Ideologie und Lebensalltag - Vom Kitt des DDR-Systems

Ideologie und Lebensalltag - Vom Kitt des DDR-Systems

Organisatoren
Ulrike Poppe, Evangelische Akademie Berlin; Ronald Hirschfeld; Bundeszentrale für politische Bildung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.04.2008 - 27.04.2008
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Von
Thomas Schubert, Potsdam

Im Ankündigungstext der Veranstalter zur zeitgeschichtlichen Tagung zum Thema „Ideologie und Lebensalltag - Vom Kitt des DDR-Systems“ war zu lesen: „Überzeugungen, geformt aus linker Tradition, Propaganda und einseitiger Informationspolitik, utopischen Weltbildern, preußischem Untertanengeist, aber auch aus der Erfahrung sich verbessernder Lebensbedingungen und sozialer Sicherheit haben viele, durchaus auch staatskritische Menschen an den ,Sieg des Sozialismus’ glauben lassen“. Aus diesem dreifachen Ansatz, auf der Ebene der ideologischen Ansprüche, der realen politischen Handlungen und deren Einfluss auf den Lebensalltag der Menschen, sollten insbesondere Antworten auf die Frage erwachsen: „Was waren also die entscheidenden Bindungskräfte im realsozialistischen System, weshalb die Menschen die fehlende Freiheit in Kauf nahmen?“.
Nach diesem Programm sollten ideengeschichtliche, sozial- und politikgeschichtliche sowie mentalitätsgeschichtlichen Betrachtungsweisen ein klärendes Licht auf das damalige Verhältnis von Ideologie und Alltag in der DDR werfen - unter ausdrücklicher Berücksichtigung auch der Ebenen der späteren Erinnerung, Rezeption und Bewertung dieses Verhältnisses.
Die Tagung stellte somit auch eine Reaktion auf eine zeitgeschichtliche und geschichtspolitische Debatte dar, wie sie derzeit zum Umgang mit der DDR und ihrer Geschichte geführt wird. Zum einen geht es darin um eine weitere Öffnung der Zeitgeschichte für kulturwissenschaftliche Methoden, zum anderen um die Möglichkeiten und Grenzen einer stärkeren Orientierung auf Phänomene des Alltags.

Zum Auftakt sprach EHRHART NEUBERT zum Thema: „Ideologie und die Kraft des Glaubens - Integration und politische Religion“. Nach einer kurzen Einführung in die Genese des Begriffs „politische Religion“ und dessen Anwendung zunächst auf den Faschismus in Italien, auf den Nationalsozialismus und schließlich auf den Kommunismus sowjetischer Prägung wandte ihn Neubert auf die DDR an. Im Mittelpunkt stand dabei die Rolle des politischen Rituals und des utopischen Heilsversprechens in ihren jeweils pseudosakralen Funktionen. Nach Neubert verstellten auf kommunistischer Ideologie beruhende Rituale vor allem gesellschaftliche Räume für die Herausbildung von Individualität und alternativen Zusammenschlüssen. Sie hätten aber nicht nur den sozialen Raum totalisiert und beherrscht, sondern stellten durch die Absolut-Setzung des Gegenwärtigen auch die Zeit fest. Die qua Ritual beglaubigte Utopie wiederum ersetzte den religiös-transzendenten Bezug durch ein säkular-innerweltliches Heilsversprechen. Dieses war jedoch weder widerspruchsfrei zu formulieren noch überhaupt einzulösen. Da das Entwicklungsziel jedem öffentlichen Diskurs entzogen war und die verantwortlich zeichnenden Personen sich in einer Art geheimer Bruderschaft organisierten, blieb es in der Formulierung willkürlich, tendenziell geheim und in gewisser Weise pseudo-transzendent - im Sinne von Neuberts Begriff einer politischen Religion.

CHRISTOPH KLEßMANN sprach zu „Hoffnungen in Ostdeutschland auf eine bessere Zeit“ und unterschied fünf Bindungsvarianten. Neben dem allgemeinen Erstarken kommunistischer Ideen und Planungsphantasien im Europa der unmittelbaren Nachkriegszeit benannte er zweitens das Erstarken der Arbeiterschaft, deren neues Selbstbewusstsein und das zunächst allgemeine Streben nach organisatorischer Einheit als ein Hoffnungspotential. Während in Westeuropa bald Ernüchterung über die tatsächlichen Veränderungsmöglichkeiten eingetreten sei, wirkten diese unter den Bedingungen der DDR weiter, was Kleßmann u.a. am Mythos Eisenhüttenstadt zu verdeutlichen suchte - der „Stadt ohne Vergangenheit“, die einen radikalen Neuanfang verhieß. Als dritten Punkt ging er auf die Rolle der Intellektuellen ein, die sich - trotz aller Mängel - für die DDR als das „bessere Deutschland“ entscheiden zu müssen glaubten. Ihnen attestierte er eine „frappierende Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung“ aus der heraus lieber geschwiegen wurde, als indirekt dem Westen recht zu geben. Eine „paradoxe Bindung“ an die Verhältnisse sprach er viertens der evangelischen Kirche zu, wonach der latente Druck und die offene Repression eine größere Staatsferne und einen authentischeren Glauben erzwungen hätten. Unter Bezug auf Ralf Dahrendorf beschrieb er einen fünften Hoffnungs- und Identifikationsmodus, den bereits von Neubert vorgestellten Typus politischer Religiosität.

Die Pointe des Vortrags von CHRISTOPH CLASSEN zum Thema „Antifaschismus als Legitimationressource“ lag in der Infragestellung der These von der Wirksamkeit dieses politischen Gründungsmythos. Entgegen der Rede von „verordnetem“, „sinnentleertem“ oder „instrumentalisiertem“ Antifaschismus entwarf Classen das Bild eines elitären Antifaschismus, der sich gegen die Bevölkerung und deren Erfahrungen gerichtet habe. Gegen dessen Verankerung im kollektiven Gedächtnis und dessen Funktion als „Loyalitätsfalle“ sprechen zudem: die inflationäre Übertragung auf alle möglichen Konstellationen des Kalten Krieges, dessen schnelle Erosion nach 1990 und letztlich auch die Art und Weise des Untergangs der DDR selbst.

Zum Thema „Mythos und Wirklichkeit der Errungenschaften des real existierenden Sozialismus“ sprachen TATJANA BÖHM und STEFAN WOLLE. Böhm, heute Referatsleiterin im Brandenburgischen Sozialministerium, saß 1989/90 für den „Unabhängigen Frauenverband“ am „Zentralen Runden Tisch“, arbeitete dort mit am Verfassungsentwurf und zeichnete vor allem für die darin enthaltene „Sozialcharta“ verantwortlich. Ihr Beitrag changierte zwischen einer Kritik an der SED-Sozialpolitik als einer paternalistischen Fürsorgepolitik und einer heutigen Deutung der zur Aufnahme in den Einigungsvertrag anempfohlenen „Sozialcharta“. Letztere stellte sie einerseits als „utopisch, politisch naiv und illusionär“ dar, andererseits als „sehr modern“. Das größte Problem dabei war, dass mit Blick auf die DDR erstmals „soziale Standards demokratisiert“ werden sollten und man zugleich Einfluss auf die neue Bundesrepublik gewinnen wollte. Nach Böhm war damals nicht zu vermitteln, dass es sich nicht um den Versuch handeln sollte, ein Stück der abgewählten DDR in die Bundesrepublik zu schmuggeln, sondern um einen aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR selbst erwachsenden Beitrag zum Einigungsprozess. Die aktuellen Debatten um medizinische Versorgungszentren, Kitas, Schulspeisung etc. wiederum benannte sie als Anzeichen dafür, dass dieses Missverständnis nun ausgeräumt sei und heute ein historisch weniger belasteter Zugang zu diesen Fragen möglich wäre. Das abschließende Urteil, wonach sich bei Berücksichtigung der „Sozialcharta“ „die soziale Situation der Frauen in Ostdeutschland verbessert hätte“, stand jedoch nach den vorherigen Distanzierungen von der DDR und Beglückwünschungen zum neuen System letztlich auch etwas wehmütig im Raum.

Fast um nicht in dieser Weise eventuell missverstanden zu werden, hob Stefan Wolle in direktem Anschluss zu einer Philippika gegen die „DDR-Schönfärberei“ an, welche an Deutlichkeit nichts vermissen ließ. Im ersten von drei Teilen benannte und verdammte er das Phänomen einer neuerlichen „Sehnsucht nach der Diktatur“, worin er vor allem einen Erfolg der Linkspartei gegenüber „den demokratischen Parteien“ zu erkennen glaubte. „Die SED scheint die letzte Schlacht zu gewinnen“, denn „nie war die DDR so schön wie heute“, so Wolle. Der zweite Teil war der Frage nach dem Warum gewidmet, wobei es den Anschein hatte, als dass sich die Antwort irgendwie von selbst verstehe. Von „Demütigungserfahrungen von vielen“ war die Rede, aber nichts dazu, was man sich darunter vorzustellen hat. Drittens stellte Wolle die Frage, wie nun mit dieser Situation umzugehen sei, um nach insgesamt zwanzig Minuten mit der wenig kontroversen Empfehlung zu enden, Diktatur und „Idylle“ als sich wechselseitig bedingend zu verstehen. Dieser zornige Blick stellte manches Bedenkenswerte in den Raum, ohne sich mit Einzelheiten aufhalten zu wollen. Verwiesen sei hier z.B. auf Wolles Charakterisierung der DDR als einer „Erziehungsgemeinschaft“, wo jeder nicht nur immer und überall erzogen wurde sondern - als Ausgleich gewissermaßen - auch erziehen durfte.

Was bleibt, ist die Vermutung, dass nicht nur Nostalgie aus Demütigungserfahrungen resultiert. Auch dieser Art, ihr den Kampf anzusagen und in ihr vor allem den alten Gegner am Werk zu sehen, scheint eine paradoxe nostalgische Verhaftung an diese Zeit innezuwohnen. Ein Thema, über das 2009/2010 vielleicht noch zu sprechen sein wird.

Eine Analyse, die deutlicher die biographischen Erfahrungen des Autors zur Voraussetzung hat, lieferte WOLFGANG TEMPLIN. Sie trug das Thema: „Linke Überzeugungen, Sektierertum und Dissidenz in der DDR“. Er fragte, wie bei den pro-DDR eingestellten Kritikern des Systems, jene sich zu einem Irrglauben auswachsende Überzeugung entwickeln konnten, dass es sich dabei - trotz allem - um das besserer System handele. Zeitweilig selbst dieser falschen Wahrnehmung anhängig, erfasste er schließlich Dank der Schriften eines Leszek Kolakowski den im Kern totalitären Charakter des Ganzen. In Folge dessen erarbeitete er sich ein pluralistisches, nicht dogmatisches Verständnis von linker Politik - bis heute.

Dieser Lebensweg nötigt Respekt ab, umso mehr, wenn er mit einem solch hohen Maß an glaubwürdiger Aufrichtigkeit geschildert wird. Zu hören war aber nicht nur der Schmerz und die Zerknirschung eines Menschen, der, um seinen Geist zu retten, vom Glauben einer politischen Religion lassen musste. Intendiert war auch eine Analyse. Zunächst entwickelte Templin unter Bezug zur sozialen Frage seine aktuelle Position zum Thema „Was heißt Links heute?“. Zusammengefasst verstand er darunter eine auf „Ausgleich, Gerechtigkeit und sozialem Kompromiss“ zielende Vorstellung von „sozialer Demokratie“. Diese sei nur zu erstreben und erreichbar unter den Bedingungen, die man je konkret vorfindet und nicht unter jenen, die man sich erträumt, bestenfalls vorzustellen vermag und auf die eine oder andere Weise erst gewaltsam herzustellen hat. In einem zweiten Schritt behandelte er diese als pragmatisch, menschenrechtlich und offen gekennzeichnete Position als das Maß, an dem auch der Diskurs linker oppositioneller Gruppen in der DDR zu durchmessen sei. Dabei verwundert es wenig, wenn davon abweichende, damals konkurrierende Einstellungen „linker Dauerkritiker wie Bahro oder der frühe Biermann“ durchs Raster der unterstellten „Oppositionsidentität“ fallen. Deren Konsens soll vor allem darin bestanden haben, dass „die Bundesrepublik schon vor 1989 als die bessere Gesellschaft“ angesehen wurde. Auf Leute wie Bahro traf das vor 1989/90 und auch danach sicherlich nicht zu. Aber ob darum dessen Buch „Die Alternative“ als ein „zutiefst doktrinäres Buch“ zu klassifizieren ist - das freilich hätte noch weiterer Erklärungen bedurft. Gleiches gilt für Templins Schlussfolgerung, wonach die damaligen Sektierer und Dissidenten in der DDR zusammen mit den heutigen Nostalgikern als die „historischen Verlierer“ des Einigungsprozesses anzusehen seien. Und mehr noch für die Selbstzuschreibung, die da folgerichtig lautet „Wir waren die historischen Gewinner“, womit wohl jene Oppositionsgruppen gemeint sein dürften, die im großen und ganzen damals schon das gewollt haben sollen, was heute der Fall ist. Templin spitzte dies in einer letztlich moralisierenden Weise zu. Sein Beitrag klang wie eine Stellungnahme in einem noch nicht offen geführten Streit unter Protagonisten der DDR-Herbstrevolution über deren heutige Deutung im Vorfeld ihres zwanzigsten Jubiläums. Wie weit eine Gewinner-/Verliererdichotomie dabei trägt, das wird sich noch zeigen müssen.

En detail wurde das Thema der Tagung von HENDRIK BERTH anhand der von Peter Förster 1987 ins Leben gerufenen sächsischen Längsschnittstudie und von CHRISTIAN BOOS am Beispiel der frühen DDR Kinowochenschauen behandelt. Boos zeigte, wie der DEFA-Augenzeuge seinen ursprünglichen Anspruch, kein reines Propagandamittel zu sein, bald verlor und wie mit der künstlerischen und journalistischen Qualität auch das ihm entgegengebrachte Interesse sank. Die von Hendrik Berth vorgestellte und noch weiter geführte Studie verspricht in ihrer Anlage interessante Einblicke in den Einstellungswandel der Generation der heute Mitte 30-Jährigen. Die Studie reicht von der Spätphase der DDR über Revolution und deutsche Einheit bis in die Gegenwart und hält - mittels Vergleichsstudien - Daten für den Osten wie den Westen Deutschlands bereit. Leider erwiesen sich 80 Graphiken in 30 Minuten als zu viel an Material, um daran über allgemeine Tendenzen hinaus etwas abzulesen. So musste das Fazit auch etwas allgemein ausfallen: Während für die Jahre 1987-89 eine Auflösung der Identifikation der Jugendlichen mit der DDR festzustellen war, so ist seit Mitte der 90er Jahre eine Re-Identifizierung mit dem untergegangenen Staat zu beobachten. Schlechte Erfahrungen werden eher vergessen und zwischen einem überwiegend kritisch gesehenen Staat (Ideologie) und einer positiv besetzten Sozialstruktur (Alltag) werde zu wenig differenziert.
Auch THOMAS AHBE ging in seinen beiden Vorträgen von sozialwissenschaftlich erhobenen Datensätzen aus. Dabei standen aber nicht deren Vorstellung oder methodologische Fragen zur Datenerhebung im Vordergrund, vielmehr sollten an dem Material Vorschläge zur Interpretation von Sinnbildungsprozessen, von Formen der Werteverschiebung und des Fortlebens von Identitäten entwickelt werden.

Im ersten Vortrag sprach Ahbe zu „Identifikatorischen Sinnbildungen in der DDR“. Dabei unterschied er drei Erfahrungsbereiche voneinander: erstens den Bereich unmittelbarer, persönlicher, als authentisch angesehener und als kontingent erlebter Erfahrung, zweitens den Bereich großer sinnstiftender Metaerzählungen und schließlich drittens den Bereich der Öffentlichkeit. In letzterem können zum einen individuelle und überindividuelle Erfahrungsräume und die daraus erwachsenen verschiedenartigen Geltungsansprüche verhandelt und integriert werden. Zudem komme der Öffentlichkeit auch die Funktion zu, die beiden anderen Bereiche und die dort anzutreffenden Milieus auf ein gesellschaftliches Ganzes hin zu vermitteln. Das strukturelle Problem der DDR-Gesellschaft sei es nun gewesen, dass es diese vermittelnde Ebene nicht gab und aus ideologischen Gründen auch nicht geben konnte. Für Sinnbildungsprozesse folgte nach diesem Schema eine Verselbständigung der Bereiche. Angewandt auf das Verhältnis von Alltagserfahrung und Ideologie konnte man mit Ahbe vermuten, dass das heute anzutreffende Phänomen einer paradoxen DDR-Nostalgie-Öffentlichkeit mit dem damaligen Fehlen eines vermittelnden, öffentlichen Aktions- und Erfahrungsraumes in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Was sich heute vor allem in Ostdeutschland zeigt, könnte als eine Art zweiter Öffentlichkeit verstanden werden. Diese ist zugleich geprägt von den kollektiven Erfahrungen aus der Zeit ohne eine solche, sowie von den Erfahrungen einer ersten revolutionären DDR-Öffentlichkeit 1989/90. Eine solche zweite Öffentlichkeit stellt somit auch ein fortdauerndes demokratisches Experimentierfeld dar. Womit man es dabei zu tun hat ist keine Alternative zur bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, sondern eine alternative bundesrepublikanische Öffentlichkeit. Deren Stimmen streben zudem nach Anerkennung ihrer Andersheit bei gleichzeitigem Bestehen auf Integration in eine nun gesamtdeutsche Kultur der Öffentlichkeit.

In seinem zweiten Vortrag entwickelte Ahbe für das Phänomen des „Fortlebens der DDR im vereinten Deutschland“ ein Schema gegenläufiger Entwicklung im Deutschland vor 1989. Die These, wonach eine „Entbürgerlichung Ostdeutschlands“ und eine „Verbürgerlichung Westdeutschlands“ für andauernde Mentalitätsunterschiede verantwortlich seien, entwickelt er ebenfalls anhand von Befragungsergebnissen zu Werteorientierungen. Diskussionswürdig war vor allem sein Fazit: Demnach werde in Deutschland noch immer „öffentlich“ am leistungsorientierten Leitbild der alten Bundesrepublik festgehalten, obwohl die Lebenserfahrung zumindest in weiten Teilen Ostdeutschlands dem nicht mehr entsprechen oder nie entsprochen haben. Dies führe zu einer neuerlichen Ent-Identifizierung von Leitbildern und den diese repräsentierenden Institutionen und zur Stabilisierung überkommener Wertorientierungen. Zu beobachten seien ähnliche Entwicklungen auch bei Jugendlichen in den Ländern der alten Bundesrepublik, was Ahbe aber nicht als Wertetransfer von Ost nach West interpretiert sondern als Folge einer dem Osten tendenziell folgenden sozialen Entsicherung im alten Bundesgebiet. Darin sah Ahbe wiederum ein Anzeichen der Lösung des „sozialen Kitts“ - den der alten Bundesrepublik.

Auf dem Abschlussplenum waren mit Edelbert Richter, Richard Schröder, Martina Weyrauch, Wolfgang Templin und Ulrike Poppe (als Moderatorin) nicht nur fünf Ostdeutsche, sondern auch fünf Protagonisten der Herbstrevolution und Demokratiebewegung in der DDR vertreten. Es war überschrieben mit der Frage „Was ist geblieben von der sozialistischen Idee?“, konkretisiert um die Fragen, woher damals die Zustimmung zum System kommen konnte und was man heute vom sozialistischen Ideenpaket für zukunftsträchtig halte - gerade aus der DDR Erfahrung.

Diese Verschränkung verschiedener zeitlicher, begrifflicher und thematischer Ebenen irritierte jedoch eher und ließ eine strukturierte Debatte nur ansatzweise aufkommen. Die angestrebte Kopplung der Frage nach dem Verhältnis von Ideologie und Lebensalltag in der DDR an die aktuelle Gerechtigkeitsdebatte schien die Podiumsteilnehmer zu überraschen. Zumindest reichte die Zeit nicht, um zwischen Darstellung und Interpretation von damaligen und heutigen Positionen in einer für das Publikum unmissverständlichen Weise zu differenzieren. Gleiches galt für die gebrauchten Sozialismusbegriffe.

Angesichts dessen schlug Thomas Ahbe vor, erst einmal „die Diskussion über die Frage der sozialen Gerechtigkeit aus der Geiselhaft der DDR-Diktatur zu befreien“. Ein anderer bedenkenswerter Hinweis zur Fortführung der Debatte stammte von Martin Sabrow. Dieser erinnerte an das eigentliche Thema der Tagung und mahnte mit Recht eine Trennschärfe in den Begriffen und zwischen den zeitlichen Ebenen an. Bezüglich der vom Podium zu behandelnden Frage stellte er treffend fest, dass die Disputanten „die Frage irgendwie leben aber nicht beantworten konnten“.

In dieser Beobachtung verbirgt sich jedoch mehr als die Aufforderung, doch bitte in das gewohnte Sprachspiel der akademischen Zeitgeschichtsforschung zurückzukehren. Gerade der Hinweis auf das „irgendwie leben“ des Themas, das bereits in etlichen der vorherigen Beiträge implizit deutlich wurde, deutet einen Ertrag dieser Tagung an. Nicht (nur) um eine Rückkehr kann es dabei gehen, sondern um die Herauskehrung und das Begreifen dessen, was sich dort habituell, in Zwischentönen und leichten diskursiven Normverletzungen zu zeigen versuchte. Zu untersuchen wäre, ob sich daraus Hinweise ergeben auf eine, aus der Spezifik von deutscher Teilung und Vereinigung resultierende, hierarchisch differenzierte Öffentlichkeitsstruktur. Der fortwährende Streit innerhalb der ehemaligen Opposition in der DDR - der sich auch und gerade am Begriff der „Opposition“ entzündet - könnte hierfür als ein erster Anhaltspunkt gesehen werden. Er steht möglicherweise stellvertretend für einen umfassenderen Gesprächsbedarf der Ostdeutschen über die Bedeutung ihres Lebens in der Diktatur, über die Revolution, die Demokratisierung und den Weg in die deutsche Einheit.

In diesem Sinne wäre noch einmal auf den Anfang der Tagung zurückzukommen. Ronald Hirschfeld sprach in seinem Eingangsstatement davon, dass es bei der Tagung auch um ein „Gespräch zwischen Ost und West“ gehe, denn wir würden „noch immer zu wenig voneinander wissen“. Der Verlauf der Tagung legte jedoch die Vermutung nahe, dass es eher das Gespräch der Ostdeutschen untereinander ist, an dem es heute mangelt: Mit Blick auf die eigene Geschichte scheint man sich dort mitunter nicht weniger fremd zu sein. Die evangelischen Akademien stellen für diese Art Gespräch ein geeignetes Forum dar.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung in die Tagung
Ulrike Poppe, Evangelische Akademie zu Berlin
Ronald Hirschfeld, Bundeszentrale für politische Bildung

Ideologie und die Kraft des Glaubens
Integration und politische Religion
Dr. Ehrhart Neubert, Theologe, Erfurt

Mit uns zieht die neue Zeit…“
Hoffnungen in Ostdeutschland auf eine bessere Gesellschaft
Prof. Dr. Christoph Kleßmann, Historiker, Potsdam

"Das bessere Deutschland..."
Antifaschismus als Legitimationsressource
Dr. Christoph Classen, Historiker, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Außenseiter und Integrierte
Identifikatorische Sinnbildungen in der DDR
Dr. Thomas Ahbe, Sozialwissenschaftler und Publizist, Leipzig

Im Wettlauf mit dem Westen: Arbeit, Bildung, Familie und Gesundheit
Mythos und Wirklichkeit der „Errungenschaften des real existierenden Sozialismus“
Dr. Stefan Wolle, Historiker, Berlin/Frankfurt/O
Tatjana Böhm, Mitautorin der „Sozialcharta“ des Runden Tisches, Potsdam

Trotz alledem das bessere System?
Linke Überzeugungen, Sektierertum und Dissidenz in der DDR
Wolfgang Templin, Philosoph und Publizist, Berlin

Einstellungswandel bei der 2. Generation DDR
Analysen des Instituts für Jugendforschung Leipzig
Prof. Dr. Hendrik Berth, Dipl.-Psychologe, Dresden

Wort und Bild als Waffe der Partei
Propaganda in den DDR-Medien
Christian Boos, Historiker, Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin

Über das Fortleben der DDR im vereinigten Deutschland
Wertvorstellungen und politische Orientierungen
Dr.Thomas Ahbe, Sozialwissenschaftler und Publizist, Leipzig

Was ist geblieben von der sozialistischen Idee?
Dr. Edelbert Richter, MdB a.D., MEP a.D., Lehrbeauftragter für Philosophie an der Bauhaus-Universität Weimar
Prof. Dr. Richard Schröder, Theologe, Humboldt-Universität Berlin
Dr. Martina Weyrauch, Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam
Moderation: Ulrike Poppe


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