Nahrung, Markt oder Gemeinnutz - wie funktionierte das vorindustrielle Handwerk oder was taugt Sombarts Idee der ´Nahrung` heute noch?

Nahrung, Markt oder Gemeinnutz - wie funktionierte das vorindustrielle Handwerk oder was taugt Sombarts Idee der ´Nahrung` heute noch?

Organisatoren
Robert Brandt, Thomas Bucher
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.04.2003 - 05.04.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Buchner, Salzburg; Robert Brandt, Frankfurt am Main

Bis heute ist der Begriff "Nahrung" in der deutschsprachigen historischen Forschung eine der wichtigsten Kategorien zur Beschreibung vorindustrieller Wirtschaftsmentalitäten. Nach Werner Sombart, der diesen Begriff erstmals ins Zentrum der Analyse nichtkapitalistischer Gesellschaften gestellt hatte, ist darunter das insbesondere bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handwerkern erkennbare Streben nach "Bedarfsdeckung" zu verstehen. In der vorindustriellen Wirtschaft habe vor allem Handwerkern jegliches "Gewinnstreben" gefehlt. Mit bedingt durch die Inelastizität der Absatz- und Arbeitsmärkte wären sie weder in der Lage noch willens gewesen, mehr als die "Nahrung", das "standesgemäße Auskommen" zu erlangen. Zünfte als Vereinigungen von Handwerkern wären, neben Ordnungsversuchen lokaler Obrigkeiten, in diesem Sinne ein Instrument gewesen, um abweichendes "Gewinnstreben" - etwa durch Ausweitung der Produktionskapazitäten - zu sanktionieren.

Erstaunlicherweise ist Sombarts einflussreiches Konzept, seine Prämissen und Implikationen bis heute keiner eingehenden Prüfung unterzogen worden. Diesem Thema widmete sich nun die Tagung "Nahrung, Markt oder Gemeinnutz - wie funktionierte das vorindustrielle Handwerk oder was taugt Sombarts Idee der ´Nahrung` heute noch?", die, veranstaltet von Robert Brandt (Frankfurt/Main) und Thomas Buchner (Salzburg), am 4./5. April 2003 in Frankfurt am Main stattfand. Dabei konnte in zwei Referaten, die sich Sombart dogmen- und rezeptionsgeschichtlich näherten, sowie in vier Einzelanalysen, welche Markt, Nahrung und Gemeinnutz an vier unterschiedlichen Beispielen empirisch untersuchten, gezeigt werden, dass Sombarts zentrale Vorstellungen von der vorindustriellen Ökonomie - Nahrung contra Markt, standesgemäßes Auskommen contra Erwerbsprinzip und Gewinnstreben - unter systematischen Gesichtspunkten mit äußerster Vorsicht zu genießen sind und sich empirisch schlicht über weite Strecken nicht belegen lassen. Stattdessen konnte herausgestellt werden, dass "Nahrung" einerseits ein vielfach verwendeter Begriff in frühneuzeitlichen Quellen war; dass aber andererseits sehr vielfältige Semantiken und Verwendungsweisen des Begriffs erkennbar sind, die sich beim derzeitigen Forschungsstand (noch?) einer Systematik entziehen Anke Szcesny (Augsburg) stellte am Beispiel des Ostschwabener Textilgewerbes eine ganze Reihe von Bedeutungsfeldern vor, die von "Nahrung" als Einkommen zum Erwerb der täglichen Nahrung über den Kontext der Gründung von Landzünften bis hin zum Gemeinwohl reichten und die teils parallel, teils zeitlich spezifisch verortet werden können. Zünfte, Handwerker und Obrigkeiten konnten dabei unter "Nahrung" recht Unterschiedliches verstehen. Christine Werkstetter (Augsburg) unterstrich die vielfältigen Bedeutungen von "Nahrung" im Kontext von Frauenarbeit und Frauenhandeln im Augsburger Handwerk des 18. Jahrhunderts in den Bereichen Konkurrenz, Heirat und Übergabe. "Nahrung" wurde in diesem Kontext weder als statische Größe genutzt, noch schloss sie das Streben nach Gewinn aus. Auch läßt sich für das Handwerk keineswegs eine zeitunabhängige und regelmäßige Verwendung des Begriffs nachweisen. Während - wie Christof Jeggle (Berlin/Freiburg) darlegte - "Nahrung" im Münsteraner Leinengewerbe eine nur marginale Rolle im Rahmen von Argumentationsweisen einnahm, stellte Robert Brandt (Frankfurt/M.) für das Frankfurter Handwerk den ambivalenten Befund vor, dass einerseits eine recht große Zahl von Nahrungsforderungen zwischen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und dem Ende der Reichsstadt 1806 überliefert ist, die sich gegen eine vielfältige Konkurrenz in- und außerhalb der Innungen richtete; andererseits das ökonomische Handeln der Meister aber zugleich in vielfacher Weise in Marktverhältnisse eingebunden war, so dass vielleicht von einer handwerklichen Marktwirtschaft wider Willen gesprochen werden kann.

Dem Gesamteindruck der Tagung entsprechend stellte Reinhold Reith (Salzburg) in seinem Vortrag grundsätzlich die Frage, ob von für Zeiten oder Schichten spezifischen Wirtschaftsmentalitäten im Sinne Sombarts gesprochen werden könne. Deshalb wäre nicht nur das "Nahrungsstreben", sondern auch das "Erwerbsstreben" als problematisch zu betrachten und einer weitergehenden Kritik zu unterziehen. Diese Kritik kann jedoch, wie Thomas Buchner (Salzburg) in seinem Vortrag festhielt, kaum auf Sombart oder die Historische Schule beschränkt bleiben. Gerade die breite Rezeption der "Idee der Nahrung" und ihre Analogie zu zahlreichen Begriffen und Konzepten der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte mache es notwendig, unser Verständnis von vorindustriellen Gesellschaften einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen.

Die teilweise recht lebhaften Diskussionen während und am Ende der Tagung zeigten jedoch eindrücklich, dass sich "Nahrung" einer eindeutigen Auf- oder Abwertung entzieht. Josef Ehmer (Salzburg) betonte in seinem Kommentar denn auch, "Nahrung" müsse aus zwei Perspektiven betrachtet werden: Als Quellenbegriff sei er durchaus zentral für die Frühe Neuzeit und näherer Untersuchung wert. Als Bezeichnung für eine Wirtschaftsmentalität habe er hingegen ausgedient. Diese Abwendung vom "Nahrungsstreben" wurde auch im Kommentar von Werner Plumpe (Frankfurt/M.) betont: Die wirtschaftlichen Praktiken im vorindustriellen Handwerks seien zu komplex, um sie unter dem Begriff der "Nahrung" subsumieren zu können. Allerdings, so Plumpe, gäbe die Beobachtung, dass der in frühneuzeitlichen Quellen so zentrale Begriff der "Nahrung" im 19. Jahrhundert keine Rolle mehr spiele, Anlass zu weiteren Fragestellungen.

Die Ergebnisse der Tagung werden noch in diesem Jahr im Rahmen eines Sammelbandes im Verlag für Regionalgeschichte (Bielefeld/Gütersloh) publiziert.


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