Gesellschaftliche Selbstaufklärung durch NS-Prozesse (Schwerte, 17.-18.11.01)

Gesellschaftliche Selbstaufklärung durch NS-Prozesse (Schwerte, 17.-18.11.01)

Organisatoren
Humanistische Union
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2001 - 18.11.2001
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Von
Thomas M. Henne

Volkspädagogik und DDR-Interventionen

Die sechziger Jahre haben Konjunktur. Stand bei der dreißigjährigen Wiederkehr von "1968" häufig noch die selbstlegitimatorische Erinnerung im Vordergrund, so hat sich das Forschungsinteresse inzwischen auf das Jahrzehnt zuvor verlagert. In der Abkehr von struktur- und politikgeschichtlichen Perspektiven tritt die soziale Kultur der sechziger Jahre ins Blickfeld, und anders als früher wird jetzt auch der vielbeschworene "symbiotische Antagonismus" der zwei deutschen Staaten in seinen vielfältigen Auswirkungen beachtet.1 Eine Tagung der Humanistischen Union nahm am 17./18.11. in Schwerte diese Fäden auf und fragte nach dem Zusammenhang der NS-Aufarbeitung mit den Veränderungen der politischen Kultur in Ost und West.

Gesellschaftliche Selbstaufklärung durch NS-Prozesse zu befördern, war das ausdauernd verfolgte Ziel des langjährigen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer. Claudia Fröhlich (Berlin) konnte den daraus entstehenden partiellen Widerspruch zur offiziellen "Vergangenheitspolitik" (Norbert Frei) aufzeigen, zugleich aber gelegentlich zu lesende Heroisierungen dieses sozialdemokratischen Juristen vermeiden. Der Pragmatiker Bauer wußte um die Grenzen des justitiell Möglichen: Im spektakulären Remer-Prozeß in Braunschweig 1952 (jüngst dort sogar durch ein Theaterstück gewürdigt2) konnte Bauer die juristische Anerkennung des Widerstandes vom 20. Juli 1944 erreichen, (noch) ohne daß zu den NS-Tätern Stellung genommen werden mußte. Auf diese Weise gelang es Bauer, diese Widerstandsgruppe mittels der Anerkennung eines allgemeinen Widerstandsrechts gegen das NS-Regime juristisch aufzuwerten und so mit dem gegenwartsbezogenen Ziel einer anti- elitären Demokratisierung und Politisierung zu verknüpfen. Doch blieb die Adenauersche Integration der NS-Täter und Mitläufer in Bauers Prozeßstrategie genauso außen vor wie der sozialistische und kommunistische Widerstand.

Rund zehn Jahre später, 1963 mit dem Beginn des Auschwitz-Prozesses, nahm die bundesdeutsche Öffentlichkeit die Schuld unmittelbarer KZ-Täter erstmals umfassend wahr. Fritz Bauer, wiederum treibende Kraft, erreichte damit mehr als im nur widerstandsbezogenen Remer-Prozeß, doch die Perspektivenerweiterung auf die Mitläufer und Opfer mußte noch warten. Die Dominanz abstrahierender Faschismustheorien in den späten sechziger Jahren verschob diesen Blickwinkel sogar auf noch spätere Zeiten. Konnte mit diesen Thesen an Ergebnisse einer Vorgängertagung (dazu Frankfurter Rundschau v. 5.12.2000, S. 22) angeknüpft werden, so blieb auf der jetzigen Tagung der Wert eines Strafprozesses als Instrument zur Volkspädagogik umstritten. Denn nur selten ließ sich wie im Remer-Prozeß auch die Gegenseite in NS-Prozessen auf die Politisierung und symbolhafte Erhöhung des Verfahrens ein. Im anderen Fall aber standen die strafrechtlichen Rationalitätskriterien dem Zweck, Geschichte zugleich zu machen und aufzuarbeiten, eher entgegen. Die "Wahrheit" des Richters ist formell, reduktionistisch, zieht unmittelbar Folgen nach sich und ist schnell rechtskräftig und damit dauerhaft, doch nichts davon trifft auf historische Erkenntnisse zu, worauf kürzlich Michael Stolleis hingewiesen hat: Der Historiker "sagt seine Meinung und geht von dannen".3 Seine Wahrheit ist steter Revision unterworfen.

Dieses Strukturproblem wird noch verschärft, wenn mit der Politik eine dritte Instanz unmittelbar interveniert, wie Annette Weinke (Potsdam) anhand der Einwirkungen der DDR auf die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern zeigte. Der erwähnte symbiotische Antagonismus der beiden deutschen Staaten ergab sich schon daraus, daß viele im Westen lebende Täter ohne die nur im Osten zugänglichen Beweismaterialien strafrechtlich nicht belangt werden konnten. Doch nur in den frühen sechziger Jahren, so das Fazit, leistete die DDR in Maßen aktive Rechtshilfe, so sehr sie auch durchgängig das kollektive Beschweigen der NS-Vergangenheit westlicher Führungseliten propagandistisch anprangerte. Zum Beispiel folgten auf die berühmte und im Westen folgenreiche "Blutrichterkampagne" von 1959 keine größeren Übergaben von gerichtsverwertbarem Material. Die Kampagne sollte die DDR-Deutschlandpolitik stützen, indem sie Sympathien bei linken BRD-Intellektuellen weckte und den westlichen Antikommunismus aufbrach. Hingegen lag die justitielle Aufarbeitung des NS-Unrechts trotz der von Fritz Bauer aufgezeigten Möglichkeiten dieses Vorgehens damals nicht im Kalkül der DDR. Die von einem Zuhörer gestellte Frage nach der heutigen Reaktion ehemaliger DDR-Einwohner auf diese Thesen erinnerte daran, daß zur Antwort auf Christa Wolfs berühmte Frage "Was bleibt ?" jedenfalls nicht der verordnete Antifaschismus der DDR gehört.

Wie sehr damals die bundesdeutsche Justiz als Mittel der DDR-Außenpolitik instrumentalisiert werden sollte, belegte Georg Wamhof (Göttingen) am Beispiel des Essener KZ-Dora Prozesses (1967-70). Der Gerichtssaal wurde, wie schon im Remer-Verfahren, zum Austragungsort für zwei rivalisierende Konzepte der Geschichtspolitik, wobei die DDR über die strafprozessual zugelassene Nebenklage von KZ-Opfern Zugang zum Verfahren erhielt. Als Ziel stand für die DDR dabei, wie vorab von hohen DDR-Instanzen festgelegt wurde, an erster Stelle nichts weniger als die Anprangerung eines bundesdeutschen Neo- Nazismus, und zudem sollte vorrangig die Verantwortlichkeit jetziger BRD- Unternehmen für frühere NS-Verbrechen herausgestellt werden. Diese antifaschistische Selbstinszenierung wurde zwar brüchig, als die DDR bei einer Vorauswahl "ihrer" Zeugen zu der Einschätzung kam, bei fast keinem sei die angemessene Vertretung der antifaschistischen Ziele anzunehmen. Doch immerhin konnte Friedrich Karl Kaul, ein mit der DDR verbundener Rechtsanwalt, als Nebenklagevertreter die angepeilte volkspädagogische Aufladung des Prozesses jedenfalls teilweise erreichen.

Instrument jener auf die NS-Zeit bezogenen Volkspädagogik war auch das Fernsehen, gerade weil es in den sechziger Jahren zum Leitmedium emporstieg. Wie die NS-Zeit im Fernsehen explizit thematisiert wurde, zeigte Christoph Classen (Potsdam) mit einer Zusammenfassung seiner Detailstudien. Das Fernsehen reflektierte den gesellschaftlichen Standard des Umgangs mit der NS- Zeit, brachte ihn teilweise jedoch auch voran. Waren die fünfziger Jahre noch von Täterdiskursen dominiert, bei denen dämonisierende Deutungen vorherrschten und mit pauschalisierenden Distanzierungen verbunden waren, änderte sich mit Beginn der sechziger Jahre die Perspektive: Detailliertere Deskriptionen der Zeit von 1933-45 sollte das Wissen erweitern, und wie im Auschwitz-Prozeß traten konkrete Täter unterer Ebenen in den Vordergrund. Doch noch blieb das Konzept einer vom Nationalsozialismus unabwendbar überwältigten Gesellschaft genauso vorherrschend wie die weitgehende Ausblendung von Opfergruppen jenseits der Juden. Und das West-Fernsehen verweigerte sich fast durchgängig jeder Emotionalisierung, auch in Abgrenzung zur Pathetik des DDR-Antifaschismus, so daß sich wiederum der symbiotische Antagonismus zur DDR zeigte. Zudem blockierte das von der DDR beanspruchte Deutungsmonopol für den sozialistischen und kommunistischen Widerstand langjährig deren Aufnahme in den Diskurs der Bundesrepublik.

Gerade vor dem Hintergrund der späteren und folgenreichen Ausstrahlung des "Holocaust"-Film ist zudem auffällig, daß keine der großen historischen Debatten der sechziger Jahre vom Fernsehen angestoßen wurde. Dominierend war die von Teilen des Justizapparates betriebene Volkspädagogik. Die aufklärerische Elite legte lieber Beweisstücke vor als Geschichten zu erzählen.4

Gab es bei all dem Bezüge zur Bürgerrechts- und zur Studentenbewegung, die zeitlich parallel in den sechziger Jahren entstanden ? Die, wie Axel Schildt (Hamburg) betonte, "Phase der Gärung" ist insoweit von der neueren Forschung zur NS-Aufarbeitung bislang kaum beleuchtet. Auch die Tagung kam trotz ihrer Zielsetzung über Assoziationen und Zeitzeugenberichte (zum Beispiel von Jürgen Seifert/Hannover) kaum hinaus, unter anderem weil Überblicksdarstellungen zur damaligen Justiz fehlen.

Dabei sind die grundsätzlichen Parallelitäten evident: Der bloße Gemeinschaftsbezug vieler Diskurse, in den fünfziger Jahren im Hinblick auf Bürgerrechte und eben auch die NS-Zeit noch vorherrschend, löste sich in den sechziger Jahren auf. Subjektive Rechtsstellungen waren nun juristisch durchgängig anerkannt, und die NS-Aufarbeitung wandte sich konkreten Tätersubjekten zu. Auch das "1932er Trauma" verband sozialdemokratische wie konservative Akteure bei Bürgerrechtsdiskussionen genauso wie in NS- Prozessen. Die Verbindung von Diskursen der NS-Aufarbeitung mit Bürgerrechtsfragen ist zum Beispiel bei der rückblickenden Betrachtung der Notstandsdebatten auffällig, während gemeinhin die von der Außerparlamentarischen Opposition aufgebrachten Themen als unabhängig von denen der NS-Aufarbeitung gesehen werden (Norbert Reichling, Essen). Die Analyse konkreterer Querbezüge auf diesem Feld scheint schon deshalb spannend, weil Wechselwirkungen zwischen dem jeweiligen Stand der Bürgerrechte und der NS-Aufarbeitung auch die nachfolgenden Jahrzehnte geprägt haben. Die "zweite Geschichte des Nationalsozialismus" (Peter Reichel) dauert an.

[einige kurze überarbeitete Auszüge dieses Tagungsberichts sind publiziert in der Frankfurter Rundschau v. 4.12.2001, S. 20]

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. den am 16.4.1998 publizierten Tagungsbericht von Christoph Classen, "Die 60er Jahre - Soziale Kultur und politische Ideen in beiden deutschen Staaten, http://hsozkult.geschichte.hu- berlin.de/beitrag/tagber/60er.htm und das unter http://www.uni- bielefeld.de/ZIF/ags2001/0912Haupt-Programm.html zugängliche Programm einer Tagung im September 2001 über "Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel - DDR, CSSR und BRD im internationalen Vergleich".
2 Der Veranstalter, ein privates Theater, informiert unter http://home.t- online.de/home/familie.jaeger/zeitraum.htm.
3 Michael Stolleis, Der Historiker als Richter - der Richter als Historiker, in: Norbert Frei u.a. (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, München 2000, S. 173 ff. (178 f.).
4 Zusammenfassend und weiterführend demnächst Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002, ISBN 3-16147-687-5 (erscheint Anfang 2002).


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