Der Mensch im Experiment, 1850-1980

Der Mensch im Experiment, 1850-1980

Organisatoren
Anja Laukötter, Volker Hess, Ulrike Klöppel, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin; Christian Bonah, Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Sciences et la Technologie, Universität Strasbourg; in Kooperation mit dem Institute for Cultural Inquiry (ICI), Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.05.2008 - 24.05.2008
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Von
Susanne Bauer, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt Universität zu Berlin/ Medicinsk Museion, Universität Kopenhagen

Die historischen Konstellationen, in denen der Mensch im Zentrum experimenteller Praktiken steht, sind äußerst heterogen – sie reichen vom prekären Selbstversuch zu kolonialen Public Health Kampagnen, von Anthropometrie, „Rassenbiologie“ und medizinischen Hungerexperimenten zu Impfversuchen, Arzneimitteltests in der Psychiatrie oder klinischen Studien in der Krebsforschung. Anhand eines breiten Spektrums von Fallstudien diskutierten die Teilnehmer/innen der Tagung „Der Mensch im Experiment, 1850-1980“ das Verhältnis von Subjekt und Objekt sowie die Frage nach den Räumen und den medialen Konstellationen medizinischer Forschung. Eines der Anliegen der Tagung war es, so ANJA LAUKÖTTER in ihrer Einführung, auch die visuellen Praktiken und Repräsentationen einer Reflexion zu unterziehen.

Bewusst war von den Veranstalter/innen eine Erweiterung der Perspektive über ethische Fragen hinaus angestrebt. An Stelle eines normativen Zugangs sollte die Akzeptabilität des Experimentierens am Menschen selbst als historisches Phänomen untersucht werden, Experimentalisierungen und experimentelle Forschungspraktiken in ihren komplexen Gefügen beschrieben werden. Was passiert epistemologisch im Selbstversuch, wenn Subjekt und Objekt im Experiment zur Deckung kommen? Welche konstitutiven Grauzonen lassen sich zwischen Experiment, Heilversuch und klinischer Studie ausmachen? Welche Rolle kommt den NS-Menschenversuchen in der Historiographie und Epistemologie experimenteller medizinischer Forschung zu?

1. Sektion: „Subjekt – Objekt“

Der Einstieg in die Frage nach den epistemologischen und sozialen Dimensionen des Experimentierens am Menschen erfolgte mit einem Beitrag von VOLKER HESS zu galvanischen Selbstversuchen um 1800. Im Selbstversuch wurde der Forscher selbst zum Objekt seines Versuchs und gab seine Rolle als Wissender und außenstehender Beobachter auf und setzte sich als „schwaches“ Subjekt unter Umständen dem Spott aus. In den Elektrizitätsexperimenten der Frühromantik wurde der menschliche Körper als Aufzeichnungsinstrument zur Exploration „galvanischer Lebenskräfte“ eingesetzt. Die dabei veranstalteten kollektiven Selbstexperimente waren sowohl soziales Experimentierfeld wie auch Orte der Erkundung des Selbst. Die Teilnehmenden des Experiments fungierten gleichzeitig Zeugen und als Instrumente der Erkundung nur subjektiv erfahrbarer Effekte. Die wissenschaftliche Exploration des Selbst fiel mit dem Ausprobieren einer sich entwickelnden bürgerlichen Geselligkeit zusammen.

Eine andere Perspektivierung des Sozialen im Experiment unternahm der Beitrag von ALEX DRACOBLY: Er fokussierte das Verhältnis von Wissenschaft und Jurisprudenz anhand von Quellenmaterial zur Venerologie in Frankreich im 19. Jahrhundert und befragte dabei insbesondere die Art und Weise, wie das Verhältnis von Medizin und Moral gedacht wurde. Dracobly arbeitete heraus, dass es oft die Wissenschaft selbst war, welche die experimentelle Praxis autorisierte. Verbreitete Auffassung war, dass der Wirkungsraum des Rechts die Wissenschaft nicht einschloss. Wissenschaft lag somit außerhalb des juristischen Zugriffs und konnte sich selbst legitimieren.

KATJA SABISCH folgte der Spur des Menschen im Experiment anhand von ärztlichen Protokollen medizinischer Versuche des späten 19. Jahrhunderts bis in die 1920er-Jahre. In Anlehnung an Ludwik Flecks Begriff des Denkstils schlug sie eine Schreibstilanalyse vor, in der sie den Menschen, wie er an der Oberfläche des Textes erscheint, in den Blick nahm. Ihr Beitrag analysierte, wie der Mensch semantisch in das Experiment eingeflochten wurde: Er erscheint hier gleichzeitig als Experimentator, als Zu-Erkennendes und als Bereits-Erkanntes – der Mensch fungiere sowohl als Messinstrument als auch als epistemisches Ding. Sabisch zeigte auf, wie der Mensch als Gegenstand des Experiments in den ärztlichen Protokollen objektiviert wurde und so daraus verschwand bzw. erst durch Ungehorsam gegenüber dem experimentellen Regime wieder ins Protokoll geriet.

ERIC ENGSTROM berichtete über die Selbstklassifizierungspraktiken der „Gesellschaft für Rassenhygiene“ um 1907-1911. Der Beitrag fokussierte die Registerkarten ihrer Mitgliederkartei, mit der die circa 200 Mitglieder selbst zum Gegenstand des genealogischen und anthropometrischen Blicks gemacht wurden. Zwar schien die Erhebung einer Vielzahl anthropometrischer Maße nicht unmittelbar zu „rassenhygienischen“ Hierarchisierungen zu führen, jedoch war das Datensammeln Teil eines sozialen Netzwerks um ein zukunftsgerichtetes eugenisches Projekt. Engstroms Studie fragt hier nach den sich daran knüpfenden Regimes der Subjektivierung: Begann das Experiment bereits bei den Archivierungspraktiken, die die Mitglieder auf sich selbst anwendeten? Inwieweit kann die „Gesellschaft für Rassenhygiene“ als ein biopolitisches Laboratorium des Selbst angesehen werden?

JENS ELBERFELDs Beitrag beschäftigte sich mit der experimentellen Konstellation der Familientherapie/systemischen Therapie, wie sie sich in den 1970er- und 1980er-Jahren formierte. Beeinflusst von der Theorien der Kybernetik und der Systemtheorie wurde in der systemischen Therapie die Beobachterrolle auch an den Patienten/die Patientin zurückgegeben. Das Verhältnis von Therapeut/in und Klient/in war nun als mehrstufiges Beobachtungs- und Supervisionssystem konzipiert. Elberfeld befragte das heuristische Gerüst der systemischen Therapie als epistemologisches Experimentierfeld im Sinne eines „Experimentalsystems“ (Rheinberger). Die veränderte Form der therapeutischen Sitzung entsprach idealtypisch einer Werkstatt oder einem Laboratorium zur Generierung von Wissen über die Klienten. Der/die Klient/in befand sich nun im experimentellen Arrangement eines demokratisierten Panoptikons, welches zum Ziel hatte, Wissen für die Arbeit am Selbst zu generieren.

Der diese Sektion abschließende Beitrag führte in das experimentelle Setting einer aktuellen klinischen Studie ein: CHRISTINE HOLMBERGs Beitrag untersuchte die 1999 begonnene Chemopräventionsstudie zu Brustkrebs „Study of Tamoxifene and Raloxofine“ (STAR) in den USA. Mit Blick auf die Implikationen für die Teilnehmenden fragte Holmberg nach dem Spannungsfeld von passiver Versuchsteilnahme und Empowerment: Die Studie fungierte auch als Technologie der Hoffnung, mit der passive Patientinnen zu aktiven Teilnehmerinnen wurden. Im Sinne neoliberaler Gouvernementalität konstituierte sich das Selbstverständnis der Teilnehmerinnen als Konsumentinnen und Mitproduzentinnen von Wissen. Der Beitrag entwarf die Konturen eines „proto-citizen“ einer biosozialen Gesellschaft; für den untersuchten US-Kontext verstärkten die Selbstaneignungen nationale Identitätskonstruktionen. Im europäischen Kontext sind klinische Studien und deren Aneignungen durch Studienteilnehmer/innen bisher wenig erforscht.

In der ersten Sektion „Subjekt – Objekt“ ergaben sich vorwiegend Diskussionsstränge um Identität und Selbst sowie um die sozialen Dimensionen des Experiments, wie CORNELIUS BORCK kommentierte: Obwohl die soziale Dimension im Experiment häufig als auszuschließende Störgröße gedacht wird, bleibt das Soziale stets konstitutiv für die Wissensgenerierung. Des Weiteren nahm die erste Sektion die Wechselwirkung zwischen den Konstellationen der Experimentalisierung und den Praktiken des Selbst in den Blick: Das Experiment wird zur Matrix für spezifische Subjektivierungseffekte, die das Selbst – beispielsweise als Mitglied einer Gruppe, Staatsbürger/in oder Konsument/in – mit konstituieren.

2. Sektion: „Raum und Bevölkerung“

Begonnen wurde die Sektion mit einer historiographischen Debatte: Wie können die NS-Menschenversuche in den Konzentrationslagern angesichts unvollständiger Quellen beschrieben werden? ILANA LÖWYs Beitrag beschäftigte sich mit der Typhus-Forschung im KZ Buchenwald, wo auch der jüdisch-polnische Bakteriologe und Typhus-Spezialist Ludwik Fleck inhaftiert war. Löwys Re-Lektüre der Buchenwald-Quellen zur Tätigkeit Flecks ist auch eine Antwort auf einen 2008 in der Zeitschrift Social Studies of Science erschienenen Artikel von Eva Hedfors. Darin vertrat die Autorin, Fleck – dessen Arbeiten zur Wissenssoziologie und Epistemologie insbesondere in der Wissenschaftsforschung rezipiert worden sind – hätte sich möglicherweise blind durch sein Engagement für die Wissenschaft, in Buchenwald an „Pseudowissenschaft“ beteiligt, aus der mörderische Ideologie wurde. Wie Löwy argumentierte, wird die vereinfachende Kritik Hedfors’ weder dem Gesamtbild der Quellen noch der Situation erzwungener Kollaboration, in der sich die im KZ inhaftierten Wissenschaftler befanden, gerecht. Angesichts der schwierigen Quellenlage betonte Löwy, dass das damalige Geschehen nicht zweifelsfrei und komplett rekonstruiert werden könne; die historische Forschung müsse sich daher vielmehr bemühen, gerade die Komplexität des extremen Alltags der Inhaftierten im System Buchenwald in den Blick zu nehmen.

Die Grauzonen klinischer Forschung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fokussierte der Beitrag von THOMAS BEDDIES für die Versuche mit Conteben, das in den Nachkriegsjahren 1945-47 als Wirkstoff gegen Tuberkulose erprobt wurde. Die Tests bezogen sich vor allem auf die optimale Dosis, die effizient, jedoch nicht zu toxisch war. Beddies zeigte auf, wie informelle Netzwerke wirksam waren, um an den Alliierten vorbei klinische Tests durchzuführen. Unbeeindruckt von den existierenden Richtlinien und den Ergebnissen der Nürnberger Prozesse, wurde die nach dem Krieg herrschende Ausnahmesituation genutzt. Über persönliche Kontakte wurden ohne Einverständniserklärung oder klare Indikation unter anderem in Kinderheilstätten Medikamententests durchgeführt. Nach Todesfällen kam es zwar zu so genannten „Ehrengerichtsverfahren“, die jedoch weitgehend ohne Folgen für die Verantwortlichen blieben. Letztere führten vielmehr an, dass es Opfer koste, wenn viele gerettet werden sollen – und verteidigten die Experimente als Normalität medizinischer Forschung.

GUILLAUME LACHENALs Beitrag nahm die Praxen der Chemopräventionskampagnen gegen Schlafkrankheit in Kamerun, 1940-1960, in den Blick. In den äquatorialafrikanischen Kolonien waren in engem Austausch zwischen französischen, britischen und belgischen Ärzten umfassende Logistiken zur „Lominidisierung“ der lokalen Bevölkerung entwickelt worden. Lachenals Beitrag folgte dem Wirkstoff Lomidin, um gleichsam eine „Biographie“ dieser Substanz und ihres Einsatzes zu schreiben. Hierbei fokussierte er insbesondere die Praktiken des Aufzeichnens, Berichtens und Speicherns von Informationen. Diese waren von zentraler Bedeutung für die Logistik des Gesamtunternehmens; die Bürokratie der Aufzeichnung zwang auch die lokalen Mitarbeiter in das Regime der Kampagne. Obwohl es keine biologische Theorie der Chemoprophylaxe gab, wurden flächendeckende Zwangskampagnen durchgeführt. Lachenal sprach hier von der Experimentalisierung eines Public Health Programms im kolonialen Kontext.

CHRISTIAN BONAHs Beitrag wandte sich den Evaluierungspraktiken um den Tuberkulose-Impfstoff BCG von 1925 bis 1960 zu. Am Beispiel der Erprobung des Impfstoffs zeichnete er dem Aufstiegs der Statistik in den Modalitäten, mit denen Nachweise und Evidenz erbracht wurden, nach. Um das juristische und ethische Management des Humanexperiments weiter zu untersuchen, schlug er das Konzept der „Entsorgung“ als analytische Metapher vor. Insbesondere zeigte Bonah, wie Forschung dann als ethisch unproblematisch wahrgenommmen wurde, wenn sie „natürliche Situationen“ und „Naturexperimente“ als Forschungsgelegenheiten nutzte. Als Erforschung „natürlicher“ Konstellationen wurde es möglich, experimentelle Daten im epistemologischen Sinn zu gewinnen, ohne „Menschenexperimente“ durchzuführen. Diese Konstruktion von Quasi-Experimenten – wie auch die Verlagerung von Tests in die Kolonien – bezeichnete Bonah als „rechtliche Entsorgung des Menschenexperiments“.

Der in der zweiten Sektion fokussierte Aspekt der Räume des Experiments am Menschen führte zur Frage nach den darin wirksamen Machtverhältnissen. CAROLA SACHSE sprach sich in ihrem Kommentar dafür aus, auch die finanziellen Interessen an dieser Experimentalisierung im großen Maßstab in den Blick zu nehmen. Zudem wies sie auf den Aufstieg der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg hin, in denen auch Gesundheit als Menschenrecht festgeschrieben wurde. Erstaunlicherweise ging dieser Aufstieg der Rechte des Individuums mit einer Biopolitik in zunehmend großem Maßstab einher – wie beispielsweise Massenprophylaxe-Kampagnen oder Projekte der globalen „Eradikation“ von Infektionskrankheiten. Zu fragen wäre hier, inwieweit sich parallel zur Herausbildung westlicher Individualität eine neokoloniale Aneignung der nichtwestlichen Welt als Objekt globaler Gesundheitskampagnen etablierte.

3. Sektion: Medien & Material

Eröffnet wurde diese Sektion durch einen Beitrag von RAMÓN REICHERT, welcher sich mit der Erfassung des Unbewussten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Ende des 19. Jahrhunderts wurden an europäischen Kliniken Bildarchive eingerichtet; neben bewegten Bildern für Unterrichtszwecke ergänzten Serienfotografie und Kinematografie die schriftlichen Akten. Fotografische Krankenblätter wurden zunehmend auch als diagnostischer Nachweis und in wissenschaftlichen Abhandlungen verwendet. Optisch-visuelle Analogien spielten auch bei Freud eine Rolle, insbesondere verwendete er sie zur Erläuterung des „seelischen Apparats“. Nach Reichert befand sich Freud jedoch in radikaler Opposition zum aufkommenden Primat des Visuellen wie auch zum Rekurs auf Filmtechniken als Mittel der Objektivierung.

BARBARA WURMs Beitrag wandte sich filmischen Aufzeichnungsexperimenten in der Sowjetunion der 1920er-Jahre zu. Im Kontext von Volksaufklärung und sozialer Utopie sollte mit der wissenstechnischen Erschließung der menschlichen Physiologie Anleitung zur Weiterentwicklung des „Neuen Menschen“ gegeben werden. Der Mensch wurde so Gegenstand experimenteller Reflexologie und Kinematographie. Wurm zeigte anhand der Filme Pudovkins zur „Mechanik des Gehirns“ die Zusammenarbeit zwischen Film und sowjetischer Wissenschaft (insbesondere zu Pavlovs Forschungen). So wurde beispielsweise im „Arbeitskreis Biomechanik und Film“ mit Film als wissenschaftlicher Untersuchungsmethode experimentiert. Die Filme Pudovkins dokumentierten einerseits eine Erfolgsgeschichte des Materialismus sowie der Wissenschaft der Physiologie, die Tier und Mensch in einem evolutionären Narrativ ordnete. Andererseits wurde deren Objektivitätseffekte dadurch unterlaufen, dass die Inszeniertheit des Settings sowie Störung und Scheitern im Film gezeigt wurden.

GABRIELE DIETZE berichtete in ihrem Beitrag vom Aufgreifen medizinischer Verjüngungstechnologien und von weiblichen Umarbeitungen dieses vorwiegend maskulinen Dispositivs Anfang der 1920er-Jahre. Sie entwickelte ihre Analyse anhand der Beispiele des sozialtechnologischen Reformprogramms der Feministin Helene Stöcker, der fiktionalen Aneignung des Verjüngungsparadigmas durch die Bestsellerautorin Vicki Baum sowie des Romans „Black Oxen“ der amerikanischen Autorin Gertrude Atherton. Ihnen gemeinsam war, dass sie Umschreibungen der endokrinologischen Verjüngungsforschung versuchten. Die Figur des Humanexperiments fungierte hier weniger als Horrorvision denn als Utopie der Lebensverlängerung; durch die Gegennarration wurden neue Handlungsräume eröffnet.

In einer Mikroanalyse von Patientenakten untersuchte VIOLA BALZ die Erprobung von Chlorpromazin als Neuroleptikum in den 1950er-Jahren. Sie beschrieb die dabei angewandten Testpraktiken als Suchbewegung von Versuch und Irrtum bei gleichzeitiger Flexibilität der Indikation. In der Dokumentation der Wirkung war die Wissenschaft auf die Patient/inn/en angewiesen; sie waren hier die „einzig zuverlässigen Zeugen“. Das Experiment in der Psychiatrie kam nicht ohne das Subjekt und dessen Sprechen aus. Indem Balz gerade der Spur dessen folgte, was sich dabei dem Experiment widersetzte, konnten die in den Akten dokumentierten Handlungen der Behandelten gegen den Strich gelesen werden.

ULRIKE KLÖPPELs Beitrag zeigte, wie Intersex im Zuge eines experimentellen Dispositivs als therapiebedürftige Störung konstituiert wurde. Ihre Analyse des Intersexualitätsdiskurses im 20. Jahrhunderts beschrieb, wie chirurgische „Korrekturen“ und Hormonbehandlungen etabliert wurden: Standardisierte Behandlung sollte die Heterogenität der so genannten „Experimente der Natur“ unter Kontrolle bringen. Seit den 1950er-Jahren wurden von Intersexforschern in Baltimore Behandlungsversuche an intersexuellen Kleinkindern durchgeführt und als Experiment zu Gender operationalisiert. In dieser Verschiebung wurde die „biologische Prädisposition“ der Psychosexualität mit der sozialen Prägung von Gender verknüpft. Den Behandlungspraktiken lag ein binäres Schema der Geschlechtsentwicklung zugrunde; erst mit diesem konnten die Eingriffe als vermeintlich sinnvolle Handlungen erscheinen.

Die dritte Sektion zeigte die unterschiedlichen medialen und epistemologischen Konstellationen auf, in denen der Mensch Gegenstand experimenteller Praktiken wird. ARMIN SCHÄFER formulierte in seinem Kommentar, dass der Experimentbegriff unklar zu werden scheint, sobald der Mensch in das Experiment eintritt. Die medialen Apparate müssen gleichsam scharf gestellt werden, um das epistemische Objekt sichtbar werden zu lassen. Dies schien auch für das Unterfangen, die Konfiguration Mensch im Experiment epistemologisch zu befragen, zu gelten: Trotz des Anspruchs der Tagung, die gängigen Ordnungen – beispielsweise in Heilversuch und klinischer Studie – zu unterlaufen, tauchte immer wieder die Frage auf, wie weit der Experimentbegriff gefasst werden sollte: Können Menschenversuche, klinische Studien, therapeutische Settings wie gesellschaftliche Interventionen mit demselben analytischen Raster untersucht werden? Was macht das Experimentelle eigentlich aus – ist es das Isolieren, Observieren und Intervenieren unter kontrollierten Bedingungen? Wie kann die epistemologische Erkundung des Menschen im Experiment für das Wesentliche „scharf gestellt“ werden?

Die Perspektivierungen in der abschließenden Diskussion bewegten sich auf mehreren Ebenen: Als ein Anliegen der historischen Forschung wurde formuliert, die Opfer von Menschenversuchen als Individuen in die Medizingeschichte hineinzuschreiben sowie das Geschehen in den Konzentrationslagern als Wirklichkeit zu erforschen und damit Instrumentalisierungen entgegen zu wirken.

LUCA DI BLASI regte unter Bezugnahme auf Giorgio Agamben an, dem „Bann“ und dem „Sakralen“ des Experimentellen sowie dem Begriff des „Opfers“ im Menschenversuch nachzugehen. Agambens Analyse des Ausschlusses – Bürger mit Bürgerrechten versus bloßes Leben ohne Rechte – folgend, erscheint die Logik der Trennung von Subjekt und Objekt und damit die Denkbarkeit und Durchführbarkeit des Menschenversuchs hergestellt. Zusätzlich zu Fragen der Terminologie und der Ethik, die selbst auch zu historisieren wären, schlug VOLKER ROELCKE vor, das Experiment als Modus und Fetisch westlicher Kultur zu untersuchen.

Versteht man Experimentalisierung als Teil einer Industrialisierung und Technologisierung, bleibt die Frage danach, ob der Menschenversuch Ausnahmeerscheinung oder konsequenter Anwendungsfall westlicher Epistemologien ist. Die Archive zu den medizinischen Interventionen der Kolonialmächte und später der internationalen Organisationen scheinen unter dieser Fragestellung bisher wenig aufgearbeitet. Vor dem Hintergrund der postcolonial studies kann die Durchführung klinischer Studien an so genannten „nicht-medikalisierten“ Bevölkerungsgruppen des globalen Südens als Kontinuität einer kolonialen Medizin gesehen werden.
Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Studien am Menschen mit dem Argument der Gesundheitsoptimierung oder der Arzneimittelsicherheit zunehmend eingefordert. So hat sich etwa die Praxis eines spezifischen Risikomanagement, der Evidenz aus klinischen Studien fordert, breit durchgesetzt. In diesem Zusammenhang ist der klinische Versuch überaus ambivalent und fungiert als Strategie kollektiver und individueller Selbstsorge und gleichzeitig als Teil gouvernementaler Ökonomisierung.

Das Verdienst der Tagung lag darin, unterschiedlichste Fallstudien zum Menschen als Gegenstand experimenteller Praktiken unter epistemologischen und medialen Fragestellungen zusammen zu bringen. Das Konzept schien bisweilen an Grenzen zu stoßen, beispielsweise dann, wenn nach der „Normalität“ medizinischer Forschung gefragt oder der Begriff „Experiment“ als Metapher für eine große Vielfalt an Praktiken und Kontexten angewandt wurde. Gerade darin, den Experimentbegriff in seinen unterschiedlichen Figurationen zu kartieren, liegt jedoch auch ein großes Potential – damit wurde ermöglicht, nach der spezifischen Produktivität und Performativität des Experiments zu fragen. Wünschenswert wären hier weitere Mikrostudien zu den Settings, Praktiken und medialen Konstellationen des Experimentellen.

Kurzübersicht:

1. Sektion: Subjekt-Objekt

Volker Hess: Die galvanischen Selbstversuche als epistemologisches Experimentierfeld

Alex Dracobly: Syphilis-Experimente

Katja Sabisch: Versuchsdinge: Über die Unauffindbarkeit des Menschen im Menschenexperiment

Eric Engstrom: Researching Racial Selves: Reflexive Practices in the Early Gesellschaft für Rassenhygiene

Jens Elberfeld: Selbst/Experiment: Der „Mensch“ als epistemisches Objekt der Systemischen Therapie (1960-1980)

Christine Holmberg: Participation in Clinical Trials: Societal Aspirations, Personal Experience and Healing – The Meaning of Participation

Cornelius Borck: Kommentar

2. Sektion: Raum & Bevölkerung

Ilana Löwy: The complexities of historiographic debates on human experimentations: The controversy about Ludwik Fleck’s role in the concentration camp Buchenwald

Thomas Beddies: Der Mensch im Tuberkulose-Experiment: Eine Geschichte vom ausbleibenden Erfolg

Gauillaume Lachenal: Colonial medicine and the logics of mass experimentations: The case of the chemoprophylaxis against sleeping-sickness with the Lomidine, 1940-1960

Susan Lederer: The experimental objective of the de-salinization/salt water studies compared to the practices by US, Nazis, and Japanese: The history of starvation and semi-starvation studies

Christian Bonah: Between experimental evidence, statistical trial and preventive care: The changing tides of BCG evaluation with human beings, 1925- 1960

Carola Sachse: Kommentar

3. Sektion: Medien & Material

Ramon Reichert: Neurologie, Psychoanalyse und das bewegte Bild: Zur Mediengeschichte des Unbewussten, 1882-1916

Barbara Wurm: Die Mechanik des Gehirns: Das "Verhalten des Menschen" – vor der Kamera und im reflexologischen Labor (1925)

Gabriele Dietze: Seminal Work in Androcentrism’: Verjüngungsexperimente und Sexualpolitik

Viola Balz: Der Patient im Experiment: Chlorpromazin in der klinischen Erprobung im Jahr 1953

Ulrike Klöppel: Experiment ohne Scheitern: Zur Operationalisierung des Behandlungsversuchs an intersexuellen Kleinkindern als psychologisches Experiment zur Entwicklung von gender

Armin Schäfer: Kommentar

Runder Tisch mit Tagungskommentator/innen & Abschlussdiskussion (Volker Hess, Carola Sachse, Luca di Blasi, Cornelius Borck, Volker Roelcke)