Biographieforschung und Oral History - Methoden, Theorien, Praxis

Biographieforschung und Oral History - Methoden, Theorien, Praxis

Organisatoren
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
26.05.2008 - 27.05.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Judith Purkarthofer unter Mitarbeit von Petra Pfisterer, Forschungsgruppe Spracherleben, Wien

Zum Werkstattgespräch der Österreichischen Akademie der Wissenschaften lud die Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, um Methoden, Theorien und Praxis der Biographieforschung und Oral History zu diskutieren. Bereits in der Eröffnung betonten MORITZ CSÁKY und HEIDEMARIE UHL die Schwerpunktsetzung auf die Arbeit mit dieser Art von „generierten“ Daten und die Herausforderungen von Erhebung und Analyse. Als multidisziplinäres Treffen angelegt, lagen die Ziele im Austausch und in der Diskussion konkreter Forschungstraditionen, so die Organisatorinnen Nicole L. Immler und Maria Ecker.

Als Methode angelegt, die politischen, gesellschaftsverändernden Anspruch vertritt, sei die Biographieforschung und Oral History mittlerweile in einem etablierten Methodenkanon angekommen und ihre Daten werden als eine Quelle unter vielen genutzt. Oral Historian der ersten Stunde ALEXANDER VON PLATO betonte neben der Herkunft aus den Gewerkschaften vor allem den Zuspruch, den die Methode heute etwa in Südamerika, Afrika oder Asien erlebe. An der internationalen Vernetzung, die anfangs aus dem extrem kleinen Forschendenkreis resultierte, seien nun mehrere hundert Forschende beteiligt, die in der International Oral History Association (seit 1996, nächstes Treffen in Prag 2010) vertreten seien. Dennoch stehe der Rechtfertigungsdruck gegenüber vorgebrachten Argumenten wie vorherrschender Subjektivität und der problematischen Personalunion von Forschenden und Analysierenden immer noch im Raum. Umso entscheidender zu betonen, dass die Stärke von biographischen oder Oral History Ansätzen in den Fragen nach Wirkungen liege und nicht als Weg zu „Facts and Figures“ zu verstehen sei. Stattdessen könne der Weg zu einer „demokratisierenden Geschichtsschreibung“ beschritten werden. Die Reflexion der eigenen Methode und die Erkenntnis ihrer Grenzen wurden von vielen Teilnehmenden des Werkstattgesprächs auch als Vorteil erkannt, um zu kritischer Auseinandersetzung mit Wissens- und Wissenschaftskonstruktion zu gelangen. Heidemarie Uhl merkte an, dass die theoretischen Anforderungen der Oral History allerdings auch eine Schwelle darstellen und Forschende sich dadurch eingeschüchtert fühlen könnten.

Angesprochen wurde auch das Phänomen „ZeitzeugInnen“, das im Lauf der Diskussion immer wieder Thema werden sollte. Alexander von Plato stellte die ZeitzeugInnen und ihre Erzählungen der Oral History entgegen und Heidemarie Uhl bemerkte die Überforderung durch ZeitzeugInnen (etwa in Schulklassen), da ihre authentische Rolle häufig mit einer Erhabenheit über Kritik verknüpft werde. Das Bewusstsein über die Konstruiertheit von Erinnerung erlaube dabei die Einsicht, dass Erzählungen von ZeitzeugInnen ebenso wenig „objektiv wahr“ seien und Veränderungen in der Erinnerung wie auch der Erzählung festzustellen seien. Hier stellte sich auch die Frage, wie empathisch Forschende auf Erzählungen eingehen sollten und ob Opfer- und TäterInnen-Geschichten gleich zu behandeln seien. Aus ihrer persönlichen Erfahrung beschrieb ELA HORNUNG Probleme sowohl bei Abwehr also auch Überidentifikationsverhalten gegenüber InterviewpartnerInnen. Diese Schwierigkeiten würden die Komplexität der erinnerten Lebensgeschichten wiederspiegeln und, so Alexander von Plato, widersprüchliche Erinnerungskulturen würden in permanenter Auseinandersetzung ihre diskursiven Räume verhandeln bzw. als individuelle aber auch nationale Erinnerungen „miteinander streiten“. Bedeutsam dabei sei der Moment der Erinnerung/Wieder-Erzählung, an dem „das jetzt gewordene als schon damals angelegt“ gesehen werde. Auch Moritz Csáky an dieser Stelle wies auf die Widersprüche hin, die bereits im Individuum angelegt seien.

Ein großer Teil der vorgestellten Projekte beschäftigte sich in der einen oder anderen Weise mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Gegenwart, und zwar sowohl mit der Erzählung nationaler und europäischer Geschichte, mit persönlichen Lebensgeschichten von Opfern von Flucht und Vertreibung, mit Restitution und Entschädigung, aber auch mit der Tradierung von Familiengeschichten von TäterInnen.

CLAUDIA LENZ berichtete aus einem Projekt zur vergleichenden Tradierungsforschung, das auf die Verarbeitung von Geschichte in familiären Zusammenhängen fokussiert. Öffentliches und privates Erinnern würden in Einzel- und Familiengesprächen aufeinandertreffen und zwischen den Generationen ausgehandelt. Als Ausgangspunkt werde die Thematik des Zweiten Weltkriegs in sieben europäischen Staaten behandelt, als Hypothese dabei angenommen, dass sich die unterschiedlichen, mehr oder weniger problematischen, nationalen Erzählungen auf die familiäre Erinnerung auswirken würden. Anders als in biographischen Interviews wurde in diesem Projekt mit Ausgangsreizen (5 Bildern bzw. einem kurzen Filmausschnitt) gearbeitet. Mit der Methode der Hermeneutischen Dialoganalyse wurden Codes gefunden, die, so Lenz, als Wegweiser ins Material dienten. Als Ergebnis der Kodierungs- und Interpretationsarbeit wurden Tradierungstypen gefunden, die sich durch unterschiedliche kommunikative Verfertigungen von historischem Sinn unterschieden.1

OLAF JENSEN, der mit Claudia Lenz zu Tradierung europäischer Geschichte gearbeitet hatte, fokussierte stärker auf methodologische Fragen und ging näher auf die Familien- und Gruppendiskussion (mit TeilnehmerInnen aus jeweils einer Generation) ein. Als theoretische Basis stützte sich dieses Projekt einerseits auf die Sozialpsychologie Erving Goffmans und andererseits auf das Konzept des Familiengedächtnis“ von Maurice Halbwachs. Die Interpretation der Daten sei einerseits als Alltagsleistung zu sehen, andererseits sei die Frage nach dem Ende der Interpretation vor allem dort zu stellen, wo nicht alles im Transkript manifest werde. Die Diskrepanz zwischen Fragen und Antworten öffne einen Interpretationsspielraum, der gefüllt werden wolle. In der Diskussion stellte sich auch die Frage, wie offen nach dem eigentlich Gefragten zu fragen sei bzw. ob und wie Implizites zu interpretieren sei.

Im nächsten Beitrag stellte NICOLE L. IMMLER ihr aktuelles Forschungsprojekt vor, das sich mit den Nachwirkungen von Restitution beschäftigt. Auch hier liegt das Augenmerk auf dem Familiengedächtnis und seiner Konstruktion und Verarbeitung von Restitutionszahlungen, die von der Republik Österreich in den letzten 60 Jahren geleistet wurden. Durch die biographische Methode soll ersichtlich werden, wie die unterschiedlichen Etappen der Zahlungen bzw. Rückgaben innerhalb der familiären Erzählung weitergegeben werden und wie die Wirksamkeit dieser Maßnahmen erlebt werde. Zum Teil würden Opfer und Betroffene eine „zweite Traumatisierung“ beklagen, die durch das notwendige Erinnern bei der Antragstellung ausgelöst werde. Das Interesse an und der Erzähungswert der eigenen Geschichte würden allerdings von den Familien auch als Anerkennung der eigenen Historie und ihrer Rolle darin geschätzt. Für diese Begleiterscheinungen der Restitutionsanstrengungen verspräche das Projekt sehr interessante Aufschlüsse. Die Forschende ist dabei mit Herausforderungen konfrontiert, die sich aus der Komplexität des Gegenstands ergeben: Zwischen der faktischen Genauigkeit, mit der die Anträge gestellt werden müssen, und der erinnerten Geschichte, die in den Interviews konstruiert werden soll, bestehe eine große Diskrepanz, die von den Erzählenden in unterschiedlicher Weise verarbeitet werde.

MARGIT REITER beschäftigte sich mit familiären Konstellationen und ihren Auswirkungen auf die Einzelnen, wobei sie ihren Fokus auf die sogenannten „Kinder der Täter“ richtete. Darunter seien Personen der Jahrgänge 1938 bis 1954 zu verstehen, deren Eltern in unterschiedlicher Weise als Täter auf Seiten der NationalsozialistInnen involviert waren. Deren Geschichte werde bislang wenig beleuchtet, sie stellten sich der Forschenden sehr bereitwillig als InterviewpartnerInnen zur Verfügung. In ihrem Referat ging Margit Reiter vor allem auf Fragen der Konkurrenzerinnerung, des Erinnerndürfens und den Umgang mit der (teilweise auch ungeklärten) Schuld der Eltern ein. Dabei kamen auch forschungsethische Überlegungen zur Funktion von Empathie, Sympathie bzw. Antipathie und kritischer Distanz von seiten der Forschenden zur Sprache. Gerade auch, weil die InterviewpartnerInnen selbst Vorstellungen von der Rolle der Historikerin hätten und deren professionelles Wissen zur Klärung der eigenen Geschichte erfragen wollten. Margit Reiter summierte dies mit dem Bedürfnis der Erzählenden, die eigene Geschichte zu verstehen, sie aber auch teilweise anders weiterzuerzählen - in diesem Zusammenhang wies sie auch auf die Veränderungen hin, die sich teilweise zwischen Vorinterview und Interview ergeben hatten.

Nach den Vorstellungen konkreter Forschungsprojekte konzentrierten sich die beiden letzten Beiträge des Tages stärker auf methodische und methodologische Themen und ihre Relevanz in der Oral History bzw. Biographieforschung.

Ela Hornung beschrieb in ihrem Referat die Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann und die Form der sequentiellen Analyse. Dabei handle es sich um eine Hermeneutik des Verdachts, d.h. es gelte ein gewisses Misstrauen gegenüber der Erstbedeutung von Textsequenzen zu entwickeln um die Interpretation offen für weitere, ebenfalls plausible Möglichkeiten zu halten. Das Vorgehen erfolge nach Sinneinheiten (Sequenzen), wie sie Gabriele Rosenthal beschrieben hat. Äußere Biographie (gelebtes Leben) und erzählte Biographie würden in verschiedenen Schritten behandelt, dabei werden Protokolle über mögliche Art und Funktion bestimmter Abschnitte sowie vermutliche Handlungs- und Erzählungsgründe geführt. In einem dritten Schritt würden ausgewählte Stellen (vor allem solche, die als problematisch empfunden werden) mittels einer Feinanalyse noch genauer analysiert. Dabei komme es jeweils zur Bildung von Hypothesen, die je nach Verlauf der Erzählung bzw. der Aufzeichnungen als plausibel beibehalten oder als nicht mehr plausibel verworfen würden. Ein Vorteil der Methode bestehe in der Langsamkeit und Genauigkeit, die allen Teilen der Texte gewidmet werde, die aufwändige Protokollproduktion sei allerdings mit einem erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand verbunden. Als Möglichkeit wurde die Anwendung in Teilen empfohlen, die am besten in einer intersubjektiven Forschungsgruppe erfolge, um Deutungs- und Kommunikationsmuster aufzuspüren. Abschließend betonte Ela Hornung die theoretischen Implikationen, die mit der Methode verbunden seien und verwies auf die Einschränkungen, die sich durch die „nur“ methodische Anwendung ergeben würden.

ALBERT LICHTBLAU griff in seinem Beitrag ein Thema wieder auf, das bereits im ersten Beitrag Gegenstand der Diskussion gewesen war und widmete sich der Frage der Quellen und Dokumentation. Er betonte dabei vor allem die Notwendigkeit von Filmaufnahmen und den zusätzlichen Wert, den diese Kombination von Ton und Bild bieten könne. Verbunden damit sehe er die Möglichkeit, auch materielle Gegenstände einzubinden bzw. ErzählerInnen Gegenstände zeigen zu lassen. Auch bestimmte Orte und Räumlichkeiten sowie deren möglicher Einfluss auf das Verhalten und Erinnern der InterviewpartnerInnen könnten mittels Filmaufnahmen erfasst werden. Ergänzt werden könnte das Erzählen auch durch private Fotographien oder eben auch „private footage“ (privates Filmmaterial). Wie Interviews unterlägen natürlich auch bildliche Darstellungen einer historischen Rahmung und würden von herrschenden optischen Regimen beeinflusst - Alexander von Plato äußerte hier die Einschätzung, Bilder würden sogar noch schneller als Ton veralten. Verbunden mit der medialen Aufzeichnung seien auch Fragen von Inszenierung und Konstruktion - die Darstellung im Film (durch Ausleuchtung, Schnitt, etc.) wirke auf die BetrachterInnen, aber schon die Anwesenheit von Kameraleuten wirke sich auf die Aufnahmesituation aus. Eigene Erfahrungen der medialen Inszenierung, die sich durch „öffentliche Erinnerungen“ auch in individuellen Geschichten niederschlagen, gelte es ebenfalls mit zu bedenken.

Auch die ersten Referate des zweiten Tages widmeten sich noch methodologischen Fragen, bevor es mit Projektvorstellungen weiterging. Aus der Linguistik kamen dabei Anregungen zur möglichen Rolle der Diskursanalyse in der Biographieforschung und zu Fragen von Interviewsprache(n) und Sprachwechsel im biographischen Erinnern.

MARTIN REISIGL wies auf die Bedeutung von Diskurs in unterschiedlichen Forschungstraditionen hin und bezeichnete das Konzept schließlich als „multidisziplinäre Angelegenheit“. Nach seiner Einschätzung biete sich etwa die Analyse sozialer AkteurInnen als möglicher Link zur Biographieforschung an. Als Schwierigkeit nannte er die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen, an den Beispielen von „Narrativ und „Aussage“ machte er Bedeutungsunterschiede zwischen der Geschichtswissenschaft und Biographieforschung und der Linguistik aus. Gerade in trans- oder interdisziplinärer Arbeit gelte es darum, die eigene Begriffsverwendung immer wieder zu reflektieren und unterschiedliche Vorstellungen abzugleichen. Wie bereits Ela Hornung, schloss auch Martin Reisigl mit einem Hinweis auf das theoretische Rahmengebäude, in dem die Diskursanalyse als Methode eingebettet sei, und verwies auf die theoretische Imprägniertheit des Methodenbündels, die Forschende sich bewusst machen müssten.

BRIGITTA BUSCH fokussierte auf die Frage der Sprache(n) in Interviewsituationen und die unterschiedlichen Wirkungen, die verschiedene Sprachen im Leben wie auch in der Erzählung der InterviewpartnerInnen einnehmen würden. Sie betonte vor allem auch, dass es sich bei Sprache keineswegs um einen neutralen Kanal der Informationsvermittlung handeln würde, sondern im Gegenteil Sprachwechsel als besonderes sprachliches Realisierungsmittel anzusehen sei (nach Karl Bühler, Roman Jakobson). Nicht nur in der Linguistik fänden sich dafür Beispiele, auch Literaturwissenschaft, Psychologie und Psychoanalyse steuerten dazu Fälle bei: Die Sprache der Erinnerung könne das (Wieder-)Erzählen vereinfachen, aber auch (etwa nach traumatischen Ereignissen) verunmöglichen. Bestimmte Trigger, Wörter, die mit einer ganz bestimmten Sprache oder sprachlich geprägten Situation verbunden seien, könnten dann Sprachwechsel induzieren oder emotionale Haltungen gegenüber Sprachen evozieren. Subjektpositionen, die von Erzählenden in ihrer Biographie eingenommen werden könnten, seien eng mit den Sprachen verknüpft, die ihnen zur Verfügung stehe. Dabei spiele auch die Person des/der Interviewenden und die weitere Öffentlichkeit, die möglicherweise Kenntnis vom erzählten Text erlangen könnte, eine Rolle, da das Interview als kommunikatives Ereignis immer auch als rezeptionsorientierter Text zu denken und zu verstehen sei.

Auch im folgenden Referat ging ÉVA KOVACS auf die Interviewsituation bzw. das Wahrnehmen des Forschungsumfeld ein, was sie anhand eines Beispiels aus dem Projekt „The Fact of Gypsiness“ (vgl. Frantz Fanons „The Fact of Blackness“) illustrierte. Dabei gehe es um die Identitätskonstruktion der Erzählenden in der Performativität des Interviews, wobei Éva Kovács sich auf Paul Ricoeurs duales Identitätskonzept stützte. Am Beispiel einer ungarischen Frau stellte sie vier Punkte zur Diskussion, aus denen sich die Identitätserzählung rekonstruieren lasse: der soziale und lokale Raum des Interviews und die Positionierung des Subjekts; die Macht bzw. Aggression des Blicks, die im Verlauf des Interviews teilweise aufgelöst werden könne; das soziale Drama der Ethnizität und die Erzählung einer Gender-Zugehörigkeit. Sie zeichnete die Strategien nach, die von der Erzählenden genutzt werden, um die ihr zugeschriebene Identität als Roma-Frau zu dekonstruieren und ein Selbstbild zu entwerfen, das sich in einem Mehrheits/Arbeiterinnen-Kontext positioniere. So würden selbst medizinische Gewalterfahrungen als „ärztliche Fehler“ integriert und Formen von Alltagsrassismus negiert um das Bild der eigenen Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten.

Als weiteres konkretes Beispiel wurde MICHAELA RAGGAM-BLESCHs eben abgeschlossenes Projekt zu schriftlichen und mündlichen Selbstzeugnissen jüdischer Frauen vorgestellt. Obwohl das Referat krankheitshalber entfallen musste, konnte so zumindest ein Hinweis auf die Publikation erfolgen: Zwischen Ost und West: Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien.

Mit Textbeispielen aus ihrem Dissertationsprojekt über biographische Erzählungen österreichischer und deutscher Missionsschwestern in Südafrika demonstrierte MARTINA GUGGLBERGER den Einsatz von Forschungssoftware zur Auswertung qualitativer Daten. Sie wies auf die Vorteile der Materialorganisation ebenso hin wie auf die Risiken der möglichen Entfernung vom Material. Am Beispiel von ATLAS.ti zeigte sie Mehrfachkodierungen, Memofunktionen und Darstellungsmöglichkeiten, daraus ergab sich eine lebhafte Diskussion zu Unterschieden und Ähnlichkeiten verbreiteter Software sowie zu Praktiken gemeinsamer Kodierung in größeren (und translokalen) Teams.

MARIA ECKER beschloss die Konferenz mit einem Bericht über ihre Arbeit mit der Austrian Heritage Collection in New York. Diese verfüge über etwa 15.000 Fragebögen von und 200 Interviews mit jüdischen EmigrantInnen. Im Projekt würden einzelne Fallgeschichten ausgewählt und das bereits vorhandene Material durch Follow-Up-Interviews ergänzt. Das Interesse richte sich hier unter anderem auf die veränderte Erinnerungserzählung und den Umgang mit Widersprüchen, die sich aus dieser Situation ergeben würden. Maria Ecker konnte dabei von ZeitzeugInnen berichten, die sich durch die wiederholte Erzählung der eigenen Geschichte eine gewisse Erzählübung angeeignet hatten. Dadurch und durch die „Kanonisierung“ des Shoahwissens im öffentlichen und kollektiven Gedächtnis würde es erleichtert, individuelle widersprüchliche Sequenzen zu überspringen oder im Erzählen zu umgehen.

Trotz der thematischen Vielfalt der Referate konnten doch Diskussionsthemen ausgemacht werden, die sich durch alle Beiträge zogen und von den Teilnehmenden ausgiebig debattiert wurden. Diese waren, wie es die Form der Werkstattgespräche auch bereits nahelegte, eher im methodischen und methodologischen Bereich angesiedelt. So wurde der Diskussion um Art und Qualität der generierten Daten breiter Raum eingeräumt, damit verbunden waren sowohl technische Fragen zu Dokumentation und Sicherung von Inhalten als auch Fragen zum Verhältnis zwischen Forschenden und InterviewpartnerInnen. Auch forschungsethische Überlegungen im Rahmen der Auswertung und Verwertung von Daten wurden kurz angeschnitten. Deutlicher als bei anderen Zugängen wirkten sich Forschungssituation und persönliche Relationen auf Interviews oder Aufnahmen aus, dies sei auch einer der wiederholten Kritikpunkte, die an die Methode herangetragen werden. Gleichzeitig könne aus dieser Situation auch ein großer Vorteil geschöpft werden, wenn durch die gute Beziehung zwischen den kooperierenden Forschenden und Befragten größere Annäherung ans Thema erreicht werden kann.

Konferenzübersicht:

Moritz Csáky/Heidemarie Uhl (Wien): Gedächtnis und Biographie – Forschungsprojekte an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der OEAW

Nicole L. Immler/Maria Ecker (Wien/Salzburg): Zur Konzeption des Workshops

Oral History „versus“ Erinnerungsforschung

Alexander von Plato (Berlin): Oral History in historischer Perspektive: Wie haben sich Methoden und Theorien verändert? Wo stehen wir heute? (Am Beispiel Interviews zur Zwangsarbeit)

Claudia Lenz (Oslo): „Vergleichende Tradierungsforschung“. Debatten um das Projekt „Krieg der Erinnerung“ von Harald Welzer

Das Familiengedächtnis

Olaf Jensen (Leicester): Vorteile und Probleme von Familien- und Gruppendiskussionen im Ländervergleich

Nicole L. Immler (Wien/Utrecht): Restitution als (trans)nationale und (trans)generative Erfahrung: Probleme der Methode und Analyse

Margit Reiter (Wien): Interviews mit „Kindern der Täter“ (zweite Generation): methodische und inhaltliche Herausforderungen

Text – Audio – Video

Ela Hornung (Wien): Forschen mit der „Objektiven Hermeneutik“: Anforderungen und Kritik

Albert Lichtblau (Salzburg): Von mündlicher zu audiovisueller Geschichte: methodische Konsequenzen

Diskursanalyse und Biographieforschung

Martin Reisigl (Wien): Diskursanalyse und Biographieforschung – Methodologische Überlegungen

Brigitta Busch (Wien/Klagenfurt): Mehrsprachigkeit in autobiographischen Texten bzw. Interviews

Éva Kovács (Wien/Budapest): „Gypsies“ – Der Umgang mit „Otherness“ in Interviewprojekten

Auswertungsverfahren

Michaela Raggam-Blesch (Wien): Schrift und Sprache: Autobiographische Texte und Oral History. Interviews mit jüdischen EmigrantInnen im Vergleich

Martina Gugglberger (Linz) Computergestützte Interview-Auswertung. Am Beispiel von Interviews mit Missionsschwestern in Südafrika

Maria Ecker (Salzburg): Follow-Up Interviews: Erfahrungen, Möglichkeiten, Grenzen

Anmerkungen:
1 vgl. Natalija Bašić, Harald Welzer (Hrsg.): Der Krieg der Erinnerung: Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt/Main 2007.
[2] Michaela Raggam-Blesch: Zwischen Ost und West: Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien, Weinheim 2007.


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