Adel in Hessen (15. bis 20. Jahrhundert) – Teil I: Adel, Herrschaft und politischer Wandel

Adel in Hessen (15. bis 20. Jahrhundert) – Teil I: Adel, Herrschaft und politischer Wandel

Organisatoren
Historische Kommission für Hessen, Eckart Conze (Marburg/Cambridge), Alexander Jendorff (Gießen), Heide Wunder (Kassel) in Kooperation mit dem Hessischen Staatsarchiv Marburg und dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde im Staatsarchiv Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.02.2008 - 01.03.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Seelig, Philipps-Universität Marburg

Als vor kurzem die Darmstädter SPD-Abgeordnete Dagmar Metzger der Spitzenkandidatin ihrer Partei, Andrea Ypsilanti, die Stimme verweigerte, falls sich diese mit Hilfe der Linkspartei zur hessischen Ministerpräsidentin wählen lassen wolle, schrieb Berthold Kohler in einem Leitartikel der FAZ, damit habe Frau Metzger nicht nur „ihrem Namen […] alle Ehre“ gemacht und ihrem Land „einen großen Dienst“ geleistet, sondern sich auch als eine „Frau von sozialdemokratischem Adel“ erwiesen.1 Es scheinen also auch noch im 21. Jahrhundert Vorstellungen von ‚Adel’ und ,Adeligkeit’ in der Gesellschaft existent zu sein. Ganz in diesem Sinne ging eine jüngst von Heide Wunder (Kassel), Eckart Conze (Marburg bzw. Cambridge) und Alexander Jendorff (Gießen) in Marburg veranstaltete Tagung über „Adel in Hessen“ davon aus, dass auch heute noch ,Adel’ „omnipräsent“ sei – so etwa in Vorstellungen vom guten Leben oder in Formen der Distinktion (Heide Wunder). Das Ziel der Tagung war es, den Adel im historischen Raum Hessen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert zu analysieren und die historische Adelsforschung über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit hinaus bis in neuere und neueste Geschichte hinein fortzuführen. Erfreulicherweise setzte sich damit einmal mehr die Überzeugung durch, dass Adelsgeschichte nicht nur über die Epochengrenze von 1789, sondern auch über 1918 und 1945 hinaus sinnvoll betrieben werden kann.2 Die Tagung bildete den Auftakt zu einer zweiteiligen Konferenz, die im November 2008 fortgesetzt wird.

In ihrer Einleitung hoben HEIDE WUNDER und ALEXANDER JENDORFF hervor, dass der zeitliche und räumliche Rahmen der Tagung durchaus als Provokation zu verstehen sei. Das nach 1945 entstandene Bundesland Hessen könne historisch nicht als homogener Raum angesehen werden, weil es sich aus verschiedenen Territorien mit unterschiedlichen politischen, kulturellen und konfessionellen Traditionen zusammensetze. Aus historischer Perspektive müsse man daher auch stets vom Adel in Hessen sprechen und nicht von einem hessischen Adel. Die zeitliche Ausdehnung der Tagung über drei Epochen hinweg verfolge die Absicht, den Adel in Hessen als Phänomen der longue durée untersuchen zu können. Aus diesem Grund habe man sich weder auf ,Alteuropa’ noch das 19. und 20. Jahrhundert beschränken wollen. Als zentrale Erkenntnisinteressen nannten die Veranstalter die Fragen, (1) inwiefern dem Adel in Hessen eine Selbstbehauptung gelungen sei3, in welcher Hinsicht aber auch von Niedergang gesprochen werden müsse, (2) wie der Adel in Hessen auf Herausforderungen reagiert habe, die durch gesellschaftlichen Wandel hervorgerufen worden seien, und (3) auf welche Weise sich der heterogene Adelsraum Hessen im historischen Wandel durch Kohärenz und Differenz auszeichne.

Die erste Tagungssektion stand unter dem Titel ,Adel in Umbruchszeiten: Fragestellungen, Thesen, Perspektiven’. Sie war dafür vorgesehen, einen Überblick über das Spektrum der Tagungsthemen zu geben und pointierte Thesen über die Reaktionen des Adels auf Phasen des beschleunigten Wandels zu formulieren.

CHRISTINE REINLE (Gießen) zeigte an den Beispielen Lehen, Amt und Dienst, adlige Fehdeführung, Ausübung qualifizierter Rechte sowie Erwerb kirchlicher Pfründen, dass der niedere Adel in der Landgrafschaft Hessen von 1450 bis 1500 weiterhin eine bedeutende Rolle spielte. Der zunehmende Ausbau der Landesherrschaft habe keineswegs einen Niedergang des landsässigen Adels bedeutet. Vielmehr sei es die starke Stellung des niederen Adels gewesen, die eine Ausweitung der landgräflichen Herrschaftsbefugnisse ermöglicht habe. Nicht in Konfrontation, sondern in Kooperation mit dem niederen Adel habe sich die Herrschaft der hessischen Landgrafen verfestigt.

Wie sehr politische Handlungsmöglichkeiten von ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig sind, zeichnete FRANK JUNG (München) am Wandel des Hauses Solms von einer Landes- zur Standesherrschaft nach. Aufgrund prekärer wirtschaftlicher Verhältnisse seien die Handlungsmöglichkeiten des Hauses Solms im 18. Jahrhundert so stark begrenzt gewesen, dass die Landesherrschaft nur bedingt funktionsfähig, mitunter sogar gefährdet gewesen sei. Demgegenüber habe die Mediatisierung eine ökonomische Konsolidierung ermöglicht, weil das Haus Solms nun von landesherrlichen Aufgaben entlastet worden sei und eine notwendig gewordene Modernisierung der Güterverwaltung die ökonomische Lage erheblich verbessert habe. Letztlich sei es dem Haus Solms so gelungen, seine herausgehobene Stellung in der ländlichen Gesellschaft über informelle Herrschaftsbeziehungen und persönliche Bindungen erneut zu legitimieren.

Den Kampf einer Elite ums Obenbleiben veranschaulichte EWALD GROTHE (Wuppertal), indem er darstellte, wie der Adel seine Stellung in den hessischen Landtagen nutzte, um sich in der Defensive, in die er am Anfang des 19. Jahrhunderts geraten war, zu behaupten. Grote führte aus, dass der Adel in Hessen dank seiner parlamentarischen Positionen eine elitäre Stellung bewahrt, sich zugleich aber auch in die bürgerliche Gesellschaft integriert habe. Sowohl in der adligen Selbst- als auch in der nichtadligen Fremdwahrnehmung sei der Adel in den Parlamenten weiterhin als Stand angesehen worden. Zudem habe er es vermocht, durch seine Aktivitäten in den Landtagen seine partikularen Interessen zu sichern.

MARCUS FUNCK (Toronto) verband in seinem Vortrag regionale und allgemeine Geschichte miteinander, indem er die Ergebnisse der jüngsten Adelsforschung zum 20. Jahrhundert Revue passieren ließ und immer wieder in den hessischen Kontext einbettete. Nachdem er zunächst auf die grundsätzliche Heterogenität des Adels hingewiesen hatte, stellte er mit den Konzepten der Adeligkeit4 und der Erinnerungsgruppe5 zwei Modelle vor, die die adligen Bindekräfte untersuchen. Zu Recht hob Funck hervor, dass es sich hierbei nicht um sich widersprechende, sondern komplementäre Kategorien handle. Weitere Ausführungen galten der Beziehung von Adel und Elitenwandel, adligen Selbst- und Fremdzuschreibungen als Medien adliger Identitätsstiftung, der Frage nach den Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels auf imaginierte oder tatsächliche überzeitliche Bestände von Adeligkeit sowie der politischen Radikalisierung des Adels in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und seiner anschließenden Versöhnung mit der Demokratie nach 1945. Abschließend plädierte Funck dafür, Adelsgeschichte als Regional- und Lokalgeschichte zu betreiben, um den Adel in konkreten Räumen und Orten untersuchen zu können.

Die zweite Sektion widmete sich adligen Selbstorganisationen. Im Mittelpunkt stand die Frage nach Handlungsmöglichkeiten, die für den Adel in Hessen aus korporativen Zusammenschlüsse entstanden.

Die Wechselwirkung fürstlicher und ständischer Institutionalisierungsprozesse im Reich und auf regionaler Ebene untersuchte GABRIELE HAUG-MORITZ (Graz) am Beispiel der zunehmenden Verdichtung der Reichskreise und der korporativen Verfestigung der Grafenvereine in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Sie machte deutlich, dass die Ausgestaltung der Reichsverfassung dem niederen und hohen Adel verschiedene Handlungsräume zuwies. Da sich der nicht-fürstliche Hochadel mit zunehmender Intensität in Grafenvereinen zusammengeschlossen habe, sei ihm eine Integration in die sich allmählich auf regionaler Ebene institutionalisierende Reichsmacht gelungen. Damit habe der Hochadel die Möglichkeit erhalten, in regionaler Hinsicht an der Reichsgewalt teilzuhaben.

Wie in Terminologie und Denken aus ,Rittern’ und ,Vasallen’ ,Patrioten’ wurden, führte ROBERT VON FRIEDEBURG (Rotterdam) in seinem Vortrag über die Forderung der Ritter nach Repräsentation und Mitbestimmung in der Landgrafschaft Hessen-Kassel vom Anfang des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts aus. Obwohl die Autorität des Landgrafen bereits im 16. Jahrhundert nicht von den Rittern angezweifelt worden sei, habe die qualitative und quantitative Intensivierung der Kriegsführung seit den 1570er-Jahren, besonders aber in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges, dazu geführt, dass die Ritter zunehmend nach Mitspracherechten verlangt hätten. Um dies Recht begründen zu können, sei in den 1570er-Jahren – in Anknüpfung an den Begriff des Vaterlands – der Neologismus ,Patrioten’ geprägt worden. Nun verstanden sich die Ritter als ,Patrioten’, die dank ihres Einsatzes für das Vaterland berechtigt seien, das Land zu repräsentieren und an der Landesherrschaft beteiligt zu werden.

Anschließend stellte KATHARINA SCHAAL (Marburg) den Deutschen Orden als ein ,Spital’ des Adels in Hessen vor, das auch nach der Reformation als adlige Versorgungsanstalt eine ungeminderte Attraktivität auf den protestantischen Adel ausgeübt habe. Konfessionelle Probleme, die mit der angestrebten Rekatholisierung des Ritterordens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden seien, hätten 1680/81 mit der Vereinbarung der Trikonfessionalität zwischen dem Landgrafen von Hessen-Kassel und dem Deutschen Orden beigelegt werden können. Schaal hob hervor, dass sich in der Zeit von 1500 bis 1809, zumindest aber im 16. und 17. Jahrhundert, in der Ballei Hessen keine Ordensdynastien, also Familien, die traditionell und kontinuierlich Ordensmitglieder stellten, gebildet hätten. Zuletzt wies die Referentin darauf hin, dass die Motive einzelner Adliger, in den Orden einzutreten, nur durch Forschungen in Familienarchiven ermittelt werden können.

Die letzte Sektion der Tagung behandelte das adlige Selbst- und Herrschaftsverständnis. Dabei lag ein Schwerpunkt auf der Frage nach der Anpassung adliger Selbstwahrnehmungen und Herrschaftsinstrumente an gewandelte Zeitumstände.

Wie STEFFEN KRIEB (Gießen) in seinem Vortrag einleitend ausführte, gilt der Adel als ein traditions- und geschichtsbewusster Stand, der durch seine Selbstdefinition über eine möglichst weit zurückreichende Ahnenreihe auf besondere Art und Weise mit der Vergangenheit verbunden sei. Diesen Aspekt griff der Referent auf, indem er Geschichtsbilder und Gegenwartsinteressen in den Familienchroniken zweier hessischer Adelsfamilien um 1600 untersuchte. Als einer 1566 neu etablierten Linie des mittelfränkischen Rittergeschlechts der Schutzbar gen. Milchling der Aufstieg in den Reichsfreiherrenstand gelungen sei, habe sie die Niederschrift einer Familiengeschichte genutzt, um ihre Standeserhöhung kulturell zu fundieren. Weil die Chronik um 1610 sogar im Druck erschienen sei, könne man davon ausgehen, dass sie sich primär an die adligen Standesgenossen im neuen räumlichen und sozialen Lebensumfeld der Familie gerichtet habe. Während das Geschlecht der Schutzbar das Medium der Familienchronik herangezogen habe, um sich nach außen zu legitimieren, sei die in einem Kopialbuch der niederadeligen Familie von Hattstein überlieferte Familiengeschichte voll und ganz nach innen gerichtet: Die causa scribendi der Chronik habe darin bestanden, nach einer Erbteilung und der Konstituierung einer neuen Linie die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Familie festzuschreiben, erbrechtliche Fragen zu klären und auf diese Weise die Weitergabe des Besitzes auf patrimonialem Wege zu sichern. Letztlich sei es das Ziel gewesen, mit der Erhaltung des Besitzes die wirtschaftliche Grundlage adliger Macht zu bewahren und den Fortbestand des Geschlechts zu garantieren.

ARMAND MARUHN (Gießen) wandte sich in seinem Beitrag gegen die These, dass der Adel ein Hindernis auf dem Weg zum Rechtsstaat gewesen sei (Peter Blickle). Weil die bisherige Forschung moderne Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit auf die Vergangenheit projiziere, verstelle sie den Blick auf eine spezifisch adlige Rechtskultur in der Frühen Neuzeit. Am Beispiel von Prozessen niederadliger Grundherren gegen ihre Hintersassen vor dem Marburger Hofgericht im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert stellte er die These auf, dass der Adel nicht als uneinsichtiger Verlierer zunehmender Verrechtlichungsprozesse bezeichnet werden könne, sondern ganz im Gegenteil eine Judizialisierung – wie Maruhns Vorschlag einer präziseren Bezeichnung lautete – der Konfliktkultur aktiv vorangetrieben habe. Da dem Niederadel eine Anpassung an die neue Form der Konfliktregulierung durch Justiznutzung gelungen sei, habe sich eine adlige Rechtskultur herausgebildet, die das Hofgericht als Forum des Adels zu nutzen gewusst habe. Alles in allem habe der niedere Adel so einen autonomen Beitrag zur Judizialisierung von Konflikten beigetragen.

Welch vielfältige Funktionen religiöse Praktiken für die adlige Selbstdefinition und Herrschaftslegitimation ausüben konnten, wurde am Referat von JUTTA TAEGE-BIZER (Kiel) deutlich. Die Referentin schilderte eindringlich, wie dem Grafenhaus Solms-Laubach am Ende des 17. Jahrhunderts pietistische Frömmigkeitsformen als Ersatz für eine nicht finanzierbare barocke Hofkultur dienten. Über eine bloße Funktion als alternative Form einer angemessenen höfischen Repräsentation hinaus spiegelte sich in der pietistischen Selbstinszenierung des Hauses Solms-Laubach – und besonderes bei Gräfin Benigna (1648-1702) – aber auch ein elitäres Selbstbewusstseins wider, das in mancher Hinsicht formale und inhaltliche Aspekte späterer Neuadelsdiskurse vorwegnahm. Taege-Bizer konnte nachweisen, dass in den pietistischen Kreisen um Gräfin Benigna Vorstellungen von einem Tugendadel kursierten, der ohne Rückgriff auf überkommene ständische Ordnungskriterien definiert wurde. Die Überzeugung der Pietisten, einer von Gott erwählten Gemeinschaft anzugehören, habe ständische Rangunterschiede zwar nicht nivelliert, so doch relativiert. Auf diese Weise habe sich in pietistischen Kreisen die Auffassung durchgesetzt, Teil eines von geburtsständischen Kriterien unabhängigen Tugendadels zu sein.

Dass sich die Althessische Ritterschaft mit den neuen politischen Verhältnissen, die durch die preußische Annexion des Kurfürstentums von 1866 entstanden waren, erfolgreich arrangieren konnte, führte GISELA ZIEDEK (Marburg) am Neuaufbau des sozialen Kapitals der Ritterschaft vor und nach dem Herrschaftswechsel vor. Weil sich der hessische Kurfürst seit dem Verfassungskonflikt von 1850 mit dem Adel in permanenten politischen, dienstlichen und privaten Auseinadersetzungen befunden habe, habe sich ein Teil der Althessischen Ritterschaft bereits vor der Annexion an Preußen angenähert. Zum endgültigen Bruch sei es gekommen, als der Kurfürst gegen den Willen eines erheblichen Teils des Adels auf Seiten Österreichs in den Deutschen Krieg eingegriffen habe. Als die Ritterschaft 1866 schließlich vor vollendete Tatschen gestellt worden sei, habe die Mehrheit der Adligen für eine Anerkennung des neuen Landesherrn plädiert. Die adelsfreundliche Politik Preußens – bspw. die Übernahme eines großen Teils des Adels in preußische Dienste – habe dazu geführt, dass der preußische König das Vertrauen der Ritterschaft gewonnen habe. Die gegenseitige Anerkennung von Adel und König habe es der Althessischen Ritterschaft ermöglicht, ihr soziales Kapital neu aufzubauen.

Per definitionem gehörte man vor 1918 durch Geburt und Herkommen zum Adel. Freilich bestand auch die Möglichkeit, vom Kaiser bzw. nach 1806 von den Landesfürsten in den Adelsstand erhoben zu werden. Wie sich ein solcher neuer Adel in den alten integrieren konnte, untersuchte DIETER WUNDER (Bad Nauheim) an den Familien von Geyso und von Verschuer, deren Stammväter 1658 bzw. 1696 geadelt worden waren. Beide Familien, so Wunder, entstammten sozialen Kreisen, deren Lebensführung dem Adel in vielem ähnlich gewesen sei. Das natürliche Rekrutierungsgebiet für Nobilitierungen sei der Akademiker-, Beamten- und Offiziersstand gewesen. Der landsässige Adel in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und die Reichsritterschaft im Kanton Rhön-Werra hätten im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine Bedenken gehabt, Neugeadelte mit adliger Lebensweise und adligem Konnubium als standesgemäß zu akzeptieren. Durch den Erwerb von Rittergütern, den Eintritt in fürstliche Dienste und die Akzeptanz des Adels seien die wenigen Neuadligen im alten Adel aufgegangen. Seit 1736 allerdings habe der hessische Adel anders als die Reichsritterschaft eine Politik der Abschließung verfolgt, die auch bisher akzeptierte Adlige traf.

Auch CHRISTOPH FRANKE (Marburg) beschäftigte sich in seinem Vortrag – dem letzten dieser Tagung – mit dem Aspekt der Nobilitierung. Er fragte danach, ob in der Nobilitierungspraxis des Großherzogtums Hessen von 1806 bis 1918 die Strategie einer gezielten Elitenbildung erkennbar sei. Weil die Quellenlage durch zahlreiche Kriegsverluste beeinträchtigt sei, könnten keine qualitativen Aussagen zu den Motiven der großherzoglich-hessischen Nobilitierungspraxis getroffen werden. Daher wählte Franke einen quantitativen Zugriff, der die Fragen nach den Motiven der Standeserhöhungen offenließ. Die statistische Analyse verschiedener Berufsgruppen (Beamte, Offiziere, Gutsbesitzer und Unternehmer) ergab, dass den Nobilitierungen im 19. Jahrhundert wohl kein Konzept zugrunde lag, das etwa den persönlichen Interessen der Großherzöge oder einer systematischen Zusammenführung von alten und neuen Eliten gegolten hätte. Aus dem geringen Konnubium zwischen dem alten und dem neuen Adel in den beiden Generationen nach der Standeserhöhung schloss Franke, dass die alten Adelsschichten die nobilitierten Familien innerhalb dieses Zeitraums nicht akzeptiert hätten. Sowohl im 19. als auch im beginnenden 20. Jahrhundert sei an herkömmlichen Vorstellungen von Adel festgehalten und keine Verschmelzung traditioneller und moderner Eliten angestrebt worden. Die alten Eliten hätten sich nicht gegenüber den neuen geöffnet.

Im abschließenden Resümee, das mit Blick auf den zweiten Tagungsteil als Zwischenbilanz bezeichnet wurde, fassten die Sektionsleiter zentrale Aspekte der Tagung zusammen.

ECKART CONZE hob erneut die Heterogenität der hessischen Adelslandschaften hervor und wies darauf hin, dass die methodische Konzipierung des Begriffs ,Hessen’ als historischer Raum einen diachronen und synchronen Vergleich des Adels in Hessen ermögliche. Dass bei der Tagung ein gewisses Übergewicht auf der Frühen Neuzeit gelegen habe, spiegle den Stand der Forschung wider. Um die historische Adelsforschung systematisch über die Grenze zwischen der Frühen Neuzeit und der Neuzeit hinausführen zu können, nannte Conze sechs übergeordnete Fragestellung, die auf den gesamtem Zeitraum der Tagung anwendbar seien: (1) Als erstes erwähnte er die Frage nach der Kohäsion des Adels, wobei das jeweilige Bezugskriterium des Zusammenhalts spezifiziert werden müsse (z.B. als Stand, regionale Elite, Sozialformation oder Gruppe) und Kohäsion nicht mit Homogenität verwechselt werden dürfe. (2) Anschließend stellte Conze in Frage, ob der Begriff des Individualismus oder der Individualität, der verschiedentlich als Leitkategorie des Tagungsprogramms genannt worden war, geeignet sei, das Handeln adliger Individuen zu analysieren. Anhand welcher Kriterien könne man von individuellem Handeln sprechen, das sich präzise von gruppenspezifischen Praktiken abgrenzen lasse? (3) Drittens stellte er die Frage, ob für den behandelten Zeitraum die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich tragfähig sei. Sei adliges Handeln nicht bis weit in das 19. Jahrhundert hinein immer öffentlich gewesen? (4) Sodann warf Conze die Frage auf, durch welche Mechanismen und in welchen Situationen innerhalb des Adels Kohäsion entstehe. Schließe sich der Adel besonders dann über seinen Vergangenheitsbezug als Erinnerungsgruppe zusammen, wenn er in Defensivpositionen gerate? (5) Damit verknüpfte er die Frage, was Adel im jeweiligen historischen Kontext bedeute – nicht nur aus Perspektive der Historiker, sondern auch der Zeitgenossen. In Adelsdefinitionen, z.B. bei Neuadelskonzepten, spiegelten sich ideen- und gesellschaftsgeschichtliche Aspekte wider, die über eine Adelsgeschichte im engeren Sinne hinauswiesen. (6) Schließlich fragte Conze, welche Vorstellungen von Staat und Staatlichkeit im Adel verbreitet gewesen seien und wie sie sich in ihrem Wandel auf adlige Vorstellungen von Dienst und Staatsdienst ausgeübt hätten.

HORST CARL (Gießen) betonte in seinem Resümee, dass Adels- und Landesgeschichte affine Teilbereiche der Geschichtswissenschaft seien, ja, Adelsgeschichte generell mit zahlreichen historischen Teildisziplinen verknüpft werden könne (bspw. mit der Rechts- und Religionsgeschichte). In den Vorträgen sei anschaulich gezeigt worden, wie sich der Adel Justiz, Religion, Geschichte oder Bildung zunutze gemacht habe; ein Aspekt sei aber noch zu wenig behandelt worden: die adlige Dynastienutzung. Oftmals werde in der Forschung zu sehr die Indienstnahme des Adels durch den Fürsten betont. Welche Erwartungen aber von Seiten des Adels an den Fürsten gestellt worden seien und welche Folgen sie gehabt hätten, das sei noch wenig bekannt. Zuletzt wies Carl auf die geringe Dynamik des Adels in Hessen hin, was möglicherweise eine Erklärung für die erfolgreiche Selbstbehauptung der hessischen Adelsgruppen in Zeiten des beschleunigten Wandels sein könne.

Als letzter Redner der Tagung stellt CHRISTOPH KAMPMANN (Marburg) an zwei Aspekten dar, wie Fragestellungen der Neueren und Neuesten Geschichte fruchtbar auf die Historiographie der Frühen Neuzeit zurückwirkten: (1) Auch für die Frühe Neuzeit sei es gewinnbringend, danach zu fragen, wie sich der Adel in defensiven Situationen verhalten habe. Kampmann sprach von einer defensiven Haltung des Adels, die durch hohe Flexibilität eine Anpassung an neue Umstände ermöglicht habe. (2) Vielversprechend sei es auch, den Adel in der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt der Elite zu behandeln. Wie das Referat über die pietistische Frömmigkeit des Hauses Solms-Laubach gezeigt habe, sei der Adel auch in der Frühen Neuzeit in Frage gestellt und mit alternativen Konzeptionen der Auserwähltheit konfrontiert worden. Zuletzt ging Kampmann noch einmal auf die enge Verzahnung von Adels- und Landesgeschichte ein und strich ihren Nutzen für die historische Forschung heraus.

Damit ging eine ertragreiche Tagung mit lebhaften Diskussionen zu Ende, auf deren Fortsetzung man gespannt sein darf. Diese Tagung konnte einmal mehr zeigen, dass der Adel nicht eindimensional als Verlierer der sich zunehmend beschleunigenden Modernisierungsprozesse seit der beginnenden Neuzeit angesehen werden kann. Zwar wird auch weiterhin an der Auffassung festzuhalten sein, dass der Adel in einer Langzeitperspektive – und gerade mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert – seine bisherige gesellschaftliche Stellung, insbesondere seine politische Macht, verlor, sich andererseits aber dennoch in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen an gewandelte Umstände anpassen und zugleich manchen Aspekt seiner herkömmlichen Lebensformen in adaptierter Weise bewahren konnte.

Der zweite Tagungsteil ,Adel in Hessen (15. bis 20. Jahrhundert) – Teil II: Grundlagen und Ausdrucksformen adeliger Lebensstile’ findet vom 20. bis 22. November 2008 im Stift Kaufungen bei Kassel statt.

Kurzübersicht:

Heide Wunder (Kasel)/Alexander Jendorff (Gießen): Thematische Einführung

Sektion 1: Adel in Umbruchszeiten: Fragestellungen, Thesen, Perspektiven (Moderation: Eckart Conze, Marburg/Cambridge)
Christine Reinle (Gießen): Zur sozialen und politischen Lage des Niederadels im hessischen Raum um 1450/1500
Frank Jung (Gießen): Landesherren und Standesherren. Adel und Staat im 18. und 19. Jahrhundert
Ewald Grothe (Wuppertal): Hessischer Adel und Parlamentarismus im 19. Jahrhundert
Marcus Funck (Toronto): Deutscher Adel in Hessen zwischen 1920 und 1960

Sektion 2: Adelige Selbstorganisation (Moderation: Horst Carl, Gießen)
Gabriele Haug-Moritz (Gießen): Grafenvereine und Reichskreise: Standespolitik oder Ständepolitik?
Robert v. Friedeburg (Rotterdam): Adel und ständische Vertretung: Repräsentation des Landes? Weshalb aus ,Rittern’ und ,Vasallen’ ,Patrioten’ wurden.
Katharina Schaal (Marburg): Der Deutsche Orden als ,Hospital’ des hessischen Adels

Sektion 3: Adeliges Selbstverständnis und Herrschaftsverständnis (Moderation: Christoph Kampmann, Marburg)
Steffen Krieb (Gießen): Name, Stamm und Linie – Vergangenheitsbilder und Gegenwartsinteressen in Familienchroniken hessischer Adelsfamilien um 1600
Armand Maruhn (Gießen): Entrechtung durch Verrechtlichung? Prozesse zwischen niederadeligen Grundherren und ihren Hintersassen vor dem Marburger Hofgericht
Jutta Taege-Bizer (Kiel): Pietistische Frömmigkeit und Dynastiesicherung: Das Grafenhaus Solms-Laubach am Ende des 17. Jahrhunderts
Giesela Ziedek (Marburg): Die Althessische Ritterschaft zwischen Hessen und Preußen 1850-1890
Dieter Wunder (Bad Nauheim): Nobilitierungen in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und im Fürstentum Fulda (1650-1750) – Aufstieg und Integration.
Christoph Franke (Marburg): Alter Adel – neuer Adel: Großherzoglich Hessische Nobilitierungen im 19. Jahrhundert

Anmerkungen:
1 Berthold Kohler, Bankrotteure, in: FAZ, Nr. 58, 8. März 2008, 1.
2 Vgl. z.B. auch Mark Hengerer/Elmar L. Kuhn/Peter Blickle (Hrsg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2 Bde., Ostfildern 2006.
3 Explizit in Anlehnung an Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, 87-95, implizit aber auch anschlussfähig an Überlegungen Ewald Frie, Adel um 1800. Oben bleiben?, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3 [13.12.2005], URL: <http://www.zeitenblicke.de/2005/3/Frie>, indem danach gefragt wurde, was ,oben’ im Kontext des historischen Raums Hessen bedeute.
4 Etwa Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003.
5 Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006.