Justiz und Diktatur im Vergleich

Justiz und Diktatur im Vergleich

Organisatoren
Kuratorium „Kölner Justiz in der NS-Zeit“; Forschungsverbund „NS-Justiz im Krieg“
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2008 -
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Von
Michael Lenz, Universität zu Köln

Im Jahr 2003 schlossen sich die Präsidenten und Vorsitzenden der Gerichte im Oberlandesgerichtsbezirk Köln, der Rechtsanwaltskammer, der Notarkammer, der Anwaltsvereine und Vertreter der Staatsanwaltschaft zum Kuratorium „Kölner Justiz in der NS-Zeit“ zusammen. Aus ihrer Initiative ging der interdisziplinäre, Rechtsgeschichte wie allgemeine Geschichtswissenschaft umfassende Forschungsverbund „Justiz im Krieg – Der OLG-Bezirk Köln von 1939 bis 1945“ an den Universitäten Köln und Bonn hervor (Projektleitung: Hans-Peter Haferkamp, Mathias Schmoeckel, Margit Szöllösi-Janze, Hans-Peter Ullmann). Der Forschungsverbund lud zum dritten Mal zu einem Symposium ein, um Forschungsergebnisse und laufende Projekte zu diskutieren. Diesjähriges Rahmenthema war die Justiz im synchronen wie diachronen Diktaturvergleich.

Nach der Begrüßung durch JOACHIM ARNTZ (Präsident des Verwaltungsgerichts Köln) referierte LUTZ KLINKHAMMER (Deutsches Historisches Institut in Rom) über „Instrumente der Repression: Zur Funktion von Justiz und Strafrecht im faschistischen Italien. Ein Vergleich mit NS-Deutschland“. Klinkhammer zufolge störte die faschistische Machtübernahme in Italien den Staatsapparat und die Gesellschaft weit weniger, als das in Deutschland der Fall war. Dadurch konnte einerseits die faschistische Durchdringung subtiler vor sich gehen, andererseits blieben politische und administrative Kontinuitäten stärker erhalten. Beispielsweise legten die Staatsbeamten ihren Eid weiter auf den König ab. Da die Unabhängigkeit der Justiz bereits vor Mussolini stark eingeschränkt gewesen war, konnten hier zunächst rigorose Eingriffe unterbleiben. Vielmehr erfolgte die Gleichschaltung der Justiz durch Rundschreiben und Dienstanweisungen des weisungsberechtigten Justizministeriums. Hinzu kamen die Versetzung und Abschiebung missliebiger Juristen in den Ruhestand. So gewann die Faschistische Partei nahezu vollständige Kontrolle über die Justiz und bewahrte zugleich das Bild einer, vor allem auch beim Personal, vergleichsweise unabhängigen Judikative.
Neu am faschisierten Justizsystem waren vor allem die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Einrichtung eines militärisch organisierten Sondergerichtshofs, der es ermöglichte, die konstituierte Judikative zu umgehen. Verbreitet wurde aber auch auf traditionelle Methoden aus der Frühzeit des italienischen Nationalstaates zurückgegriffen, was den Eindruck großer Kontinuität unterstreicht. Besonders der Verbannungsgewahrsam, der unter Umgehung der Gerichte Regimegegner zumeist auf kleine Inseln verbrachte, erwies sich als ein relativ einfaches Mittel der Exekutive, kritische Stimmen auf dem Polizeiwege zum Schweigen zu bringen. War der Verbannungsgewahrsam im monarchistischen Staat vor allem des späten 19. Jahrhunderts ein Ausnahmemittel gewesen, avancierte er unter den Faschisten zu einem gebräuchlichen Instrument der Repression. Obwohl Richter in den Kommissionen vertreten waren, welche die Verbannung anordneten, konnte die konstituierte Justiz auf diese Weise den späteren Vorwurf, sich widerstandslos in das faschistische System eingefügt zu haben, relativ leicht von sich weisen. Außerdem manifestierten sich in der faschistischen Justiz eher Merkmale einer Klassen- als einer Rassenjustiz. Insgesamt sollte der Justizapparat in Italien vor allem eine Erziehung im faschistischen Sinne bewirken, nicht dagegen die physische Vernichtung Andersdenkender.
Viele Elemente sprechen nach der faschistischen Machtübernahme mehr für eine Kontinuität im Justizapparat als für einen radikalen Bruch. Im Innern wurde der Normenstaat nicht ausgehöhlt, sondern blieb weitgehend erhalten. Verglichen mit Deutschland, argumentierte Klinkhammer, war die faschistische Justiz in Italien bei weitem nicht so blutig: Weniger Todesurteile wurden gefällt, und es fand auch keine großzügige Verlagerung von Prozessen und Verfahren zu den Sondergerichten statt. Das machte es der italienischen Justiz einfacher, sich nach dem Krieg von Vorwürfen der Rechtsbeugung und des Rechtsbruchs freizusprechen und die Kontinuitätslinien auch über den Zusammenbruch des faschistischen Staates hinaus fortzuschreiben. In der Forschung sind diese Zusammenhänge bisher noch wenig untersucht. Insbesondere zur Justiz im italienischen Inland liegen noch viele Aspekte im Dunklen, während für die besetzten Gebiete wenigstens erste Untersuchungen erfolgt sind.

Danach stellten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungsverbunds Ergebnisse ihrer Arbeiten vor. Projektübergreifend ging es vor allem um die Frage, ob individuelle Akteure unter den Bedingungen des Kriegs über Gestaltungsmöglichkeiten verfügt und ob bzw. wie sie diese genutzt haben. In ihrem Vortrag ging es BARBARA MANTHE vor allem darum aufzuzeigen, was sich im Krieg nicht geändert hat. Sie konzentrierte sich auf die Kontinuitäten, die auch den Justizalltag im Krieg beherrschten, selbst wenn die Justiz besonders auf dem Gebiet des Kriegsstrafrechtes Vorbereitungen für den Krieg getroffen hatte.
Besonderes Augenmerk richten die vorgestellten Projekte auf die Handlungsspielräume, die den Justizakteuren im Krieg blieben. Die Annahme, es habe keine solchen Freiräume mehr gegeben, greift schlechterdings zu kurz: Schließlich wurde die formale Unabhängigkeit der Gerichte im Krieg nicht aufgehoben. Allerdings ist die Existenz von selbst- und fremdgesetzten Grenzen der Entscheidungsfreiheit bisher nur unzureichend untersucht worden.
Diesen Zusammenhang analysiert Alexandra Kelter für die Rechtsanwälte und ihre Berufsausübung. Die Vorstellungen der Strafverteidiger, wie weit sie in der Vertretung der Rechte ihrer Mandanten gehen sollten, gehorchten keineswegs einfach bestimmbaren Handlungsmustern. Vielmehr zeigt sich zwischen Resignation, Interesselosigkeit und energischer Wahrnehmung des anwaltlichen Auftrages ein breites Spektrum von Handlungsweisen.
Im Vergleich dazu gewinnt man aus dem Projekt von Matthias Herbers zur Justizverwaltung den Eindruck, dass deren Entscheidungsfreiheit eher klein gewesen ist. Die Justizverwaltung wehrte sich kaum gegen die versuchte Einflussnahme der NS-Organisationen, kooperierte vielmehr relativ reibungslos mit ihnen. Lediglich die Vorstöße des NS-Rechtswahrerbundes wehrte sie mit dem Argument ab, die Justizverwaltung sei lediglich dem Reichsjustizminister Rechenschaft schuldig.
Die Aktivitäten einzelner Richter, die Barbara Manthe untersucht, sind nicht einfach in ein Schema zu pressen, unterschieden sich vielmehr in Verhaltensweisen und Tätigkeitsprofilen. In der Urteilspraxis blieben die Einflüsse des Kriegs nicht ohne Wirkung. Vor allem die Folgen des Bombenkrieges schlugen sich im Urteilsverhalten nieder; so fielen beispielsweise die Strafen gegen Plünderer im Lauf des Krieges immer drastischer aus. Der Wunsch der Richter, scheinbar neutral und ideologiefrei Normen durchzusetzen, brach sich jedoch nicht an der Einsicht, dass das nationalsozialistische Regime diese Normen gesetzt hatte.

DOMINIK THOMPSON warf bei der Vorstellung von drei weiteren Teilprojekten die Frage nach den Facetten richterlicher Praxis im Kriegsalltag als roten Faden auf. Das Forschungs-vorhaben von Kerstin Theis untersucht die Rechtsprechungspraxis der Militärgerichte des Ersatzheeres im Raum Köln-Aachen. Das Ersatzheer, in dessen Jurisdiktion alle Militärangehörigen im Heimatraum fielen, war für das Verhalten der Soldaten von zentraler Bedeutung. Für die richterliche Praxis zählte vor allem die Erhaltung der Wehrkraft: Unerlaubte Entfernungen sowie Diebstahls- und Betrugsdelikte zählten zu den häufigsten Angelegenheiten, mit denen sich die Justiz auseinanderzusetzen hatte. Dabei wird deutlich, dass Fluchtdelikte im Ersatzheer durchweg härter bestraft wurden als im Frontbereich. Die Gerichte passten dabei ihre Sanktionsinstrumente vergleichsweise flexibel an die Kriegssituation an.
Das Projekt von Michael Löffelsender untersucht die Sanktionierung abweichenden Verhaltens von Jugendlichen und Frauen an der „Heimatfront“. Polizei und Justiz konstatierten eine im Lauf des Krieges wachsende Kriminalität. Sie gingen davon aus, dass die sittliche Verwahrlosung von Jugendlichen und Frauen die „Heimatfront“ untergrabe und somit letztlich der Wehrkraft schade, weshalb mit besonderer Härte dagegen vorzugehen sei. Vor allem verbotenen Kontakten von „Kriegerfrauen“ zu Kriegsgefangenen wurde unterstellt, die Kampfmoral nachhaltig zu schwächen. Die Vernachlässigung von „Mutterpflichten“ wurde ebenfalls als „volksschädigend“ angesehen und verfolgt. Je aussichtsloser sich die Kriegslage darstellte, desto härter fielen die Urteile aus.
In seinem eigenen Forschungsvorhaben untersucht Thompson den Einfluss des Krieges auf die Urteilspraxis im Zivilrecht und ihre Veränderung im Krieg. Sein Augenmerk gilt dabei besonders dem Wandel der Urteilsrhetorik. Erstaunlicherweise kam den Richtern in Klagen gegen die Wehrmacht einige Freiheit zu: Diese unterlag vergleichsweise häufig in gegen sie angestrengten Schadensersatzprozessen. Im Mietrecht, das mit der zunehmenden Zerstörung von Wohnraum durch den Bombenkrieg an Bedeutung gewann, gefielen sich die Richter besonders in einer staatstragenden Rolle als überparteiliche Streitschlichter.

In seinem abschließenden Vortrag „Zur Funktion des Zivilrechtes in Diktaturen am Beispiel des 'Dritten Reiches' und der DDR“ verglich RAINER SCHRÖDER (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, privates Bau- und Immobilienrecht sowie Neuere und Neueste Rechtsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin) die beiden Diktaturen. Lange Zeit herrschte die Vorstellung vor, das Zivilrecht sei von den Auswüchsen des totalen Staates unberührt – sauber – geblieben. Der Grund ist darin zu sehen, dass die Auswirkung der rassistischen Ideologie im Zivilrecht schwieriger festzustellen ist. Nur in eklatanten Fällen wie z.B. in Scheidungsverfahren gegen Zeugen Jehovas oder bei Ansprüchen gegen jüdische Firmen trat die Ideologie offen zutage. Die große Mehrheit der Zivilprozesse dürfte aber zu anderen Zeiten wohl ähnlich entschieden worden sein. Statistisch gesehen ist die Aussage, Ziviljuristen seien mit NS-Sachen nur selten in Berührung gekommen, also nicht völlig falsch. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass es der zentrale Zweck des Zivilrechtes gewesen ist, Forderungen zu titulieren („Inkasso für die Wirtschaft“). Versuche, mit Hilfe des Zivilrechts verletzte Persönlichkeitsrechte zu verteidigen, waren nicht zahlreich, vor allem da potentielle Kläger durch die Veröffentlichung stark nationalsozialistisch geprägter Urteile wenig Vertrauen in eine unabhängige Justiz behielten. Auch die rechtspolitisch zentrale Schutzfunktion des Deliktsrechts gegen staatliches Unrecht wurde also relativ selten in Anspruch genommen, so dass der Eindruck entstehen konnte, die Ziviljustiz sei von nationalsozialistischen Einflüssen weitgehend frei geblieben.
In dieser Hinsicht deckt sich der Befund mit der Situation in der DDR. Ebenso wie im NS-Staat konnte dort der „Normalprozess“ weitgehend problem- und ideologiefrei geführt werden. Dies resultierte zunächst daraus, dass immer mehr Rechtsfelder dem Zivilprozess entzogen wurden, etwa große Bereiche des Wirtschafts-, Arbeits- und Wohnungsrechts. Hinzu kam eine rigide politische Steuerung der Justiz, die es verhinderte, dass Zivilprozesse Sprengkraft für die Diktatur hätten entwickeln können. Staatshaftungsfragen wurde der Rechtsweg verweigert. Der das Zivilrecht der DDR prägende „Feierabendprozess“ taugte daher nicht zur Abwehr gegen den Staat. Die Bürger der DDR nutzten eher Petitionen („Eingaben“), um dem Staat gegenüber Forderungen geltend zu machen.

Kurzübersicht:

Begrüßung und Einführung (Joachim Arntz)

Instrumente der Repression? Zur Funktion von Justiz und Strafrecht imfaschistischen Italien. Ein Vergleich mit NS-Deutschland (Lutz Klinkhammer), anschließend Diskussion.

Zwischen bürokratischem Alltag und „totalem Kriegseinsatz“: Projektpräsentation des Forschungsverbundes „Der OLG-Bezirk Köln von 1939 bis 1945“
Handlungsspielräume der Akteure (Barbara Manthe)

Facetten richterlicher Praxis (Dominik A. Thompson)

Zur Funktion des Zivilrechts in Diktaturen am Beispiel des „Dritten Reiches“ und der DDR (Rainer Schröder), anschließend Diskussion.
Ende der Veranstaltung


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