„Hilfe“ für die Welt. Gesellschaftliches Engagement in der deutschen Entwicklungshilfe seit den fünfziger Jahren

„Hilfe“ für die Welt. Gesellschaftliches Engagement in der deutschen Entwicklungshilfe seit den fünfziger Jahren

Organisatoren
Ruth Jung (Cusanuswerk, Bonn); Johannes Paulmann (Universität Mannheim)
Ort
Mannheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.04.2008 - 12.04.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Vössing, Trier

Am 11. und 12. April 2008 fand an der Universität Mannheim eine Arbeitstagung zum Thema „’Hilfe’ für die Welt. Gesellschaftliches Engagement in der deutschen Entwicklungshilfe seit den fünfziger Jahren“ statt. Das Treffen wurde von Ruth Jung (Bonn) und Johannes Paulmann (Mannheim) organisiert und von der Hermann-Weber-Stiftung gefördert. In der historischen Forschung zur Geschichte der Entwicklungshilfe stand bisher vor allem die nationale wie internationale Politik im Vordergrund. Die Mannheimer Tagung wandte sich hingegen den gesellschaftlichen Kräften zu, welche die Entwicklungshilfe seit den 1950er-Jahren in West-, aber auch Ostdeutschland maßgeblich mitgestaltet haben. Der zeitliche Rahmen war bewusst weit gefasst und reichte bis in die Gegenwart. Diese Öffnung des Blickwinkels spiegelte sich auch in der Zusammensetzung der Teilnehmer wider: Neben Historikerinnen und Historikern waren auch Politikwissenschaftler und Ethnologen sowie Vertreter aus der praktischen Entwicklungshilfe und -politik anwesend. Somit war von vornherein ein vielfältiger Einblick in die Entwicklung des gesellschaftlichen Engagements in der deutschen Entwicklungshilfe seit den 1950er-Jahren gegeben.

Die erste Sektion beschäftigte sich mit den jeweiligen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für das gesellschaftliche Engagement in der Entwicklungshilfe beider deutscher Staaten. BASTIAN HEIN (Rosenheim) analysierte in seinem Referat die bundesdeutsche Entwicklungspolitik bis in die 1970er-Jahre in ihren institutionellen und gesellschaftlichen Bezugsfeldern. Ihren Beginn fand die westdeutsche Entwicklungspolitik bereits in der Mitte der 1950er-Jahre. Typisch für diese frühe Phase sei gewesen, so Hein, dass keine öffentliche Diskussion über die unterschiedlichen Zielsetzungen und keine Hierarchisierung der diversen Motive stattgefunden habe. Gegen Ende der 1960er-Jahre wurde dann auf Drängen der westlichen Verbündeten die staatliche Entwicklungshilfe vervielfacht. Die durch diese Ausweitung neu begründeten Institutionen ersetzten die bereits bestehenden jedoch keineswegs, sondern rückten vielmehr an deren Seite. Die zunehmende Kritik aus allen politischen Lagern im Laufe der 1960er-Jahre stürzte die bisherige Entwicklungspolitik in eine tiefe Krise, auf die der seit 1968 amtierende Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Erhard Eppler mit umfassenden Reformen antwortete. Neben der Unterstützung und Zusammenarbeit mit einigen gemäßigten linken Gruppierungen war es vor allem der Rückhalt durch Willy Brandt, der es Eppler erlaubte, die staatliche Entwicklungspolitik konzeptionell zu festigen. Zudem sollte sie weitgehend von Außen- und Finanzministerium emanzipiert werden und in die Alleinzuständigkeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit fallen. Die mittelfristige Finanzplanung sah weiterhin eine erhebliche Ausweitung der bundesdeutschen Entwicklungshilfe vor. Die ökonomische Krise der Jahre 1973/74 sowie der Wechsel im Amt des Bundeskanzlers führten letztlich jedoch zu einer Kürzung der angekündigten Mittel sowie schließlich auch zum Rücktritt des Bundesministers. Fortan besaß das Volumen der bundesdeutschen Entwicklungshilfe innerhalb des Bundeshaushalts zwar einen konstanten Anteil, gleichzeitig habe die Entwicklungspolitik innerhalb der Regierungsarbeit aber relativ an Bedeutung verloren, so Hein abschließend.

Den folgenden Vortrag hielt HANS-JOACHIM DÖRING (Beauftragter für den kirchlichen Entwicklungsdienst, Magdeburg) zur Entwicklungspolitik der DDR. Döring stellte heraus, dass der Begriff der „internationalen Solidarität“ einen bedeutenden Teil des Selbstverständnisses der DDR dargestellt habe. Dem Verständnis der SED nach war staatliche Solidarität jedoch an das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus gebunden. Auch wenn es keine öffentliche Diskussion über staatliche Entwicklungspolitik und -hilfe gab, entwickelte sich in der DDR ein kompliziertes Geflecht damit befasster Institutionen. Die Entscheidungsbefugnis lag jedoch im engsten Machtkreis des Politbüros. War staatliche Entwicklungspolitik also zunächst als Teil der selbstverständlichen internationalen Solidarität mit den befreundeten Staaten ausgelegt worden, so zeigte Döring anhand des Beispiels Mosambik für die zweite Hälfte der 1970er-Jahre einen grundlegenden Motivationswandel auf. Angesichts der massiven Verschuldung der DDR beschloss das Politbüro im Sommer 1977 eine „Exportoffensive Afrika“, in deren Gefolge es zu einer Ökonomisierung der bisherigen Solidaritätspolitik kam, an deren Ende eine devisenorientierte Handelspolitik stand. Spätestens ab dieser Phase, so Döring, könne man in Bezug auf die DDR-Entwicklungspolitik von einer ökonomisch getränkten Doppelmoral sprechen.

Mit dem Vortrag von HUBERTUS BÜSCHEL (Universität Potsdam) zu Selbstdeutungen deutscher Entwicklungshelfer in Afrika begann der zweite Abschnitt der Tagung, der sich den Helfern und Experten zuwandte. Büschel verwies zunächst darauf, dass in der bisherigen Forschung die Entwicklungshelfer vor Ort zumeist allenfalls als Marionetten der Organisationen, in deren Auftrag sie arbeiteten, wahrgenommen worden seien und sie dementsprechend auch deren Denkmuster, Leitlinien und Diskurse übernommen und repräsentiert hätten. Umso interessanter ist daher die Quellengruppe zeitnah verfasster Selbstzeugnisse von Entwicklungshelfern, die von dem Eingeständnis eigener aber auch kollektiver (kolonialer) Schuld, von eigenem Rassismus, von Unverständnis und von eigenem Versagen und Scheitern erzählen. Sie weichen von dem durch die Trägerorganisationen propagierten Bild einer erfolgreichen Umsetzung des eigenen Auftrages ab. Büschel verwies darauf, dass man hierbei auch die afrikanische Seite berücksichtigen müsse. Trotz des Eingeständnisses von Scheitern und Selbstzweifeln tradierten nämlich auch diese europäischen Selbstzeugnisse die Trennung von hilfslosen Bedürftigen auf der einen und der Position der Helfer auf der anderen Seite. Büschel schloss mit der Bemerkung, dass diese Texte nicht dazu dienen könnten, eine „Heldengeschichte“ der Helfer vor Ort zu schreiben.

Im zweiten Vortrag dieser Sektion untersuchte BERNHARD GISSIBL (Universität Mannheim) die deutsche „Hilfe“ für die afrikanische Tierwelt als Teil zivilgesellschaftlichen Engagements in sogenannten Entwicklungsländern. Gißibl belegte, dass die Vorstellung von Afrika als paradiesischer Wildnis, deren Bewahrung sich die Europäer als Kulturaufgabe anmaßten, und die hierdurch motivierten politischen Interventionen ihre Wurzeln in der deutschen Kolonialherrschaft vor dem Ersten Weltkrieg hatten. Tatsächlich lag der Ursprung der deutschen wie allgemein der westlichen Schutzbestrebungen für die Tierwelt Afrikas in den Aktivitäten einer kleinen Elite von Großwildjägern, Wissenschaftlern und Naturschützern, die sich seit den 1890er-Jahren für den Erhalt der Wildbestände der afrikanischen Kolonialgebiete zu Zwecken von Jagd, Wissenschaft und Tourismus einsetzten. Dank bester politischer Verbindungen über jagdliche und aristokratische Netzwerke gelang es den kolonialen Naturschützern, vor allem in Deutsch-Ostafrika, dem späteren Tanzania, die Einrichtung großflächiger Wildreservate durchzusetzen. Exklusion, Exklusivität, die politische Ökologie einer menschenleeren Wildnis sowie die Überzeugung von der europäischen Treuhandschaft für die afrikanische Tierwelt waren die wesentlichen Strukturmerkmale des kolonialen Naturschutzes um 1900 gewesen. Sie prägten auch die in den 1950er-Jahren neuerlich aufkommenden Aktivitäten von als Experten betrachteten Tierschützern wie etwa Bernhard Grzimek, den Gißibl als Teil eines internationalen, fast ausschließlich aus männlichen Eliten zusammengesetzten Netzwerkes darstellte. Der Frankfurter Zoodirektor mobilisierte mit seinen Filmen und Fernsehsendungen eine ernorme Spendenbereitschaft der deutschen Fernsehzuschauer, wodurch die kolonialen Naturschutzmaßnahmen in Ostafrika nach der Unabhängigkeit Tanzanias nicht nur fortgeführt, sondern noch intensiviert werden konnten. Wissenschaftlich legitimierte Auffassungen eines natürlichen Gleichgewichts jenseits von menschlicher Einflussnahme führten im Falle des Serengeti-Nationalparks im Nordwesten Tanzanias zur zwangsweisen Umsiedlung der Bewohner des Parks. Paradoxerweise ist dadurch eine Landschaft zum Inbegriff unberührter Ursprünglichkeit erklärt worden, die menschheitsgeschichtlich wohl am längsten von der dynamischen Koexistenz von Menschen und Tieren geprägt worden war. Das Aufeinandertreffen von westlichem Interesse an touristischen Wildparadiesen und ökologischen „Freiland-Laboratorien“ einerseits und dem Finanzbedarf und Modernisierungsinteresse der postkolonialen afrikanischen Staaten andererseits habe, so Gißibls Fazit, wesentliche Asymmetrien kolonialen Ursprungs zementiert.

Die dritte Sektion der Tagung wandte sich mit den beiden großen Kirchen den wohl bedeutendsten gesellschaftlichen Akteuren der deutschen Entwicklungshilfe zu. Den ersten Vortrag in diesem Bereich hielt RUTH JUNG (Cusanuswerk, Bonn) zur katholischen Mission und Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik und der DDR für den Zeitraum der 1950er- bis 1970er-Jahre. Einleitend verwies Jung darauf, dass sich die kirchliche Mission im Laufe des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert habe und dass das Aufkommen kirchlicher Entwicklungshilfe einen Teil dieses Prozesses darstelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein neues Selbstverständnis der katholischen Mission: Sie war fortan nicht mehr nur die Aufgabe von einzelnen Orden und Vereinen, sondern ein Anliegen der gesamten Kirche. Die Mission, seit den 1950er-Jahren verstärkt gefördert, sah ihre Schwerpunkte zunehmend in Erziehung, Bildung, der stärkeren Einbeziehung von Laien und intensivierter Öffentlichkeitsarbeit in der Heimat sowie vor allem im Ausbau des sozial-karitativen Engagements vor Ort in den Missionsgebieten. Die Entwicklungshilfe spielte hierbei ab dem Ende der 1950er-Jahre (Gründung von Misereor) als Teil der christlichen Nächstenliebe eine bedeutende Rolle. Mit Blick auf die DDR stellte Jung fest, dass auch hier ab 1968 nach anfänglichem Zögern und trotz grundlegender struktureller Unterschiede mit „Not in der Welt“ eine ähnlich erfolgreiche Organisation wie Misereor in Westdeutschland gelungen sei. Auch wenn die katholische Entwicklungshilfe immer wieder von Grundsatzdiskussionen über die schwierige Abgrenzung zur Missionstätigkeit geprägt war, lasse sie sich, so Jung zusammenfassend, als Teil des Exportes einer „gezähmten“, weil der christlich-kirchlichen Auffassung entsprechenden, Moderne verstehen. Jung vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass die Kirche maßgeblich zu dem wohl bedeutendsten Paradigmenwechsel des entwicklungspolitischen Handelns beigetragen habe, indem sie den Blick darauf gelenkt habe, was man in Europa selbst leisten und verändern müsse.

Der zweite Vortrag zum Themengebiet kirchlicher Entwicklungshilfe von ANNETT HEINL (Universität Trier) lieferte eine vergleichende Perspektive auf die wichtigsten Hilfswerke beider Konfessionen, Misereor und Brot für die Welt. Heinl zeigte auf, dass Brot für die Welt nur eine von vielen mit Entwicklungshilfe befassten protestantischen Einrichtungen darstellte, unter denen aufgrund vorhandener Profilierungsansprüche und divergierender Zielvorstellungen eine effiziente Koordination nur schwer möglich war. Unterschiedliche Motive veranlassten die beiden großen Volkskirchen Ende der 1950er-Jahre dazu, sich mit ihren Hilfswerken in einem verstärkten Ausmaß in der Entwicklungshilfe zu engagieren. Im Hinblick auf die Rolle missionarischer Intentionen kam Heinl zu dem Schluss, dass sowohl Brot für die Welt als auch Misereor offiziell keine Missionsprojekte unterstützten. Während Brot für die Welt dies bewusst getan habe, um so einerseits einem möglichen Ansehensverlust der jungen Kirchen entgegenzuwirken und andererseits nicht den Rückgang von Spendengeldern jener Kreise zu riskieren, die der Mission kritisch gegenüber standen, muss in Bezug auf Misereor jedoch festgestellt werden, dass zumindest innerhalb kirchlicher Kreise dem katholischen Hilfswerk auch eine wichtige Missionsfunktion zuerkannt wurde. Zugleich stellte Heinl heraus, dass beide Organisationen bei ihren Aktivitäten auf die vorhandenen Missionsstrukturen angewiesen waren. Insofern gestaltete sich das Verhältnis von Entwicklungshilfe und Mission als eine komplexe Materie, die eine strikte Trennung beider Tätigkeitsfelder nur schwerlich zugelassen habe.

Die vierte Sektion widmete sich verschiedenen weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren in der Entwicklungshilfe. Dazu gehörte nach dem Ausscheiden aus seinen offiziellen politischen Funktionen auch Altbundeskanzler Willy Brandt, dessen entwicklungspolitisches Engagement WOLFGANG SCHMIDT (Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin) näher untersuchte. 1976 nahm Brandt den Auftrag an, eine nichtamtliche internationale Kommission zu leiten, welche neue Vorschläge für die Entwicklungspolitik ausarbeiten sollte. Diese tagte ab 1977 und legte 1980 ihren Abschlussbericht unter dem programmatischen Titel „Das Überleben sichern“ vor. Der bald so genannte „Brandt-Report“ stellte eine Vielzahl von Forderungen auf. Dazu gehörten vor allem diejenige nach mehr Programm- statt Projekthilfe, die verstärkte Förderung der Landwirtschaft, die Entwicklung einer internationalen Energie- und Rohstoffstrategie sowie die deutliche Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfeausgaben der Industrieländer – zunächst auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Außerdem wurde eine Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisation verlangt. Der Bericht stieß jedoch national wie international auf breite Kritik und wurde auch in der allgemeinen bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nur verhältnismäßig wenig rezipiert. Wenngleich politisch generell begrüßt, schlugen sich die Forderungen des „Brandt-Reports“ kaum in der nachfolgenden bundesdeutschen Entwicklungspolitik nieder. Dass der „Brandt-Report“ dennoch nicht in Vergessenheit geriet, immer wieder zitiert wurde und zudem Nachfolger fand, sei, so Schmidt, in erster Linie dem einem dramatischen Appell gleichkommenden Vorwort Brandts geschuldet, in welchem dieser vor einem drohenden Chaos gewarnt und auf die moralische Pflicht zu handeln gedrungen hatte. Mit diesem entschiedenen Aufruf für ein Umdenken in der internationalen Entwicklungshilfepolitik habe sich Brandt zu einem kritischen Vordenker vieler Aspekte der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte gemacht.

Mit seinem Vortrag zur Konzeption und Geschichte des fairen Handels lenkte KONRAD KUHN (Universität Zürich) den Blick auf zentrale Aktionsformen im weiten Spektrum der Tätigkeiten der zivilgesellschaftlichen Dritte-Welt-Bewegung. Anhand des Fallbeispiels der Schweiz, die aber neben dem bundesdeutschen Fall auch stellvertretend für andere westeuropäische Länder stehen kann, zeigte er auf, dass am Anfang des so genannten „fairen Handels“, der heute mit der Zielsetzung eines existenzsichernden Einkommens und der Schaffung eines Marktzuganges für Genossenschaften und Kleinbauern aus Entwicklungsländern verbunden wird, zwei parallel laufende Prozesse standen. Zum einen legte die Dritte-Welt-Bewegung die Basis für eine theoretische und konzeptionelle Auseinandersetzung mit den Handels- und Wirtschaftsverflechtungen der Entwicklungsländer, die maßgeblich vom Scheitern der Modernisierungstheorie und der Rezeption dependenztheoretischer Überlegungen geprägt war. Der zweite Faktor am Anfang des fairen Handels waren ab Mitte der 1970er-Jahre die äußerst erfolgreichen Konsumentenaktionen – für die Schweiz etwa die Kaffee-Aktion „Ujamaa“ (1975/76) und die Aktion „Jute statt Plastik“ (1976-1979). Sie wurden von mehreren Aktionsgruppen getragen. Das Anliegen dieser Importaktionen, bei denen unter Ausschaltung des Zwischenhandels einige ausgewählte Produkte direkt eingeführt und vermarktet wurden, lag zuvorderst in der Aufklärung der Bevölkerung über die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge. Die Produkte stellten somit eher ein Vehikel der Informationsvermittlung und Bewusstseinsbildung dar. Der Erfolg dieser Aktionen zog dann die Gründung von zentralen Importgenossenschaften nach sich, deren Tätigkeiten zum einen auf dem theoretischen Konzept der Dritte-Welt-Bewegung im Sinne einer „selektiven Handelsförderung“ fußten und gleichzeitig die praktischen Erfahrungen der Konsumentenaktionen in sich aufnahmen. Somit wandelte sich die ursprünglich entwicklungspolitische Weltmarktkritik auch in eine Kritik an der Massenkonsumgesellschaft, welche wiederum neue ethische und zudem umweltbewusste Konsumstile hervorgebrachte.

Die aktuellen Probleme der deutschen Entwicklungshilfezusammenarbeit und die Sonderrolle der politischen Stiftungen waren Gegenstand des Referates von HELMUT REIFELD (Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin). In seinem Vortrag ging er vor allem auf die Veränderungen in der Entwicklungshilfezusammenarbeit innerhalb der letzten zehn bis fünfzehn Jahre ein. Hier gelte es neben dem veränderten Moment der Gefahrenabwehr seit 2001 vor allem auch die „Millenniumserklärung“ (2000) und die mit ihr verbundenen Ziele sowie die Auswirkungen der „Paris-Deklaration“ (2005) zu berücksichtigen. Unter den aktuellen Kontroversen hob Reifeld besonders die Frage nach dem Verhältnis von quantitativer und qualitativer Entwicklungshilfezusammenarbeit und die Frage nach den Finanzierungsmöglichkeiten der Millenniumsziele hervor. Im Zusammenhang der internationalen Beziehungen diskutierte er ferner die Rolle der neuen Geberländer (etwa China, Indien und Südafrika) sowie die Problematik des Verhältnisses von Entwicklung und Sicherheit. Zusammenfassend könne man die aktuellen Grundtendenzen der Entwicklungshilfezusammenarbeit mit den Schlagworten Internationalisierung/Multilateralisierung, Sicherheitspolitik und Monetarisierung benennen.

Abschließend warf THOMAS HÜSKEN (Universität Bayreuth) einen ethnologischen Blick auf die „Entwicklungsbegegnung“ und die Rolle interkultureller Kommunikation in Entwicklungsprojekten. Seine Ausführungen basierten auf Forschungen, die sowohl in den Einsatzgebieten von Entwicklungsexperten – in diesem Falle in Ägypten, Jordanien, dem Jemen und in Palästina – als auch in den Agenturzentralen in Deutschland durchgeführt worden waren. Hüsken führte aus, dass in den letzten Jahren der Faktor „Kultur“ Eingang in die deutsche, staatliche Entwicklungszusammenarbeit gefunden habe und interkulturelle Kompetenz zu einer Schlüsselqualifikation für Entscheidungsträger in der weltweiten Zusammenarbeit erklärt worden sei. Der „Stamm“ von Projektexperten moderiert vor Ort die unterschiedlichen Interessen der deutschen Agenturen für Entwicklungszusammenarbeit und der Partner des jeweiligen Einsatzlandes, ohne klares politisches Mandat und Erzwingungsmittel. Der Umgang mit beiden Seiten ist für die Experten komplex, denn sie müssen nicht nur die schlecht funktionierenden, häufig informellen Regelsysteme der Zielgruppen, sondern auch die Defizite der eigenen Agentur bewältigen. Die Projektexperten kompensieren dies durch die Entwicklung informeller Praktiken und eigener interpersoneller Netzwerke und Klientelbeziehungen untereinander. Die Umgehung der eigenen Normen und Verfahren aus praktischer Notwendigkeit führt in der Entwicklungsarbeit gelegentlich zu rechts- und regelfreien Räumen, in denen die Beteiligten unterschiedliche strategische Ziele verfolgen. Hinter dem vermeintlichen Kampf der Kulturen bzw. den angenommenen unterschiedlichen kulturellen Identitäten von Experten und lokalen Gruppen verbirgt sich tatsächlich ein Defizit an Verfahren und Institutionen zur Aushandlung von Heterogenität. Der Misserfolg von Entwicklungsprojekten beruhe, so Hüsken, nicht auf kulturellen Unterschieden, sondern rühre aus dem Fehlen einer verbindlichen Basis von Regelen und Verfahren. Zur Aushandlung unterschiedlicher Ideen, Interessen und Vorgehensweisen bedarf es daher nicht nur einer vernünftigen Vorbereitung der Projektexperten, sondern auch der regelhaften Prozessbegleitung ihrer Tätigkeiten durch die eigenen Agenturen.

Neben den in diesem Tagungsbericht vorgestellten Referaten haben vor allem auch die jeweils durch einen Kommentar von JOHANNES PAULMANN (Universität Mannheim), MADELEINE HERREN (Universität Heidelberg), GABRIELE LINGELBACH (Universität Freiburg), RUTH JUNG und BERNHARD GISSIBL eingeleiteten Diskussionen verdeutlicht, welche Möglichkeiten die historische Erforschung des gesellschaftlichen Engagements in der deutschen Entwicklungshilfe eröffnet. Paulmann hob dementsprechend in seiner Bilanz zum Abschluss der Tagung hervor, dass die Auswahl der thematischen Schwerpunkte sowie der zeitlich weit gefasste Rahmen und die Zusammensetzung der Referenten, Kommentatoren und weiteren Diskutanten schlaglichtartig das Potential und die Breite an Ansatzpunkten aufgezeigt habe, die bei einer historischen Untersuchung des gesellschaftlichen Engagements in der Entwicklungshilfe berücksichtigt werden müssten. Künftige Forschungsvorhaben sollten vor allem die Verhältnisse vor Ort in den Entwicklungsgebieten systematisch einbeziehen, die personellen und institutionellen Netzwerke der gesellschaftlichen Gruppen untersuchen sowie die Rolle der Medien und der Öffentlichkeitsarbeit erforschen. Ferner könnte die Analyse der verschiedenen Vorstellungen, welche sich die Akteure von der Entwicklung machten, dazu dienen, sowohl das ost- und westdeutsche Selbstverständnis als auch das jeweilige Weltverständnis nach Nationalsozialismus und Weltkrieg zu beschreiben. Schließlich müssten international vergleichende Arbeiten gefördert werden, auch um die deutschen Spezifika im gesellschaftlichen Engagement für die Entwicklungshilfe genauer zu bestimmen. Die Tagung habe gezeigt, so Paulmann, dass die Hilfe für die „Dritte Welt“ einer der Bereiche gewesen sei, über den die Gesellschaft beider deutscher Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mit der weiteren Welt friedlich verflochten, zugleich aber auch in die teils gewaltsamen, teils unkriegerischen Konflikte verstrickt worden sei. Die Außenbeziehungen, die jenseits von sicherheitspolitischen Allianzen und Diplomatie etabliert wurden, eröffneten ein vertieftes Verständnis für das gegenwärtige Verhältnis der deutschen Gesellschaft und Politik gegenüber globalen Entwicklungen.

Kurzübersicht:

I. „Entwicklungshilfe“ aus Deutschland: staatliche Rahmenbedingungen

Bastian Hein (Rosenheim): Eine „verteufelt komplizierte Materie“ – die frühe deutsche Entwicklungspolitik in ihren institutionellen und gesellschaftlichen Bezugsfeldern
Hans-Joachim Döring (Beauftragter für den kirchlichen Entwicklungsdienst, Magdeburg): Außenwirtschaft oder internationale Solidarität? Entwicklungspolitik der DDR
Kommentar: Johannes Paulmann (Universität Mannheim)

II. „Pionierarbeit“: Helfer und Experten

Hubertus Büschel (Universität Potsdam): Zweifel, Schuld und Scheitern: Selbstdeutungen deutscher Entwicklungshelfer/innen in Tansania, Togo und Kamerun 1960-1975
Bernhard Gißibl (Universität Mannheim): Große Tiere: Exklusion, Exklusivität und die deutsche „Hilfe für die bedrohte Tierwelt“ Afrikas
Kommentar: Madeleine Herren (Universität Heidelberg)

III. Mission oder Entwicklungshilfe? Kirchliche Aktionen aus dem geteilten Deutschland

Ruth Jung (Cusanuswerk, Bonn): „Hüter der katholischen Sozialordnung“: Missionen und Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik und der DDR
Annett Heinl (Universität Trier): Misereor und Brot für die Welt im Vergleich
Kommentar: Gabriele Lingelbach (Universität Freiburg)

IV. Entwicklung, Frieden, Gerechtigkeit: Dritte-Welt-Bewegung und Parteien

Wolfgang Schmidt (Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin): „Das Überleben sichern“ – Die Herausforderung des Brandt-Reports
Konrad Kuhn (Universität Zürich): Zwischen Umsatz und Information – Zur Konzeption und Geschichte des fairen Handels, 1973-1985
Helmut Reifeld (Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin): Aktuelle Probleme der deutschen Entwicklungshilfezusammenarbeit und die Sonderrolle der politischen Stiftungen
Kommentar: Ruth Jung (Cusanuswerk, Bonn)

V. Vor Ort: Ethnologische Perspektiven auf die Entwicklungshilfe

Thomas Hüsken (Universität Bayreuth): Der Stamm der Experten: Interkulturelle Kommunikation in Entwicklungsprojekten
Kommentar: Bernhard Gißibl (Universität Mannheim)


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