Familie und öffentliche Erziehung – Kontinuitäten und Konjunkturen. Tagung des Arbeitskreises Historische Familienforschung

Familie und öffentliche Erziehung – Kontinuitäten und Konjunkturen. Tagung des Arbeitskreises Historische Familienforschung

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Familienforschung (AHFF) in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft Berlin
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.01.2008 - 26.01.2008
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Von
Hans Malmede, Institut für Kultur und Medien, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Im Anschluss an die Fachtagung des Arbeitskreises Historische Familienforschung (AHFF) an der Universität Gießen (Januar 2007) hat die von Carola Groppe an der Universität der Bundeswehr Hamburg organisierte Tagung des AHFF das Themenfeld Familie und öffentliche Erziehung noch einmal unter einer erweiterten historischen Perspektive behandelt. In Hamburg ging es um Kontinuitäten und Konjunkturen des gegenwärtig von vielfältigen Problemwahrnehmungen, Reformvorhaben und Reformkritiken begleiteten Gestaltungsverhältnisses von Familie und öffentlicher Erziehung. Damit verband sich in Hamburg die kritische Prüfung geläufiger Epochalisierungen und Zäsuren, die leicht den Blick auf die lange Dauer und die wiederholten Konjunkturen des spannungsreichen Zusammenhangs von Familie und öffentlicher Erziehung im sozialen Wandel verstellen.
Die zwölf Tagungsbeiträge erlaubten die Bildung von drei thematischen Schwerpunkten und vier Foren. Familie und öffentliche Erziehung: Kontinuitäten und Konjunkturen im 19. und 20. Jahrhundert; Familie und öffentliche Erziehung: Historische und aktuelle Diskurse im internationalen Kontext; Familie und öffentliche Erziehung: Gegenwärtige Debatten und Entwicklungen in historischer Perspektive.

MANFRED HEINEMANN (Hannover) eröffnete die Tagung in einer key note mit einem betont rechtsgeschichtlichen Vortrag, in dem er, ausgehend vom Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794, auf die zusammenhängende Genese familien-, schul-, jugend- und sozialrechtlicher Strukturen und die damit einhergehende Verrechtlichung pädagogischer Beziehungen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert aufmerksam machte. Konzentriert auf die zeitgenössische deutschbaltische Publizistik in den Ostseeprovinzen (Estland und Lettland) des russischen Kaiserreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisierte anschließend ANJA WILHELMI (Lüneburg) die von weiblichen Professionalisierungswünschen einerseits und nationalkulturellen Identitätsansprüchen andererseits bestimmten Konflikte um die bürgerliche Mädchenbildung zwischen häuslicher Unterrichtung und privatschulischer Ausbildung.

Einander ergänzende Beiträge präsentierten GISELA MILLER-KIPP (Düsseldorf) und HEIDI ROSENBAUM (Göttingen) im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Familie und außerschulischer Kinder- und Jugenderziehung im Sinne des nationalsozialistischen „Führer“-Diktatur. Miller-Kipp verfolgte in ihrem Vortrag vor allem die in Hitlerjugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM) programmatisch, organisatorisch und rechtlich zum Ausdruck gebrachten totalitären Erziehungsansprüche des NS-Regimes, die aber vor dem Zweiten Weltkrieg noch verschleiert wurden. So beschwor der Reichsjugendführer von Schirach wiederholt die Trias von Elterhaus, Schule und Hitlerjugend und würdigte den HJ-Führer als Vertrauensmann der Eltern. Im Rückgriff auf narrative Interviews mit Zeitzeugen (Angehörigen der HJ-Generation) nahm Rosenbaum Kinder und ihre Eltern im alltäglichen Umgang mit der Hitlerjugend in den vergleichenden Blick. Ihr Vergleich bezog sich auf das bürgerlich geprägte Göttingen und das proletarische Hannoversch-Münden. Auch wenn die Erinnerungen auf eine beträchtliche Spannweite der Einstellungen gegenüber dem Organisationszwang der Hitlerjugend verwiesen, so war doch die Akzeptanz der Staatsjugend in den Göttinger Bürgerfamilien, auch in konfessionell gebundenen Familien, größer als in den Arbeiterfamilien aus Hannoversch-Münden. Unter dem wachsenden Druck des Regimes erlaubten die Arbeiterfamilien ihren Kindern zwar die Teilnahme an den HJ-Diensten, aber auf möglichst niedrigem Niveau. Was allerdings nicht ausschloss, dass sich Arbeiterkinder aus Hannoversch-Münden ebenso wie Bürgerkinder aus Göttingen für den „Dienst“ in der Hitlerjugend begeistern und darüber mit ihren Eltern in Konflikt gerieten.

Auch die Beiträge von FLORIAN GRAMS (Hannover) und CAROLINE FRICKE (Potsdam) können in einen politisch-ideologischen Zusammenhang der deutschen Zeitgeschichte gestellt werden. Grams befasste sich in seinem Vortrag mit den unterschiedlichen Positionen der Kommunisten Clara Zetkin und Edwin Hoernle zur proletarischen Kindererziehung in marxistischen Deutungszusammenhängen. Während Zetkin die Notwendigkeit der Familienerziehung für proletarische Kinder unterstrich, betonte Hoernle ganz im Sinne der sowjetischen Modells die von der Partei organisierte und überwachte Erziehung der Kinder in entsprechenden Kollektiven als notwendige Alternative zur Familienerziehung. Dennoch fand die familienfreundliche Clara Zetkin in der im Aufbau begriffenen DDR mehr Beachtung in pädagogischen Debatten als der auf Kollektiverziehung setzende Edwin Hoernle. Als Vordenker der „richtigen“, allumfassenden Kollektiverziehung fungierte überdies der Sowjet-Pädagoge Anton Semjonowitsch Makarenko. Dass die Staatsmacht in der DDR der Familie nicht traute, verdeutlichte Caroline Fricke in ihrem Vortrag, in dem sie das Zusammenwirken „gesellschaftlicher Kräfte“, insbesondere das überwachend-repressive Miteinander von Jugendhilfe, Volkspolizei und Justiz im Umgang mit dem weiten Spektrum jugendlicher Devianz in der Ära Honecker differenziert thematisierte.

MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim) behandelte in ihrem Vortrag die Auseinandersetzungen um Familienerziehung und öffentliche Vorschulerziehung im Kontext der außerparlamentarischen Protestbewegung von 1967/68 in der Bundesrepublik Deutschland. Hierbei konzentrierte sich Baader auf die von Berlin und Frankfurt am Main ausgehende antiautoritäre Kinderladenbewegung mit ihrer Kritik sowohl an der bürgerlichen Vater-Mutter-Kind-Familie als auch an der traditionellen öffentlichen Vorschulerziehung (Kindergärten). Sie erinnerte an die bevorzugten historischen Vordenker der Familienkritik der 68er-Bewegung (z. B. Wilhelm Reich) in den Debatten um die Kommune als Familienalternative und die Kinderläden als Orte repressionsfreier Kollektiverziehung mit aktiver Elternbeteiligung.

GUNILLA-FRIEDERIKE BUDDE (Oldenburg) thematisierte in ihrem in das 19. und frühe 20. Jahrhundert zurückführenden und historisch-komparativ ausgerichteten Vortrag das Vertrauen und Nicht-Vertrauen von vorzugsweise bürgerlichen Eltern aus Deutschland und England in die Schule, in das Gymnasium und in die „public school“. Folgt man Budde, so hatte die vertrauensvolle Staatsnähe deutscher bürgerlicher Eltern ihre Grenzen, wenn es um die staatsnahe Schule bzw. um deren Umgang mit ihren Söhnen als Schüler ging. Die höhere Lehranstalt mit ihrem professionellen Personal war für sie nicht der Ort des rückhaltlosen pädagogischen Vertrauens in die Kinder und folglich auch nicht der Ort, in dem ihre Kinder Selbst- und Weltvertrauen gewinnen konnten. Dafür hatten die bürgerlichen Eltern selbst zu sorgen. Englische Eltern aus der Mittelklasse hingegen, die ihre Söhne bevorzugt auf „public schools“ - als Internate organisierte Privatschulen - schickten, brachten dieser Schulform großes Vertrauen entgegen, denn für sie war die Schule (Internatsschule) als Erziehungs- und Bildungsanstalt der Ort, an dem ihre Söhne Selbst- und Weltvertrauen erwerben konnten, zumal die Schüler durch vielfältige Aufgaben und Posten an der schulischen Selbstverwaltung beteiligt waren. Das Vertrauen der Eltern in die Privatschulen und ihr Personal hatte allerdings noch einen gewichtigen Grund, nämlich die finanzielle Abhängigkeit der „public schools“ von den Eltern. Auch in dem Vortrag von THOMAS SPIEGLER (Marburg) zum Thema Home Education, einer weltweiten schulkritischen Bewegung, ging es nicht zuletzt um Vertrauensfragen: Um das begrenzte oder gänzlich verlorene Vertrauen von Eltern in die Schule als Ort öffentlicher Erziehung und Bildung und um das - vom deutschen Gesetzgeber berechtigte - Misstrauen von Bildungspolitikern und Schulbehörden gegenüber Eltern, die ihre schulpflichtigen Kinder dem Schulunterricht entziehen, um sie im häuslichen Umfeld individuell zu unterrichten.

Einen besonders weiten historischen Kontinuitäts- und Konjunkturbogen spannte MICHA BRUMLIK (Frankfurt a. M.) in seinem Tagungsbeitrag, in dem er den aktuellen Streit um Familie versus öffentliche Erziehung von den antiken Philosophen Platon und Aristoteles bis zu den deutschen Politikerinnen Ursula von der Leyen und Christa Müller verfolgte. Im Ergebnis warnte Brumlik mit Blick auf seit Platons „Politeia“ immer wiederkehrende Allmachtsphantasien und Experimente perfekter kollektiver Erziehung und sozialer Auslese vor der absoluten Vorrangstellung der öffentlichen Erziehung, die die von Aristoteles herausgestellte besondere Aufmerksamkeit von Vätern und Müttern gegenüber ihrem eigenen Nachwuchs leicht übersehe, weil sie der Familie als qualifizierte Pflege- und Erziehungsinstanz misstraue.
Dass diese Warnung durchaus ihre Berechtigung hat, belegte der Beitrag von JULIANE LAMPRECHT (Berlin) und DOROTHEA TEGETHOFF (Berlin). Sie gingen in ihrem Vortrag, der sich auf die Familienkonstitution im Spannungsfeld von bio-politischen Zuständigkeitsfragen konzentrierte, der Frage nach, wer heute „das Kind bekomme“. Es sind, wie die Fülle der Untersuchungen und die Risikoberatungen zeigen, vor allem die medizinischen Experten in Sachen Schwangerschaft und Geburt, also an erster Stelle Fachärzte und gelegentlich auch die Hebammen an den Kliniken. Ihre medizinisch-biologische Sicht auf Schwangerschaft und Mutterschaft bestimmt den Umgang mit den Frauen, weshalb vor der Geburt die Familienkonstitution durch medizinisches Wissen (Mutter-Kind) dominiert wird. Die Väter haben darin immer noch keinen definierten Platz. Das gilt aber auch für pädagogisch-soziale Fragestellungen im Hinblick auf die nachgeburtliche Phase von erster Mutterschaft und Elternschaft mit ihren oft unerwarteten Auswirkungen auf Paarbeziehung und Rollenvorstellungen, die sich noch häufig am langlebigen gesellschaftlichen Ideal der betont mütterlichen Familie orientieren.

Mit dem Beitrag von ELISABETH RANGOSCH-SCHNECK (Stuttgart) schloss die Tagung in thematisch-inhaltlicher Hinsicht. Rangosch-Schneck verfolgte in ihrem Vortrag das asymmetrische Verhältnis von Schule und Eltern in der Tradition des heimlichen Lehrplans. Eine Asymmetrie, die für sie bereits in schulreformpädagogischen Kooperationsvorstellungen am Beginn des 20. Jahrhunderts angelegt war und die bis heute in Elternbildern von Lehrpersonen stecke, die Eltern stärker als „Zubringer“ denn als wirkliche Partner begreifen.

Vielfältig und vielschichtig waren die Beiträge der Referentinnen und Referenten. Sie machten aber allesamt auf die Kontinuitäten und auf die gerade im extremen 20. Jahrhundert wiederkehrenden Konjunkturen von Schuldzuweisungen, Problemwahrnehmungen und Problemlösungen im spannungsreichen Verhältnis von Familie und öffentlicher Erziehung aufmerksam. Daran anschließend ist festzuhalten, dass es lohnend wäre, das Themenfeld „Familie und öffentliche Erziehung“ in historischer Perspektive intensiver, als es durch eine Tagung möglich ist, zu erforschen. Historische Untersuchungen können z. B. auf die Kontinuitäten von Problemwahrnehmungen und Problemlösungen hinsichtlich des Verhältnisses von Familie und öffentlicher Erziehung und auch auf eventuelle nationale Muster aufmerksam machen. Die Analyse der historischen Genese solcher Problemstellungen kann dabei ‚Aufklärung’ verschaffen über das Selbstverständnis von Gesellschaften hinsichtlich der Herstellung kultureller und sozialer Integration und Kontinuität.

Konferenzübersicht:

Manfred Heinemann (Hannover): Die generationübergreifenden familienrechtlichen Hintergründe öffentlicher Erziehungsangebote seit der Aufklärung

Anja Wilhelmi (Lüneburg):„Weibliche“ Erziehung, „weibliche“ Erziehungspflicht und der Kampf um die Familie. Die Auseinandersetzung über Mädchenbildung in der deutschbaltischen Publizistik der Ostseeprovinzen des Russischen Reichs (1850-1900)

Gisela Miller-Kipp (Düsseldorf): Systemkonkurrenz zwischen Familie und Staat: Jugenderziehung im „Dritten Reich“

Heidi Rosenbaum (Göttingen): Kinder zwischen Familie und Hitlerjugend

Florian Grams (Hannover): Öffentliche Erziehung und Familie im Kontext einer marxistischen Bildungsdebatte. Diskurse unter deutschen Kommunisten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik

Caroline Fricke (Potsdam): Das Zusammenwirken gesellschaftlicher und staatlicher Betreuungs- und Kontrollmaßnahmen beim Umgang mit der Devianz Jugendlicher in der DDR während der Regierungszeit Erich Honeckers

Meike Sophia Baader (Hildesheim): Familie und öffentliche Vorschulerziehung im Kontext der Protestbewegungen von 68

Gunilla-Friederike Budde (Oldenburg): Vertrauen in die Schule? Deutsch-englische Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert

Thomas Spiegler (Marburg): Der Diskurs über das Verhältnis von öffentlicher und familialer Erziehung am Beispiel Home Education

Juliane Lamprecht, Dorothea Tegethoff (Berlin): Wer bekommt das Kind – Familienkonstitution im Spannungsfeld von Zuständigkeitsfragen

Elisabeth Rangosch-Schneck (Stuttgart): „Sei und erscheine groß!“ (Tews) – Die Tradition des heimlichen Lehrplans in der Kooperation mit den Eltern


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