufiger radikale Tendenzen.

Die folgenden vier Vorträge hatten gemeinsam, daß die juristischen Grundlagen für das jeweils behandelte Problem bereits im 13. Jahrhundert abschließend gelegt und auch systematisch ausgearbeitet worden waren, manchmal nur in knapper Form. Denn zunächst verwies Bernhard Schimmelpfennig (Augsburg), Regelungen der Ablaßerteilung in den päpstlichen Registern, auf die relativ schmale legislatorische Basis in den Titeln "De poenitentiis et remissionibus" im Liber Extra/Liber Sextus, was besonders intensive Einwirkungen der Praxis erlaubte. - Wolfram Benziger (Berlin/Konstanz), Die Entwicklung der Ketzerinquisition nach 1298 im Spiegel der päpstlichen Litterae: Perspektiven und Probleme, wertete den Liber Sextus als Abschluß der juristischen Entwicklung, die im 13. Jahrhundert eine weitgehende Systematisierung auf diesem Felde gebracht hatte. Im 14. Jahrhundert finden sich in den päpstlichen Schreiben kaum noch Rückgriffe auf ältere Erlasse, offenkundig reichen die im Liber Sextus versammelten prinzipiellen Regelungen aus. Die praktischen Maßnahmen waren mehr und mehr in den Inquisitionshandbüchern greifbar, die auf Dauer ein in sich geschlossenes Rechtssystem schufen, in dem der Papst nicht mehr die entscheidende Instanz war. Das "Directorium inquisitorum" von 1376 gewann deshalb, obwohl es sich um eine "Privatsammlung" handelte, den Charakter einer Kodifikation. - Schwindende und mangelnde Einflußmöglichkeiten des Papsttums stellte auch Karl Borchardt (Würzburg), Pfarreien und Meßpfründen: Kirchenrechtliche Probleme der Seelsorge vor Ort im späteren Mittelalter, fest. Zwar waren die Päpste dem Anspruch nach auch für die beneficia minora zuständig, doch bereits die Kanzleiregeln begrenzten ihren Einfluß. So kann man die Päpste kaum für die Mißstände verantwortlich machen, doch kümmerten sie sich wenig um Verbesserungen. Auch der bessernde Einfluß der Reformkonzilien blieb gering, die kanonistische Literatur griff das Problem kaum auf. - Thomas Wetzstein (Frankfurt a.M.), Der lange Schatten einer großen Zeit: Das Kanonisationsverfahren am Vorabend der Reformation, betonte die Bedeutung des gelehrten Prozesses für den Ablauf des Verfahrens, in dem die Ermittlungen vor Ort zur Überprüfung der Wunderberichte und die Entscheidung in Rom durch Papst und Kardinäle eine Art Gleichgewicht bildeten. Die juristischen Kommentare zum Kanonisationsproblem blieben eher traditionell, die Traktate waren vor allem an praktischen Dingen orientiert. Diese Aufteilung mag das Verhältnis Zentrale-Peripherie spiegeln. Werden sie als theoretische Stagnation an der Zentrale und praktische Fortbildung in der Peripherie beschrieben, so stellt sich die Frage, ob dies nicht aus den unterschiedlichen Grundbedingungen vor Ort und an der Zentrale abzuleiten sei.

Zumindest die Bemerkung der zweiten Podiumsdiskussion Kommentare aus fachjuristischer Sicht, ob nicht die eigentliche Aufgabe der Juristen darin bestehe, konservativ (konservierend) zu sein (so Emanuele Conte, Rom) wies in diese Richtung. Ein zentraler Punkt der Diskussion, der dann auch von den Referenten und dem Auditorium der Tagung aufgegriffen wurde, war jedoch, ob man die vielfältigen Ergebnisse besser nicht unter den Begriffen Stagnation/Fortbildung zusammenfassen solle, sondern hier vielmehr einen Vorgang beobachte, wie Rechtssicherheit hergestellt werden sollte. Juristen und Historiker setzten unterschiedliche Akzente. In der Entwicklung von Verfahren, der Möglichkeit sich auf nachschlagbares Recht zu berufen, darin sahen die Juristen überhaupt Voraussetzungen für die Entstehung von Rechtssicherheit. In diesem Punkt - das hatten die Referate zur Genüge gezeigt - herrschte im 14. und 15. Jahrhundert keine Stagnation. Ergebnis und Dauer eines Prozesses blieben trotzdem weiterhin unkalkulierbar, Rechtssicherheit für den einzelnen bestand deshalb nur eingeschränkt: an diesem Urteil wollte die historische Seite festhalten, aber auch ihr war klar, daß in der Entwicklung des 14. und 15. Jahrhunderts Wege und Methoden ausgebaut wurden, Ansprüche konfliktfrei zu verwirklichen und Streitfälle in geordneten Verfahren beizulegen. Die Angebote, die das Kirchenrecht dafür bereithielt, wurden - auch das war immer wieder angesprochen worden - zu einem Vorbild anderer Rechtsordnungen des lateinischen Europa.

Als zusammenfassende und weiterführende Schlußbetrachtung war der Beitrag von Knut Wolfgang Nörr (Tübingen) angelegt, der die Leitfrage des Kolloquiums "Stagnation oder Fortbildung?" aufgrund der einzelnen Beiträge nicht als eine wertende, sondern als eine analytisch-heuristische begriff. Nachdrücklich machte Nörr auf einen fundamentalen Tatbestand der kirchenrechtlichen Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert aufmerksam: auf den engen Zusammenhang zwischen päpstlicher Dekretale und ihrer nur durch die Sammlungen mögliche Rezeption in Wissenschaft und Schule. Dekretale, Sammlung und wissenschaftlicher Kommentar bildeten in der Rezeption des Rechts eine untrennbare Einheit. Die zunehmende Ausbreitung von Kenntnissen des Kirchenrechts außerhalb der Zentrale sei in hohem Maße dem mittelalterlichen Wissenschaftssystem zu verdanken. Angesichts des Rückgangs der päpstlichen Dekretalengesetzgebung seit dem 14. Jahrhundert verspreche vor allem eine Untersuchung der Nähe zur kurialen Praxis in der kanonistischen Literatur der Zeit und in den Traktaten weiterführende Erkenntnisse in Bezug auf die Fortbildung des Rechts. Extravaganten, Kanzleiregeln und Rotaentscheidungen seien jedenfalls als Rechtsquellen anerkannt gewesen. Mit der Betonung der Rolle der zeitgenössischen Wissenschaft griff Nörr ein Motiv auf, das sowohl in der unmittelbar vorausgehenden juristischen Diskussionsrunde als auch in dem "angelsächsischen" Podium des Vortages eine entscheidende Rolle gespielt hatte.

So wäre - dieser Eindruck mag sich einem Teilnehmer der inhaltsreichen Tagung aufgedrängt haben - die mit Nörr heuristisch zu begreifende Fragestellung "Stagnation oder Fortbildung?" nicht mit einem einfachen Theorie-Praxis-Modell zu beschreiben, sondern ließe sich vor allem aus einem Geflecht lebensweltlich fundierter Beschäftigung mit dem Kirchenrecht verfolgen: bei der Gesetzgebung an der römischen Zentrale, bei der Rezeption und Umsetzung vor Ort, bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Nutzung in einem Kommentar oder Traktat. Daß die handelnden Personen nicht nur in einem dieser Bereiche tätig waren, wie Handschriften und dadurch vermittelte Kenntnisse wanderten, wurde jedenfalls in den Einzelvorträgen des Kolloquiums immer wieder deutlich. Juristische und historische Fragestellungen und Untersuchungen führten so in Prozesse "gestalteter Verdichtung" - eine Formel, die Peter Moraw für das spätmittelalterliche Reich geprägt hat und die jenseits der Frage nach "Stagnation oder Fortbildung" (häufig formulierte man fast unbewußt: Fortschritt) die zentrale Rolle des Kirchenrechts und seiner Praktizierung in der Welt des 14. und 15. Jahrhunderts erkennbar macht.


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