Kirchen und Gruppenbildungsprozesse deutscher Minderheiten in Europa 1918-1933

Kirchen und Gruppenbildungsprozesse deutscher Minderheiten in Europa 1918-1933

Organisatoren
Rainer Bendel, Tübingen; Norbert Spannenberger, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig
Ort
Backnang
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.05.2008 - 03.05.2008
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Von
Marcus Fischer, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig; Patricia Kroschwald, Universität Leipzig

Die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg schuf eine Vielzahl von Nationalstaaten, die dennoch einen hohen Minderheitenanteil besaßen, wodurch die Integrations- und Gruppenbildungsprozesse, das Ringen um staatliche, oft eher nationale Identität und die Rolle von Kirchen und Konfessionen in diesen Prozessen wesentlich an Bedeutung gewannen. Im Blickpunkt der Tagung standen dabei die deutschen Minderheiten und deren Verhältnis zu den jeweiligen Staaten, wobei in diesem Zusammenhang die Frage gestellt wurde, inwiefern die Kirchen dieses Verhältnis beeinflussten.

Nach einem Grußwort des Backnanger Bürgermeisters, Michael Balzer, eröffneten Norbert Spannenberger und Rainer Bendel als wissenschaftliche Leiter die Tagung, indem sie die Bedeutung der Kirchen in der Zwischenkriegszeit als Stabilisierungsfaktor betonten und diese der These der Entkirchlichung und Entchristlichung der Welt im Zuge der Industrialisierung entgegenstellten. Sie unterstrichen, dass der Kirche als Institution mit Blick auf die deutschen Minderheiten in Europa der Zwischenkriegszeit eine wichtige Funktion zukam, was die Gestaltung des Verhältnisses der Minderheit zum Nationalstaat betrifft. Gleichfalls brachten sie ihre Absicht zum Ausdruck, mithilfe der im Mittelpunkt der Tagung stehenden Untersuchungen auf der Mikroebene der Frage nachzugehen, inwiefern die Kirchen als Kohäsionskraft oder partikularistisch wirkten, politisierten oder apolitisch auftraten.

RAINER BENDEL begann die Vortragsreihe mit einer Studie zur „religiösen und völkischen Erneuerung“ in Böhmen. Dieser Problematik näherte er sich, indem er zwei biographische Skizzen von deutsch-böhmischen Theologen vorstellte: Der Prager Professor Karl Hilgenreiner, ursprünglich ein Vertreter des dynastietreuen Klerus, sah nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie die Rolle der deutschen katholischen Kirche darin, die nationalen Belange der deutschen Minderheit zu vertreten. In seinen Schriften propagierte er dementsprechend eine Symbiose religiöser und völkischer Erneuerungsbewegungen, die nach 1918 in Konkurrenz zur kirchlichen Ideologie getreten waren. Gleichzeitig aber unterstrich er immer wieder die Kooperationsbereitschaft mit den politischen Kräften des tschechischen Katholizismus, um die nationalen Spannungen nicht eskalieren zu lassen. Als einen Exponenten der jüngeren Generation stellte Bendel diesem Paul Sladek gegenüber. Dieser begriff den Klerus gleichsam als Träger einer nationalen Mission und gleichzeitig als Promotoren der religiösen Erneuerung der Sudetendeutschen.

Was Bendel anhand zweier Vertreter des Klerus aufzeigte, verallgemeinerte JAROSLAV ŠEBEK in seinem Vortrag „Religiöse und nationale Erneuerung in den tschechischen und sudetendeutschen Milieus im Vergleich.“ Er wies darauf hin, dass sich die tschechische katholische Kirche nach 1918 in einer Sinnkrise befand, da sich der tschechoslowakische Staat im starken Maße auf nichtkatholische Traditionen – vor allem auf hussitische – berufen habe. Die Kirche habe darauf mit einer Annäherung an die völkische Bewegung reagiert, was auch am vorherigen Beispiel des Theologen Sladek deutlich geworden war. Ebenso verhielt sich, so Šebek, die ‚sudetendeutsche‘ katholische Kirche gegenüber der deutschen völkischen Erneuerung, was sich in einer ausgeprägten Jugend-, Laien- und Ordensbewegung ausdrückte. Die Kirche wirkte, trotz der einheitlichen Konfession, in Böhmen demnach nicht einheitsstiftend, da sie durch die Aufnahme völkischer Elemente zur Stütze des Nationalstaats wurde und nicht zu dessen Korrektiv.

Den Blick nach Westeuropa richtend, rückte CHRISTIANE KOHSER-SPOHN das Elsass in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Region entwickelte infolge des in der Geschichte häufigen Wechsels der politischen, kulturellen und auch sprachlichen Bezugspunkte ein partikularistisches Selbstverständnis. Interessant dabei sei aber die konfessionelle Spaltung der Bevölkerung in germanophile Protestanten und frankophile Katholiken, wobei auch letztere aufgrund des französischen Laizismus eine gewisse Distanz zu Frankreich bewahrt und ihre Eigenständigkeit betont hätten. Kohser-Spohn schloss ihren Vortrag, indem sie den großen Forschungsbedarf hervorhob, der bezüglich der Minderheit des Elsass noch besteht.

Ein weiterer Loyalitätskonflikt in einem Grenzraum bestand in Südtirol, dem sich HANS HEISS zuwandte: Nach der Angliederung dieser rein katholischen Region an Italien bildete die Kirche einen Rückzugsort und Stabilitätsfaktor für die Identität der Südtiroler. Nach dem Konkordat von 1929 kam es zu einer Annäherung zwischen der Kirche und dem faschistischen Italien, wodurch ihre abgrenzende Rolle für die deutsche Minderheit schwand, der Staat zugleich aber auch zu Konzessionen bereit war. Hierin trat die Kirche als Vermittler auf und förderte in gewisser Weise die Entschärfung des Minderheitenkonflikts.

Auf der Mikroebene näherte sich ANDRZEJ MICHALCZYK der Rolle der katholischen Kirche im Verhältnis zwischen Polen und Deutschen im polnischen Teil Oberschlesiens. Anhand zweier Fallbeispiele zeigte er auf, wie das Gemeindeleben zum Teil von den Nationalisierungsprozessen überlagert wurde. Das Entstehen und Vermeiden von Konflikten sei vom Verhalten des polnischen Klerus wesentlich beeinflusst worden. So konnte ein Pfarrer apolitisch auftreten und ethnische Spannungen innerhalb der Gemeinde überbrücken, ein anderer aber gezielt polonisieren. Die Rolle der Kirche lässt sich in diesem Fall also nur schwer generalisieren, da sie vom individuellen Verhalten der hiesigen Geistlichkeit abhing.

Von einer erfolgreichen Politisierung der deutschen Minderheit im Sinne des Nationalstaats sprach SZILÁRD WAGNER. Er bezog sich dabei auf die Volksabstimmung 1921 in Ödenburg/ Sopron an der ungarischen Grenze zu Österreich, in welcher die Bevölkerung trotz eines deutschen Anteils von 48% mit großer Mehrheit für den Verbleib in Ungarn stimmte. Daraus zog er den Schluss, dass dem Plebiszit eine Politisierung der Grenzfrage im überwiegend lutherischen Milieu durch den Klerus vorausgegangen war, welcher die Wahl Ungarns als Heimatland und gleichzeitig das Bekenntnis zur deutschen Nation propagierte.

Der Frage, warum ein rein deutsches, mehrheitlich katholisches Dorf in Süd-Transdanubien nicht zum Träger einer deutsch-nationalen Gesinnung wurde, ging GÁBOR GONDA nach. Er stellte vielmehr heraus, dass sich die Dorfbewohner in einem vornationalen Status befanden und einer Magyarisierung durch die Dorfelite, bestehend aus Pfarrer und Lehrer, zugänglich waren. In diesem Dorfpfarrer tritt uns der Prototyp des deutschen Assimilanten entgegen, der den christlich-nationalen Kurs der Horthy-Ära mittrug. Die Kirche habe in diesem Fall also eine homogenisierende Wirkung entfaltet, die in der Ausrichtung der deutschen Minderheit auf den ungarischen Staat bestanden habe.

Die dagegen stärker nationalisierten deutschen Lutheraner in Bessarabien gerieten in der Zwischenkriegszeit mit den Rumänisierungsbestrebungen des Staates in Konflikt, worauf CORNELIA SCHLARB einging. Die deutsch-lutherische Kirche war nicht in der Lage, die sozialen und kulturellen Belange der Minderheit zu vertreten, wodurch vor allem die jüngere Generation nach 1933 empfänglich wurde für nationalsozialistische Strömungen.

Im Rahmen eines öffentlichen Abendvortrags sprach HANS-JÜRGEN BÖMELBURG über die „Religiöse und völkische Erneuerung bei den Deutschen in Polen“, worin er die konfessionelle und regionale Vielfalt der Deutschen hervorhob. Diese verhinderte die Bildung einer einheitlichen Nationalbewegung. Dennoch war durch die Politik des polnischen Staates eine Tendenz zur Nationalisierung der Deutschen zu konstatieren. Den Kirchen kam dabei zum Teil eine wichtige Rolle als formative Kraft und Sammlungsinstanz zu.

Im Vergleich mit anderen deutschen Minderheiten in Südosteuropa seien die Siebenbürger Sachsen nach 1933 besonders empfänglich für den Nationalsozialismus gewesen, wofür PAUL MILATA in seinen Ausführungen wirtschaftliche Entwicklungen in den 1920er Jahren verantwortlich machte, da der rumänische Staat durch seine Maßnahmen die deutsche Minderheit benachteiligte. Die evangelische Kirche sei der wirtschaftlichen Benachteiligung und den damit einhergehenden Problemen beispielsweise im deutschsprachigen Schulwesen mit einer Erhöhung der Kirchensteuer begegnete. Dieser Umstand habe zur Abwendung weiter Bevölkerungskreise von der Kirche als soziale Instanz geführt, an deren Stelle Vereine getreten seien, die nach außen Wirtschaftshilfe leisteten, nach innen aber nationalsozialistisch politisierten. Die Rolle der Kirche als einheitsstiftender Faktor sei daher kontinuierlich geringer geworden.

Bei den mehrheitlich katholischen Donauschwaben kam es in der Zwischenkriegszeit zu keiner nennenswerten Nationalisierung, wie CARL BETHKE konstatierte. Was Gábor Gonda an einem Beispiel aus Ungarn zeigte, hielt Bethke für die Gesamtheit der Donauschwaben in Kroatien fest: Die Bevölkerung habe sich vornehmlich an der katholischen Kirche orientiert, deren deutsche Träger kroatisch-national gesinnt waren. Die konfessionelle Übereinstimmung habe in diesem Fall die Integration der deutschen Minderheit erleichtert. Dieser Umstand habe sich auch darin gezeigt, dass bei den zahlenmäßig wesentlich geringer vertretenen deutschen Protestanten ein nationalistischeres Potential bestanden habe. Die Hauptmomente bei der Nationalisierung der Donauschwaben in Kroatien seien erst der autoritäre Umbruch in Belgrad 1929 und der erstarkende Einfluss des Nationalsozialismus gewesen.

ZORAN JANJETOVIĆ zeigte ein heterogenes Bild der katholischen Kirche in der Wojwodina in Bezug auf das Selbstverständnis der dort lebenden Donauschwaben. Hatte der dortige deutsche Klerus vor 1918 ein ausgeprägt ungarisches Staatsbewusstsein, so habe sich dies durch die Einflussnahme des Königreichs SHS, dem die Region nach dem Ersten Weltkrieg angegliedert wurde, geändert. Die staatliche Ausbildung der Priesterschaft sollte einen Loyalitätswandel hin zum südslawischen Staat herbeiführen, wobei auf das Mittlerpotential der Kirche zwischen Staat und deutscher Minderheit gehofft wurde. Jedoch trat die Kirche nicht nur als verlängerter Arm des Staates auf. Es gab durchaus auch Geistliche, die sich für nationale Belange der Deutschen einsetzten, wie der Forderung nach muttersprachlichem Unterricht.

Einen Blick auf die Sathmarer Schwaben warf JOSEF WOLF, der feststellte, dass sich diese Volksgruppe, da sie infolge des Friedensvertrages von Trianon zur Grenzminderheit wurde, sehr viel stärker nationalisiert habe, als es Bethke oder Gonda konstatierten. Die Kirche jedoch erwies sich dabei nicht als Stütze, da sie auch in der Zwischenkriegszeit in der Tradition der Magyarisierung stand.

Die Vorträge machten in ihrer Gesamtheit deutlich, dass der Kirche in der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund der Minderheitenkonflikte eine durchaus bedeutende und komplexe Rolle zukam, die freilich regional und konfessionell variierte und nicht verallgemeinert werden kann. Der Fokus der Vorträge richtete sich dabei auf die Zeit vor 1933. In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Übergänge fließend sind und das Jahr 1933 keine scharfe Zäsur darstellt. Dennoch wurden Forschungslücken gerade für die 1920er-Jahre im Vergleich mit der sehr viel intensiver erforschten Periode zwischen 1933 und 1945 erkannt, was den zeitlichen Schwerpunkt der Konferenz rechtfertigte: In den Vorträgen und in der Diskussion der Tagung wurden die Brüche und Transformationsprozesse in Politik und Gesellschaft, ansatzweise auch in der Wirtschaft, gesehen. Diesen wurden weitgehend kirchliche Zäsuren gegenübergestellt, dabei aber nur inchoativ berücksichtigt, dass es auch in den Kirchen verschiedenartige Strömungen gab, die nicht selten zu Konfrontationen führten. Es gab auch dort Transformationsprozesse, unter anderem als Folge von oberhirtlichen Verordnungen, wie etwa der Katholischen Aktion oder durch die Rezeption der Aufbruchsbewegungen in den Regionen, spätestens seit Mitte der 1920er-Jahre. Dazu kommen all die Ambivalenzen in den Aufbruchsbewegungen, die dann auch schnell zu der Verquickung von "religiöser und völkischer Erneuerung" führen konnten. Schließlich könnte auch die Selbstreflexion der Kirchen und ihrer Rollen in der Theologie aufschlußreich sein.
Zum Abschluss sei darauf hingewiesen, dass ein Sammelband zur Tagung zeitnah erscheinen soll.

Konferenzübersicht:

Michael Balzer (Backnang): Begrüßung
Norbert Spannenberger (Leipzig): Einführung

Kirchen als Stützen oder Korrektiv des Nationalstaates?
Rainer Bendel (Tübingen): „Religiöse und völkische Erneuerung“ – Zwei Beispiele für die theologische Reflexion einer Ideologie
Jaroslav Šebek (Prag): Religiöse und nationale Erneuerung in den tschechischen und sudetendeutschen Milieus im Vergleich

Loyalitätskonflikt in Grenzräumen
Christiane Kohser-Spohn (Tübingen/Berlin): „Christliches Volk! Die Stunde des Widerstandes hat geschlagen“ Die elsässische Kirche und
die Minderheitenfrage im Elsass 1918-1933
Hans Heiss (Innsbruck): Kirche und Minderheitenproblematik in Südtirol 1918-1933

Handlungsradius der Kirchen auf der Mikroebene
Andrzej Michalczyk (Bochum): Katholische Pfarrer zwischen nationaler Ideologie und Minderheitenseelsorge im polnischen Oberschlesien 1922-1939
Szilárd Wagner (Ödenburg/Sopron): „Kein Jude und kein Grieche, kein Sklave und kein Freier“? Der Umgang mit den Nationalitäten in der Zwischenkriegszeit in den evangelisch-lutherischen Gemeinden in Ödenburg und ihrem Umland
Gábor Gonda (Fünfkirchen/Pécs): „Jungs! Wenn diese Fahne die Richtung zeigt, kennt ihr eure Pflicht!“ Katholische Kirche in einem ungarndeutschen Dorf in Süd-Transdanubien 1918-1933.
Cornelia Schlarb (Ebsdorfer Grund bei Marburg/Lahn): Der schwierige Weg der Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg - Bessarabiens Lutheraner zwischen Annäherung und Abgrenzung
Öffentlicher Abendvortrag, Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen): „Religiöse und völkische Erneuerung“ bei den Deutschen in Polen

Paul Milata (Berlin): Die Wirtschaftspolitik der evangelischen Kirche und die Siebenbürger Sachsen
Carl Bethke (Leipzig/Berlin): Kirche und die Donauschwaben in Kroatien
Zoran Janjetović (Belgrad): Die katholische Kirche und die Donauschwaben in der Wojwodina
Josef Wolf (Tübingen): Das „umkämpfte Volk“. Die Sathmarer Schwaben und die katholische Kirche
Zusammenfassung und Abschlussdiskussion


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