Migration und Erinnerung: Konzepte und Methoden der Forschung

Migration und Erinnerung: Konzepte und Methoden der Forschung

Organisatoren
Laboratoire Histoire et Mémoire, Université du Luxembour; Center for Interdisciplinary Memory Research, KWI Essen
Ort
Luxemburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.06.2008 - 06.06.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Elisabeth Boesen, Laboratoire d’Histoire, Université du Luxembourg

Dem Thema "Erinnerung" wird am Laboratoire d'Histoire der Universität Luxemburg beinahe seit dessen Bestehen (die Universität wurde im Jahr 2003 gegründet) besonderes Interesse entgegengebracht. Nach einem mehrjährigen Projekt zu den luxemburgischen "Erinnerungsorten" ist zurzeit eine Forschungsgruppe mit transgenerationalen Erinnerungsprozessen befasst (in Kooperation mit dem Center for Interdisciplinary Memory Research des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen). In diesem Kontext wurde Anfang Juni ein Kolloquium ausgerichtet, das die methodisch-konzeptuellen Probleme bei der Erforschung der Erinnerung an Migration zum Thema hatte. Dass der Bereich Migration und Migrationserinnerungen an der Universität Luxemburg auf besonderes Interesse stösst, ist angesichts der historischen und der aktuellen demographischen Bedeutung von Immigration im Großherzogtum nicht verwunderlich. Die Resonanz, die das Kolloquiumsthema fand, zeigt jedoch, dass die Frage der Methode in diesem Bereich auch andernorts und vor allem auch in anderen Disziplinen als der der Geschichtswissenschaft akut ist.

Die zweitägige Veranstaltung war durch ausgeprägte Interdisziplinarität gekennzeichnet. Zu Vertretern der Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften gesellten sich Psychologen, Literaturwissenschaftler und Afrikanisten sowie eine Stadtplanerin. Die damit garantierte Vielfalt der Betrachtungsweisen und der Forschungsgegenstände ermöglichte eine Diskussion, die von den Beschränkungen durch Jargon und methodisches Spezialistentum in hohem Maße frei blieb. In vier aufeinanderfolgenden Panels wurden Forschungsarbeiten (darunter verschiedene Dissertationsprojekte) aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, Deutschland und der Schweiz vorgestellt, die sich mit sehr unterschiedlichen Migrationserscheinungen beschäftigen. Die Themen reichten vom klassischen Feld der Arbeitsmigration in Luxemburg oder Deutschland zu Emigranten in Nord- und Südamerika, den Bewegungen zwischen Peripherie und Metropole im kolonialen und postkolonialen Frankreich, Fällen erzwungener Mobilität während und nach dem Zweiten Weltkrieg und einem illustren Fall von weiblichem Kosmopolitismus. Diese Vielfalt wurde durch eine thematische Gliederung geordnet, die sich an den Möglichkeiten der Verknüpfung der beiden Gegenstände „Migration“ und „Erinnerung“ orientierte und auf diese Weise das vielbegangene Terrain der allgemeinen Migrationstheorien weitgehend zur Seite ließ.

Eine Ausnahme stellte in dieser Hinsicht der erste und als Einführung in das Verhältnis "Migrationserinnerung - Migrationsgeschichte" gedachte Vortrag dar. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Forschungen zu Migrationsprozessen in Lothringen und in der Grande Région gab der französische Soziologe PIERO GALLORO (Université Paul Verlaine Metz) einen Einblick in zentrale Fragestellungen der Migrationssoziologie, insbesondere den Bereich der Akkulturationstheorie, und in die Schwierigkeit der begrifflichen Verständigung auf diesem Feld. Im einem zweiten einführenden Vortrag, unterstrich der Historiker HÉDI SAÏDI (Institut Social Lille Vauban, Université de Tunis) die Notwendigkeit gesellschaftlicher Erinnerungspraxis und bezog sich hierbei vor allem auf die bisher in hohem Maße unterdrückte öffentliche und private Erinnerung an die Kolonialzeit und die mit ihr verbundenen Migrationsphänomene.

Das zweite Panel versammelte unter dem Titel "Migration und Erinnerungsvarianten" vier Beiträge, die sich mit Migrationserinnerungen im Kontext bestimmter sozialer Identitäten oder Identifikationsvorgänge befassten. Während in beinahe allen Vorträgen Familie und Generationenbeziehung im Zentrum der Betrachtung standen, waren die methodischen Vorgehensweisen bei der Analyse dieses Zusammenhangs unterschiedlich. Der Politologe HALIL CAN (Humboldt-Universität Berlin) stützt sich in seiner Studie zu Erinnerungsprozessen bei Mehrgenerationenfamilien im transnationalen Migrationsraum Türkei-Deutschland auf teilnehmende Beobachtung, biographische Interviews und Gruppengespräche. Überdies handelt es sich in seinem Fall um eine multi-sited ethnography, was für das Studium von Migrationsvorgängen von einigem Belang ist. CHRISTA WIRTH (Historikerin, Universität Zürich) führte in den USA biographische Interviews unter den Nachkommen eines aus Italien eingewanderten Ehepaares durch. Wenngleich sie sich ebenfalls für die Familie als Erinnerungspraxis, als einen wesentlichen Ort des kommunikativen Gedächtnisses interessiert, ist ihr Augenmerk doch vor allem auf die Intersektionalität von Generation, Klasse und Geschlecht gerichtet. SOPHIE SCHRAM (Historikerin, Universität Trier) befasst sich in ihrer an der grounded theory orientierten Studie ausdrücklich mit der Frage, in welcher Weise die ökonomische Lage sowie die Zugehörigkeit zu spezifischen "Geschichtsgenerationen" die Migrationserzählungen weiblicher Bewohner des Quartier Italia in einer kleinen Industriestadt im Süden Luxemburgs beeinflusst. MACHTELD VENKEN (Historikerin, Katholieke Universiteit Leuven) untersucht, u. a. durch teilnehmende Beobachtung, die Kriegserinnerungen von "Ostarbeiterinnen" in Belgien, die häufig von der Art sind, dass die üblichen Formen der intergenerationalen Weitergabe unterblieben, die Familien also in diesem Belang zu einem Ort des Schweigens statt der Kommunikation wurden.

Das dritte Panel war dem Zusammenhang von Migration und nationaler Erinnerung gewidmet. Neben die Idee der nationalen Erinnerungen treten im öffentlichen und politischen Raum zusehends Vorstellungen von einer europäischen (oder globalen) Erinnerung sowie die dieser entsprechenden Erinnerungspraktiken. Es erscheint daher besonders wichtig zu fragen, welche Bedeutung Migration und Migrationserinnerungen in diesem Neuorientierungsprozess zukommt. Der Frage, ob Migration und insbesondere Immigration zum Gegenstand nationaler Erinnerung wird, also als ein Moment nationaler Identifikation präsentiert und erfahren wird, ging MARTINE WILTZIUS (Erziehungswissenschaftlerin, Universität Bremen) im luxemburgischen Kontext nach, indem sie die Darstellung von Migration und Migranten in Geschichtsbüchern analysierte. J. OLAF KLEIST (Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin) näherte sich dem Verhältnis von Migration und nationaler Erinnerung, indem er grundlegende konzeptuelle Probleme der Erinnerungsforschung aufwarf. Für die sozialwissenschaftliche Forschung ist Erinnerung mit gesellschaftlichen Kollektiven, das heisst mit Identifikations- und Kohäsionsprozessen verbunden. Neben diese "soziale Erinnerung" stellte J. Olaf Kleist die "memory policies" und beschrieb Projekte, die im Zusammenhang mit Migration eine funktionale Betrachtung der Vergangenheit anstellen, das heißt, auf den politischen und institutionellen Gebrauch der Vergangenheit abzielen. ANGELA KÜHNER (Sozialpsychologin, Ludwig-Maximilians Universität München) präsentierte die Ergebnisse einer an bayrischen Schulen durchgeführten Studie zum Thema Holocaust Education, die von der „International Task Force on Holocaust Education, Rememberance and Research“ in Auftrag gegeben worden war. Die nationale Erinnerung ist hier gekoppelt an eine universale Erinnerungsforderung, deren normativer Charakter durch die Bildung einer speziellen "Task Force" klar zutage tritt. Angela Kühner legte dar, wie den impliziten, der Studie zugrunde liegenden Annahmen - "Migranten stören die nationale Erinnerung" - durch methodische Vorkehrungen, z.B. durch die "kommunikative Validierung" der Interpretationen, begegnet wurde. Ein ebenso interessantes Forschungsvorhaben, welches allerdings noch am Anfang steht, präsentierte die Historikerin BEATA HALICKA (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt Oder). Sie befasst sich mit den Bevölkerungsbewegungen im Oderraum, insbesondere mit der Neubesiedlung des polnischen Grenzraums nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei stehen ihr außergewöhnliche Quellen zur Verfügung, nämlich die in den 1940er- und 50er-Jahren im Rahmen öffentlicher Schreibwettbewerbe entstandenen Memoiren polnischer Neusiedler. Die hermeneutische Analyse dieser Texte sowie die Durchführung von Interviews wird im Wesentlichen von der Frage nach den Prozessen symbolischer Raumaneignung geleitet.

Der Begriff des historisch-geographischen Raumes, der zugleich "Erinnerungsraum" ist, spielte auch in mehreren der Beiträge zum letzten Panel, welches sich mit "Medien und Akteuren der Erinnerung" befasste, eine grosse Rolle. Am Beispiel der Familien- und Migrationsgeschichte von Andrea Manga Bell zeigen die Literaturwissenschaftlerin ALEXANDRA LÜBCKE (Universität Hamburg) und die Afrikahistorikerin STEFANIE MICHELS (Leibniz Universität Hannover), wie die Verbindung von globalhistorischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen zu einem Konzept der "Erinnerungstopographie" führt, welches die wandelbaren, das heißt stets nur perspektivisch erfassbaren netzartigen Zusammenhänge von familiärer Erinnerung und öffentlicher Geschichte sichtbar macht. Mit urbanen Erinnerungstopographien hat die Studie am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin zu tun, von der GÜLSAH STAPEL berichtete. In einem relativ umfangreichen Befragungsvorgang werden die Orte türkischer Erinnerung in Berlin-Kreuzberg identifiziert und dokumentiert, das heißt, es wird eine Topographie erarbeitet, die bestimmte Orte sowie die mit ihnen verknüpften Geschichten und die Personen, die sie erzählt haben, festhält. Diese Art der Dokumentation stellt nicht nur einen Zugang zur bisher ignorierten Erinnerungskultur der Immigrantengruppe dar, sondern kann auch dazu beitragen, dass der öffentliche Raum als Medium der Integration genutzt wird. Die Forscher sind in diesem Fall also explizit an der Hervorbringung von Erinnerungen, oder genauer, an ihrer wahrnehmbaren Formierung beteiligt. Dies trifft in anderer Weise auch für das Projekt zu, welches der Psychologe ALTAY MANÇO (Université de Liège, IRFAM) vorstellte. Die von ihm angestrebte "Interventionsforschung" betrifft die Intergruppenbeziehungen zwischen Türken und Armeniern in Belgien und befindet sich zur Zeit in der Phase der Machbarkeitsevaluierung, in der die historischen, politischen und juristischen Dimensionen des Problems durch Presseanalysen und internationalen Vergleich erhellt werden sollen. Die Studie von FRANKA BINDERNAGEL (Historikerin am Lateinamerikainstitut der Freien Universität Berlin) über deutsche Immigranten in Argentinien befasst sich in erster Linie mit der öffentlichen Erinnerungskultur, und hierbei auch mit bestimmten Akteuren der Erinnerung, nämlich Verlegern deutschsprachiger Medien, die die Erinnerungsgemeinschaft der Immigranten mitgeschaffen haben. Die Historikerin FABIENNE LENTZ (Université du Luxembourg), die sich mit den familiären Erinnerungsvorgängen italienischer Einwanderer in Luxemburg beschäftigt, konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf die Darstellung ihrer Forschungsmethode. Diese ist insofern von besonderem Interesse, als versucht wird, eine im Zusammenhang der Erforschung von Kriegs- und Besatzungserinnerungen entwickelte Vorgehensweise (Familieninterviews, hermeneutische Dialoganalyse und Kodierung) auf andere Bereiche der Erinnerung zu übertragen. Den Abschluss des Kolloquiums bildete der Vortrag von CLAUDIO CICOTTI (Literaturwissenschaftler, Universität des Saarlandes, Université du Luxembourg) über die literarische Produktion italienischer Immigranten in der Großregion und den umfangreichen Text-Korpus, der hierzu existiert. Die interdisziplinär konzipierte Analyse dieser Texte soll Aufschluss über das wahre "Ich" der Autoren und damit auch über die Art ihrer gesellschaftlichen Integration geben.

Zu erwähnen ist abschließend ein Thema, welches nicht als eigener Programmpunkt vorgesehen war, in den Diskussionen aber mehrfach aufgeworfen wurde und womöglich eine systematischere Debatte verdiente, nämlich die Frage nach der Beziehung zwischen dem Forscher und seinem Gegenstand, oder anders formuliert, nach der Subjektivität des Forschers. Diese Frage ist im Zusammenhang mit Studien zu Migration vielleicht von spezifischer Bedeutung, da die Wissenschaftler hier nicht selten in einem besonderen Verhältnis zu den erforschten Gruppen oder Individuen stehen. In etlichen der vorliegenden Fälle konnten der Forscher oder die Forscherin sich selbst als Teil der von ihnen untersuchten Migrantengemeinschaft, unter Umständen sogar der untersuchten Familie verstehen und auf diese Weise privilegierten Zugang zum Gegenstand erlangen. Das Verhältnis zwischen Forscher und Objekt ist aber vielleicht auch in Studien zu Erinnerung von spezieller Art und grundsätzlich problematisch, wie in der aktuellen Debatte um "Zeitzeugen" deutlich wird.

Die Publikation der Kolloquiumsbeiträge ist in Vorbereitung.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Migrationserinnerung - Migrationsgeschichte
Piero-D. Galloro, Université Paul Verlaine Metz: La mémoire des migrants, du vécu à la transmission
Hedi Saidi, Institut Social Lille-Vauban, Université de Tunis: Mémoires et Histoire, défis et enjeux d’un débat

Panel 2: Migration und Erinnerungsvarianten: Gender, Klasse und Generation
Halil Can, Humboldt Universität Berlin: Identitätsprozesse und Erinnerungsarbeit bei Mehrgenerationenfamilien im transnationalen Migrationsraum Türkei/Deutschland
Christa Wirth, Universität Zürich: Migration als Erfolgsgeschichte? Biographische Interviews im Kontext einer italo-amerikanischen Familie als Methode zur Erfassung gegenseitiger Durchdringung von individuellem und kollektivem Erinnern
Sophie Schram, Universität Trier: Migrationserinnerungen und (nicht) erzählte Armut – methodologische Ansätze und Überlegungen am Beispiel der Erinnerungsgeschichte der Frauen "Klein-Italiens" in Düdelingen, Luxemburg (1930-1990)
Machteld Venken, Katholiek Universiteit Leuven: Families and Silence: "Ostarbeiterinnen" in Belgium

Panel 3: Migration und nationale Erinnerung
Angela Kühner, Ludwig-Maximilians Universität München: Kollektive Erinnerung als „nationales Eigentum“ versus kollektive Erinnerung in der Einwanderergesellschaft
Beata Halicka, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder: Memoiren als Quelle zur Erforschung der Neubesiedlung von Gebieten beiderseits der Oder-Neisse-Grenze nach 1945
Martine Wiltzius, Universität Bremen: Nationale Erinnerung in Geschichtsbüchern – Migration im Spiegel der luxemburgischen Bildungspolitik
Olaf J. Kleist, Freie Universität Berlin: Politische Erinnerung und Migration: Zwei Formen der Vergangenheit und sozialen Zugehörigkeit

Panel 4: Erinnerungskulturen: Medien und Akteure der Erinnerung an Migration
Franka Bindernagel, Freie Universität Berlin: Deutsche Erinnerungskultur in Argentinien im 20. Jahrhundert
Fabienne Lentz, Université du Luxembourg: Immigration italienne au Luxembourg : entre mémoire privée et représentations publiques
Stefanie Michels, Alexandra Lübcke, Leibniz Universität Hannover / Universität Hamburg: Erinnerungstopographien und Migrations-Familien-Geschichten : erinnerte und erfahrene Räume
Gülsah Stapel, Technische Universität Berlin: Die Kraft des Ortes bei der Erforschung von Erinnerungskulturen. Geschichts- und Erbekonstruktionen von Migrantinnen und Migranten
Altay Manço, IRFAM et Université de Liège: La réalisation d’une étude de faisabilité en vue d’une recherche-intervention sur les relations intercommunautaires turco-arméniennes en immigration
Claudio Cicotti, Universität des Saarlandes, Université du Luxembourg: La « BAGORI » (Banque de données des Auteurs de la Grande Région d’Origine Italienne) comme témoin d’intégration


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