Zivilgesellschaft: Historische Forschungsperspektiven

Zivilgesellschaft: Historische Forschungsperspektiven

Organisatoren
Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft. Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven“, Dieter Gosewinkel, Sven Reichardt
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2002 - 07.12.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Ute Hasenöhrl; Nina Verheyen

Am 6. und 7. Dezember 2002 fand am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ein internationaler Workshop zum Thema „Zivilgesellschaft: Historische Forschungsperspektiven“ statt – veranstaltet von Dieter Gosewinkel und Sven Reichardt, Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft. Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven“ –, an dem Historiker und Historikerinnen, Juristen, Sozial- sowie Wirtschaftswissenschaftler teilnahmen. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob und auf welche Weise das Konzept der Zivilgesellschaft als Leitbegriff und als Gegenstand historischer Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Insbesondere wurden Dimensionen des Verhältnisses zwischen Recht, Staat und Zivilgesellschaft sowie zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Vertrauen diskutiert.

Eingangs skizzierten die Veranstalter mögliche Forschungsperspektiven. Grundlage war eine Definition der Zivilgesellschaft, wie sie Jürgen Kocka in einem Diskussionspapier entwickelt hatte. Eine bereichslogische Perspektive auf Zivilgesellschaft als einem sozialen Raum zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre wird dort mit einer handlungslogischen Sicht auf Zivilgesellschaft als einem spezifischen Modus sozialer Interaktion verbunden. Dieser zeichnet sich durch Kompromissorientierung bei Konflikten, individuelle Selbständigkeit und gesellschaftliche Selbstorganisation, Anerkennung von Pluralität, Gewaltfreiheit und Zivilität, diskursive Kommunikation sowie ein Interesse an der res publica aus. Zivilgesellschaft beschreibt danach keine Gesellschaft im Ganzen, kennzeichnet aber durch Art und Ausmaß ihres Vorhandenseins deren Charakter.

Vor diesem Hintergrund betonte Dieter Gosewinkel, das Konzept der Zivilgesellschaft könne für die historische Forschung über die Frage nach ihren historischen Rahmenbedingungen nutzbar gemacht werden, die es zu gradualisieren gelte. Statt die Trennung von Zivilgesellschaft und Staat oder Zivilgesellschaft und Herrschaft in den Vordergrund zu stellen, ließe sich vielmehr fragen: Wie viel Staat, Herrschaft, Macht, Gewalt, Ungleichheit braucht bzw. verträgt die Zivilgesellschaft? Zugleich sei die Untersuchung auf die begrenzten Möglichkeiten der Entstehung und Erhaltung von Zivilgesellschaft zu richten. Ergänzend plädierte Sven Reichardt dafür, speziell den Überschneidungsbereich zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft ins Auge zu fassen. Hierfür biete sich der Begriff des Sozialkapitals an: Dieser stelle mit Vertrauen und Solidarität zwei Ressourcen in den Vordergrund, die sowohl in der Sphäre der Zivilgesellschaft als auch in der Sphäre der Wirtschaft von zentraler Bedeutung seien.

Der erste Teil der Tagung beschäftigte sich mit „Zivilgesellschaft als Leitbegriff und Gegenstand historischer Forschung“. Dominique Colas stellte in seinem Vortrag „Semantic history of Civil Society: From Aristotle’s koinonia politiké to Marx’ bürgerliche Gesellschaft” semantische Variationen des Begriffs „civil society“ vor. Die inhaltliche Vieldeutigkeit gerade des englischen Terminus „civil society“ rühre unter anderem daher, dass philosophische Begriffe von Aristoteles „koinonia politiké“ über Luthers und Melanchthons „societas civilis“ bis hin zu Marx’ „bürgerlicher Gesellschaft“ und Durkheims „société civile“ gleichermaßen als „civil society“ ins Englische übertragen wurden, obwohl sie sich in ihrer eigentlichen Bedeutung keineswegs deckten. Colas verdeutlichte dies, indem er Wertschätzung und Hauptantipoden der „civil society“ in verschiedenen konzeptuellen philosophischen Systemen einander gegenüberstellte.

Jörn Leonhard beschäftigte sich in einem kontrovers diskutierten Beitrag mit „Zivilität und Gewalt. Zivilgesellschaft, Kriegserfahrungen und Nationalismus“. Er wandte sich gegen einen normativ aufgeladenen präskriptiven Forschungsansatz und plädierte für eine deskriptiv-analytische Herangehensweise, die der Vielfalt möglicher Entwicklungen in der Vergangenheit Raum lasse. Beispielsweise solle der heutige Gegensatz zwischen Zivilgesellschaft und Gewalt nicht als eine Basisantinomie vorausgesetzt werden, er sei vielmehr das Ergebnis eines langfristigen Lernprozesses. Erst die Erschütterung des nationalen Paradigmas und seiner ideologischen Begründungszusammenhänge in der Erfahrung des totalen Krieges habe den Antagonismus zwischen Zivilität und Gewaltbereitschaft stärker hervortreten lassen und eine Öffnung der europäischen Gesellschaften für zivilgesellschaftliche Elemente wesentlich mitbedingt. Während Leonhards Forderung nach einer Historisierung der Antinomie von Zivilgesellschaft und Gewalt in der Diskussion breite Zustimmung fand, blieb die Frage, in welcher Weise Zivilgesellschaft und Gewalt miteinander verbunden sind, umstritten.

Christoph Conrad kritisierte in seinem Vortrag „Selbst-Organisation. Zivilgesellschaft in der Postmoderne“, dass der Begriff ‚Zivilgesellschaft’ in den Forschungsbereichen, die ihn bisher am stärksten mit empirischen Inhalten füllen konnten – Dritter Sektor, Vereine, Neue Soziale Bewegungen – am wenigsten gebraucht würde, da diese bereits über eigene Begrifflichkeiten verfügten. Die emphatisch-normative Komponente des Begriffs habe sich dagegen in der empirischen Forschung als zu optimistisch erwiesen. In Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Doppelnatur des sujet als Subjekt und Untertan zugleich plädierte Conrad dafür, die Frage nach der „Selbst-Organisation“ als neuen Zugang zu Motiven und Handlungsweisen der Akteure zu nutzen. Der Begriff ‚Zivilgesellschaft’ solle im übrigen wieder „den Akteuren zurückgegeben werden“, anstatt ihn zu einem künstlichen neuen Subjekt zu stilisieren.

Yfaat Weiss thematisierte in ihrem Referat „Eigentum, Enteignung und Zivilgesellschaft“ Probleme der Restitutionspolitik in Israel nach 1948. Sie zeigte am Beispiel eines Stadtviertels in Haifa, wie die entschädigungslos gebliebene Umverteilung ehemals palästinensischen Wohneigentums zunächst an Holocaustüberlebende, später an orientalische Migranten im Zuge der Absentees’ Property Laws das Herausbilden einer integrierten israelischen Zivilgesellschaft verhinderte. Während der israelische Staat nach der Ausweisung orientalischer Juden aus dem Irak Mitte der 1950er Jahre die Verteilung ehemals palästinensischen Besitzes an die Flüchtlinge als Ausgleich auf einer höheren Ebene ansah, erhielten die einzelnen Palästinenser keine Kompensation und blieben daher eine Quelle sozialer Unruhe.

In seinem Vortrag „Zivilgesellschaft und Wissenschaftsgeschichte“ stellte Philipp Sarasin die These auf, dass das Konzept der Zivilgesellschaft in der Wissenschaftsgeschichte nicht als Analysekategorie anwendbar sei. Zum einen zeige die Durchsetzungsgeschichte wissenschaftlicher Ergebnisse, dass diese nicht nach den Kriterien des „besseren Arguments“ und der „herrschaftsfreien Kommunikation“ der Habermas’schen Diskursethik ablaufe. Zum anderen gebe es keine vollständig staatsfreie Forschung auf rein selbstorganisatorischer, also zivilgesellschaftlicher Basis. Sarasin kritisierte weiter den naiven Machtbegriff der Zivilgesellschaft, der diskursive und symbolische Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft ausblende, und plädierte für einen Staatsbegriff, der dessen positive Funktionen, etwa für einen freien Zugang zu Bildung und Wissenschaft, stärker berücksichtige. Während Sarasins Kritik an den regulativ-normativen Diskursvorstellungen mancher Zivilgesellschaftskonzepte in der folgenden Diskussion auf breite Zustimmung stieß, regte sich gegen seine Schlussfolgerung, ‚Zivilgesellschaft’ eigne sich nicht als historische Analysekategorie, einiger Widerstand.

Andreas Fahrmeir eröffnete mit seinem Beitrag „Staatsangehörigkeit und Zivilgesellschaft“ den zweiten thematischen Abschnitt der Tagung zu „Recht, Staat und Zivilgesellschaft“. Der Umgang mit Staatsangehörigkeit richte den Blick auf Inklusions- und Exklusionsmechanismen des Staates und der Zivilgesellschaft. Eine möglichst weitgehende Partizipation an der Zivilgesellschaft lasse sich auf zwei Arten erreichen: zum einen durch Verzicht auf eine Differenzierung nach Staatsangehörigkeit, zum anderen durch die Vereinfachung ihres Erwerbs in Verbindung mit dem Zwang zur formellen Integration.

Im Anschluss thematisierte Michael Schäfer die Beziehung zwischen „Verfassung, Zivilgesellschaft und europäischer Integration“. Verfassungen übernähmen mehr als nur eine Schutzfunktion von Zivilgesellschaft: Der moderne Verfassungsbegriff sei von neuzeitlichem Gestaltungsbewußtsein getragen und beschreibe einen Ort der Selbstverständigung über die Grundlagen gesellschaftlicher Verfasstheit, wobei die Definition eines Grundrechtskatalogs für die Formierung von Gemeinsinn und Zivilgesellschaft konstitutiv sei. Hieraus ergäben sich Konsequenzen für den europäischen Integrationsprozess. Im Vergleich zu nationalen und regionalen Identitäten sei eine europäische Identität nicht zuletzt deswegen erst schwach ausgeprägt, weil die Unionsbürgerschaft bislang nur einen eingeschränkten Status besitze.

In einem Beitrag über „Zivilgesellschaft und freiheitlich-demokratischer Verfassungsstaat. Nationale, europäische und internationale Aspekte“ stellte Hans-Joachim Schütz die Frage, wozu westliche Industriestaaten die Zivilgesellschaft benötigten. Anders als im ehemaligen Ostblock komme der Zivilgesellschaft hier nicht die Aufgabe zu, dem Staat als Antipoden eine freiheitlich-demokratische Verfassung abzuringen – diese sei bereits vorhanden. Schütz demonstrierte indes Aufgaben, die der Zivilgesellschaft trotzdem zukämen: Sie sei Memento eines „funktionierenden“ Verfassungsstaats, und fungiere im „degenerierenden“ Verfassungsstaat als Korrektiv und freiheitlich-demokratischer Gegenspieler von Unternehmen, Gewerkschaften oder einer unkontrollierten Medienmacht, die sich der Staatsgewalt bemächtigt hätten. Ähnliche Aufgaben kämen der Zivilgesellschaft auch auf europäischer und globaler Ebene zu.

Birger P. Priddat eröffnete die letzte Sektion des Workshops über „Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Vertrauen“. In einem Vortrag über „Vertrauen, Neue Institutionenökonomie und Zivilgesellschaft“ schlug er vor, Zivilgesellschaft aus institutionenökonomischer Perspektive auf ihre „governance structures“ hin zu untersuchen. Das Konzept des „Vertrauens“ reiche dafür jedoch nicht aus. Vielmehr sei ein Substitut ins Zentrum zu stellen, nämlich die Steuerung von Tauschprozessen über „third party enforcement“. „Third party enforcement“ gehe zunächst vom Staat aus, indem dieser Konflikte zwischen Marktakteuren als einer dritten Kraft regele und koordiniere. Aber auch NGO’s, Bürgergesellschaften und -organisationen könnten eine ähnliche Funktion übernehmen, wenn sie die „credible commitments“ von Marktakteuren bedrohen und darüber Kosten verursachen könnten.

Hartmut Berghoff dagegen hielt an „Vertrauen als Schlüsselkategorie der Unternehmensgeschichte“ fest und stellte sie ins Zentrum seines so betitelten Vortrags. Die immaterielle Ressource des Vertrauens sei zur Senkung von Transaktionskosten für kapitalistische Unternehmen unerlässlich. Zivilgesellschaft trage über die Bereitstellung von Foren der Vergemeinschaftung, Methoden der Selbstorganisation, Normbildung sowie Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen zur Vertrauensbildung bei. Dennoch gehe die systematische Beziehung von Vertrauen, Zivilgesellschaft und Unternehmensgeschichte nicht in einem positiven Zusammenhang auf. Erstens könnten vertrauensstiftende Maßnahmen von Unternehmen durch die Öffentlichkeit gestört werden. Zivilgesellschaft wirke der Vertrauensbildung also auch entgegen. Zweitens werde Vertrauen nicht nur in der Sphäre der Zivilgesellschaft gebildet, sondern auch in der Familie, innerhalb des Marktes und einzelnen Unternehmen selbst.

Ulrich Bröckling referierte über „Das unternehmerische Selbst in der Zivilgesellschaft“ und entwickelte, ausgehend von Anthony Giddens und Michel Foucault, allgemeine Schlussfolgerungen für den Umgang mit dem Konzept der Zivilgesellschaft in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung. Giddens’ Balancemodell einer „guten Gesellschaft“ liefere eine Grammatik zeitgenössischer Regierungsrationalität, wonach zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft keine Konkurrenz, sondern eine „win-win-Konstellation“ bestehe. In dieser Perspektive sei die Geschichte von Zivilgesellschaft nicht als Geschichte einer Entität, sondern wechselnder Konstellationen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft zu untersuchen, wobei Zivilgesellschaft nicht von außen durch Steuerungsmechanismen begrenzt, sondern durch diese überhaupt erst produziert werde. Zudem sei der Begriff der Zivilgesellschaft normativ aufgeladen und verweise im Sinne Foucaults auf eine Genealogie der Moral - zu untersuchen sei die Konstitution der Norm selbst. Statt Zivilgesellschaft als Gegenpol staatlicher Herrschaft oder ökonomischer Ausbeutung zu idealisieren, gelte es schließlich, die inhärenten Machteffekte in den Blick zu nehmen.

Insgesamt wurden im Laufe der Tagung Definitionen der Zivilgesellschaft sowie Möglichkeiten des Konzepts als wissenschaftliche Analysekategorie anhand theoretischer Überlegungen und historischer Fallbeispiele kontrovers, aber konstruktiv diskutiert. Kritisiert wurde wiederholt die regulativ-normative Tendenz mancher Zivilgesellschaftskonzepte. So könne etwa die Beziehung von Zivilgesellschaft und Gewalt bzw. Macht – entgegen dem normativen Anspruch – auf empirischer Ebene nicht auf eine Antinomie reduziert werden. Obwohl vereinzelt grundsätzliche Zweifel an der Eignung des von den Veranstaltern vorgeschlagenen Konzepts der Zivilgesellschaft zur wissenschaftlichen Analyse geäußert wurden, plädierte die Mehrzahl der Teilnehmer für eine stärkere Historisierung und Gradualisierung des Konzepts und damit sogleich für eine stärkere Fokussierung auf die Prozesse der Normbildung selbst. Zu fragen sei verstärkt nach den Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Zivilgesellschaft, nach Spannungen zwischen normativem Anspruch und historischer Praxis, Widersprüchlichkeiten sowie Überschneidungen und positive Wechselbeziehungen zwischen den Sphären. Die Tagung brachte somit Anregungen für eine schärfere konzeptionelle Fassung des Konzepts Zivilgesellschaft und zeigte Wege, es nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Normativität für die empirische Forschung fruchtbar zu machen.

Ein ausführlicher Tagungsbericht kann bei den Verfasserinnen angefordert werden.

Kontakt

Ute Hasenöhrl und Nina Verheyen
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
Reichpietschufer 50
D- 10785 Berlin
e-mail: hasenöhrl@wz-berlin.de; verheyen@wz-berlin.de


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts