Die historische Nationalismusforschung im geteilten Europa 1945-1989: Politische Kontexte, institutionelle Bedingungen, intellektuelle Transfers. Tagung zu Ehren von Miroslav Hroch.

Die historische Nationalismusforschung im geteilten Europa 1945-1989: Politische Kontexte, institutionelle Bedingungen, intellektuelle Transfers. Tagung zu Ehren von Miroslav Hroch.

Organisatoren
Seminar für Allgemeine und Vergleichende Geschichte, Karlsuniversität Prag; Juniorprofessur für Europäische Regionalgeschichte, Technische Universität Chemnitz; Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam; Archiv der Hauptstadt Prag
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
27.03.2008 - 28.03.2008
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Von
Sebastian Seibert

Miroslav Hroch nimmt in der internationalen Nationalismusforschung eine besondere Stellung ein. Ein „Pionier ebenso wie ein Anreger, Transferier, Brückenbauer und Integrator“ (Hans-Jürgen Puhle), der als einer der Wegbereiter der modernen Nationalismusforschung in der Zeit des Kalten Krieges auf beide Seiten des „Eisernen Vorhangs“ ausstrahlte. Dementsprechend stieß das Vorhaben dreier seiner Schüler (Miloš Řezník, Pavel Kolář, Michal Pullmann), seinen 75. Geburtstag im vergangenen Jahr zum Anlass für eine Tagung über die historische Nationalismusforschung im geteilten Europa zu nehmen, auf große Resonanz und wurde auch von der Fritz-Thyssen-Stiftung großzügig unterstützt. Die prachtvollen Räumlichkeiten des Clam-Gallas-Palais, Sitz des Archivs der Hauptstadt Prag, boten hierfür einen würdigen Rahmen.

Als Heimatstadt von Hroch lag Prag als Tagungsort natürlich nahe. In seiner Einführung in das Tagungsthema verwies MILOŠ ŘEZNÍK (Chemnitz) jedoch auch auf den bemerkenswerten Umstand, dass neben Hroch noch eine ganze Reihe weiterer bedeutender Nationalismusforscher wie Hans Kohn, Eugen Lemberg, Karl W. Deutsch oder Ernest Gellner wenn nicht tschechische so doch böhmische Wurzeln haben. Es sei sicherlich kein bloßer historischer Zufall, dass diese aus einem besonders von nicht-dominanten ethnischen Gruppen geprägten und durch Sprachvielfalt und Multikulturalität gekennzeichneten Gebiet stammten.

Als das Ziel der Tagung formulierte PAVEL KOLÁŘ (Potsdam) eine reflexive Historisierung der historischen Nationalismusforschung. Dies bedeute, einzelne Autoren und Debatten in ihren jeweiligen historischen Kontext einzuordnen und hierbei nicht allein den siegreichen „Kanon“ zu berücksichtigen. Dabei gelte es, sowohl institutionelle Rahmenbedingungen, politische Kontexte und ihre Auswirkung sowie intellektuelle Transfers und transnationale Netzwerke zu durchleuchten, als auch die historische Nationalismusforschung als Herausforderung der „nationalen Meistererzählungen“ und die Auswirkungen der methodologischen Differenzierung in der Geschichtswissenschaft zu untersuchen.

Den Auftakt bildete ein Vortrag von JOHN BREUILLY (London) über Nationalismus als Gegenstand der historiographischen Forschung. Ausgehend von einer Betrachtung des komplexen Verhältnisses von Nationalismus und Geschichtswissenschaft – den Bedarf des Nationalismus an Geschichte und die Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die Legitimierung des Nationalstaats – gab Breuilly einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Nationalismusforschung bis in die 1980er-Jahre. So stellte die Nation lange Zeit institutionell wie inhaltlich die unhinterfragte Basis der historiographischen Forschung dar. Auch hätten weder Marx noch Durkheim oder Weber signifikante Beiträge zum Thema Nationalismus beigesteuert. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges setzte eine Beschäftigung mit dem Nationalismus als einem eigenständigen Forschungsobjekt ein, jedoch nach wie vor mit dem Vorrang der Nation vor dem Nationalismus. Trotz der innovativen Arbeiten von Deutsch, Lemberg und Hroch1 fanden die Ergebnisse der Nationalismusforschung jedoch selbst noch in den 1960er-Jahren verhältnismäßig geringe Beachtung. Dies änderte sich erst 1983 mit den Werken von Anderson, Gellner und Hobsbawm/Ranger2, nun mit dem Vorrang des Nationalismus als Erzeuger der Nation. Eine mögliche Erklärung für die plötzliche Aufmerksamkeit sah Breuilly in der Rückkehr der Ideologie in die Politik, die er an der Iranischen Revolution, dem Thatcherismus und der Politik der Reagan-Administration festmachte.

Auf jüngere Entwicklungen in der Nationalismusforschung ging Breuilly nicht mehr ein, sondern unterzog zum Abschluss seines Vortrags das Werk Miroslav Hrochs einer kritischen Würdigung. Dabei äußerte Breuilly Zweifel an der Chronologie von Hrochs Drei-Phasen-Modell (A. Entdeckung der eigenen Kultur, B. politische Agitation, C. Massenbewegung)3 und plädierte dafür, Nationalismus als eigenständigen, vom Nationsbildungsprozess verschiedenen Untersuchungsgegenstand zu betrachten. Die anschließende Diskussion konzentrierte sich denn auch vornehmlich auf den Terminus Nationalismus und die dahinter stehenden Konzepte.

Obschon die Tagung somit gleich recht munter begann, trat doch auch die Schwierigkeit des Unterfangens zu Tage, einen bedeutenden Nationalismusforscher im Kreise seiner Weggefährten, Kollegen und Schüler ehren zu wollen und gleichzeitig die Nationalismusforschung selbst zu historisieren. So wurden letztlich mehrere Themenkomplexe im Rahmen der Tagung diskutiert: Nationalgeschichtsschreibung in West und Ost und ihre Konjunkturen, traditionelle Streitfragen der Nationalismusforschung sowie die Rezeptionsgeschichte und Anschlussfähigkeit einzelner Nationalismusforscher.

Wie unbeeindruckt von den Erkenntnissen der Nationalismusforschung weiterhin nationale Geschichtsschreibungen fortbestehen, zeigten die Beiträge von GEORG CHRISTOPH BERGER WALDENEGG (Heidelberg), STEFAN BERGER (Manchester) und ANDRZEJ MICHALCZYK (Erfurt). In Berger Waldeneggs Untersuchung des Einflusses der Nationalismusforschung auf „nationale Meisterzählungen“ in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich wurde deutlich, dass diese, wenn überhaupt, kaum oder nur ungenau rezipiert wurde. Demnach wirken die „Meistererzähler“ immer noch als „Nation-Builder“, als Erzähler der Nation und Identitätsstifter: in Deutschland kritisch gegenüber dem eigenen Nationalismus und mit einem stark national verengtem Zugriff, in Österreich unkritisch gegenüber dem eigenen Nationalismus und mit einem weniger stark nationalgeschichtlichen Zugang.

Wie in der Bundesrepublik folgte auch in Großbritannien auf die kritische Auseinandersetzung mit den traditionellen Meistererzählungen in den 1960er- und 1970er-Jahren, die gleichwohl kein Ende der nationalen Geschichtsschreibung bedeutete, eine Renaissance nationaler Diskurse in den 1980er- und 1990er-Jahren. Mit Heinrich August Winklers Der lange Weg nach Westen und Norman Davies’ The Isles ging Stefan Berger auf zwei seiner Ansicht nach für das Schreiben nationaler Geschichte um die Jahrtausendwende paradigmatische Werke eingehender ein. Beiden liegt eine patriotische Motivation zugrunde: Winkler schreibt die Meistererzählung des vereinigten Deutschlands – auf den anti-westlichen Sonderweg vor 1945 und den „post-nationalen“ Sonderweg nach 1945 folgt nun der „demokratische postklassische Nationalstaat“ –; Davies kreiert eine neue homogene Nationalgeschichte, indem er einerseits die kleineren Nationen der britischen Inseln von der sich hinter der Maskerade der Britishness verbergenden englischen Meistererzählung befreit, zugleich aber die Pluralität der Britishness gegenüber Welshness, Scottishness und Irishness hervorhebt. In beiden, traditionell verfassten Narrativen spielt dabei die Vorstellung des Andersseins eine wichtige Rolle.

Andrzej MICHALCZYK führte aus, wie im Falle Oberschlesiens deutsche und polnische Geschichtsschreibung noch bis vor kurzem vor allem zur Stützung nationaler Deutungsmuster beitrugen, ethnische Trennungslinien zogen und um die Nationszugehörigkeit der slawophonen, oft mehrsprachigen Bevölkerung dieser Region stritten. Neuere kulturgeschichtliche Analysen zeichnen mittlerweile ein differenzierteres Bild: Deutsches oder polnisches Nationalbewusstsein spielt demnach in Oberschlesien eine sekundäre Rolle gegenüber einer auf die engere Heimat gerichteten Identität, die eng mit dem katholischen Glauben verbunden ist.

Allgemein blieb auch in der ostmittel-, ost- und südosteuropäischen historiographischen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg die Nation zentral. So waren die marxistischen historischen Narrative keineswegs anti-national, wie MACIEJ GÓRNY (Warschau/Berlin) darlegte. Hatte sich in der Sowjetunion bereits in den 1930er-Jahren unter Stalin eine Wendung zum russischen Nationalismus vollzogen, ignorierten in den 1950er-Jahren verfasste polnische, tschechische, slowakische und ostdeutsche Universitätshandbücher selbst die von Stalins Nationsdefinition gesetzten Grenzen. Während nach Stalin sich Nationen graduell herausbildeten und erst im Kapitalismus als solche tatsächlich konstituierten, setzten diese Textbücher im Mittelalter oder noch früher an und beschrieben alles andere als eine graduelle Entwicklung. Traditionelle Interpretationen der nationalen Geschichte wurden im Wesentlichen beibehalten und zementiert. Insbesondere die tschechische und slowakische Geschichtsschreibung erweise sich bei näherem Hinsehen eher als konservativ denn als revolutionär.

Obschon letztlich erfolglos, diente nach MICHAL KOPEČEK (Prag) das Konzept des „Sozialistischen Patriotismus“ zeitweise nicht nur als politische Propaganda in der Auseinandersetzung mit der Opposition im Inneren, sondern war Bestandteil eines ambitionierten Projekts sozialistischen nation-buildings: von der Nivellierung größerer Antagonismen innerhalb der jeweiligen Nation über das Angleichen der Entwicklungsstadien der verschiedenen, gleichberechtigten sozialistischen Nationen hin zur weltweiten kommunistischen Gesellschaft. Damit einher ging auch ein wieder größer werdendes Interesse an theoretischer wie historisch-empirischer Nationalismusforschung.

CRISTINA PETRESCU (Bukarest) erläuterte, wie in Rumänien den nach dem Zweiten Weltkrieg inthronisierten marxistischen Historikern mit der Entwicklung eines national integrierenden Narrativ etwas gelang, woran ihre Vorgänger bisher gescheitert waren. Der Kommunismus wurde dabei als logische Konsequenz und Fortentwicklung der rumänischen Nationalgeschichte präsentiert, welche als ein kontinuierlicher Kampf des rumänischen Volkes für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, für Unabhängigkeit, Fortschritt und Zivilisation dargestellt wurde. Eine 1958 in Amsterdam entdeckte handschriftliche Notiz von Karl Marx zu Rumänien, in der auch der Verlust Bessarabiens an Russland Erwähnung findet, erlaubte zudem die vorsichtige Referenz auf das vorkommunistische Narrativ.

Im Gegensatz dazu spielte sich laut ULF BRUNNBAUER (Berlin) in Jugoslawien die Geschichtswissenschaft spätestens seit den frühen 1960er-Jahren vor allem im Rahmen der jeweiligen Teilrepubliken ab, während eine dezidiert jugoslawische Geschichtsschreibung früh an ihre Grenzen stieß und zunehmend marginalisiert wurde. Der gesamtjugoslawische Diskurs war zusehends von teilweise sehr polemisch geführten Kontroversen geprägt, in denen aus der jeweils nationalen Position heraus argumentiert wurde. Die Großzahl historischer Arbeiten widmete sich denn auch der „nationalen Wiedergeburt“. Einer faktografischen Teleologie folgend trugen sie so selbst zur Nationsbildung bei. In kleinerem Umfang existierte jedoch durchaus auch eine systematische, an Modellen orientierte und empirisch dichte Forschung zur Nationsbildung, die auch von der internationalen Nationalismusforschung inspiriert war, wie das Beispiel Mirjana Gross zeige.

Mit der Persistenz der meist negativ konnotierten Interpretationsfigur eines spezifisch osteuropäischen Nationalismus, befasste sich STEPHANIE ZLOCH (Berlin). Im Gegensatz zu der häufig in der Studienliteratur vertretenen Annahme handelt es sich bei der Kohnschen Dichotomie eines „westlichen“, rationalen und säkularen, und eines „östlichen“, mystisch-kulturellen und auf einem irrationalen Volksbegriff beruhenden, Nationalismus demnach nicht um eine längst überwundene Forschungsposition.4 Dies mag zwar auf Formulierungen und methodische Herleitungen zutreffen, nicht jedoch auf die inhaltliche Substanz. Im Zusammentreffen mit der wenig älteren Forschungstradition „volksgeschichtlich“ inspirierter Betrachtungen zur „Nationalitätenfrage“, vermittelt durch Historikerpersönlichkeiten wie Hans Rothfels oder Theodor Schieder, gewann diese Interpretationsfigur eine besondere Suggestivkraft und wirkte in der westlichen Forschung über 1945 hinaus. Von Kohn ursprünglich auf Deutschland bezogen, verschob sich die Akzentsetzung im ideengeschichtlichen Kontext des frühen Kalten Krieges auf Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa. Das seit den 1960er-Jahren etablierte Paradigma der „Geschichte als historische Sozialwissenschaft“ änderte an dieser Ost-West-Dichotomie nur wenig. Im Hinblick auf die Trägerschichten des Nationalismus wurden nun strukturelle Besonderheiten „osteuropäischer“ Gesellschaften ausgemacht und deren politische Relevanz beschrieben. Die Diagnose lautete dabei erneut auf „Verspätung“ oder „Deformation“ gegenüber dem westeuropäischen Modell. Aus dieser Vorstellung des Defizitären erwuchs aber auch die Möglichkeit zum Brückenschlag zu dem osteuropäischen wissenschaftlichen Diskurs über die eigene sozioökonomische „Rückständigkeit“, welcher allerdings bei partei- und staatsnahen Wissenschaftlern mit dem Bestreben verbunden war, den Sozialismus als historische Notwendigkeit zu legitimieren. Vor dem Hintergrund der Rezeptions- und Deutungsgeschichte des „osteuropäischen Nationalismus“ würden, so Zloch, die nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa starken Befürchtungen im Westen bezüglich des nationalen Unabhängigkeits- und Souveränitätsstrebens verständlicher. In der Diskussion wurde deutlich, dass eine derartige Typologie jedoch nicht aufrecht zu halten ist. So handelt es sich stets um Mischformen, die nicht einfach voneinander zu trennen sind, schon gar nicht in einen Ost- und einen Westtypus, zumal Russland in dieser Gegenüberstellung stets unberücksichtigt bleibt.

Auch in Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Nation wurden, wie MARTIN SCHULZE-WESSEL (München) ausführte, von verschiedenen Nationalismusforschern raumbezogene Unterschiede festgemacht, wobei der Religion als eigenberechtigter Ordnungsvorstellung allenfalls für den Osten Bedeutung zuerkannt wurde. Für Kohn5 stand eine analytische Religion im Westen eine mythisch, ritualistische Religion im Osten gegenüber. Für Snyder6 war Religion gar typisch für den Osten. Gellner7 wiederum erkannte im Islam einen Gegenpol zur Nation, da dieser sich im Gegensatz zum Christentum nicht in den Nationalismus einordnete, vernachlässigte dabei jedoch jegliche Binnendifferenzierung (zum Beispiel Evangelikale). Sowohl Klassiker (Kohn, Lemberg) wie Modernisten (Anderson, Gellner, Hobsbawm) sahen in Religion und Nation spezifische Ordnungen von Zeit, Raum und Sinn, die Kontingenzbewältigung, Integration und Legitimation schaffen. Die von den Modernisten vertretene Säkularisierungsthese impliziert dabei eine ähnliche Zeitenfolge wie der von Kohn und Lemberg konstatierte Epochenwandel vom Zeitalter der Religion zu dem der Nation. Hinsichtlich ihrer Auffassungen zum Verhältnis von Religion und Nation unterschieden sich die Modernisten somit nicht wesentlich von den Klassikern. Der Stellenwert der Religion im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die Nationalstaatsbildung wurden hier wie dort kategorisch ausgeblendet. Doch auch heute leben wir weder in einem post-nationalen noch in einem post-religiösem Zeitalter, so Schulze-Wessel. Zudem führe ein Nachdenken über das Verhältnis von Nation und Religion in eine Sackgasse, wenn man sich auf den Begriff der Religion bezieht. Vielmehr sollte die Verschiedenheit der einzelnen Religionen und Konfessionen ernst genommen und nicht allgemein von Religion sondern von den jeweiligen Lehren gesprochen werden. In Bezug auf raumbezogene Typologien sei stets darauf zu achten, ob sie tatsächlich etwas erklären oder ob sie politisch fragwürdig sind, eine Einteilung in Ost und West würde sich daher verbieten. Schon eher sei eine derartige Unterscheidung zwischen Europa und Amerika möglich, doch auch hier sei eine lehrenbezogene Argumentation vorzuziehen.

Der erste, der Nationalbewegungen in Ost und West vergleichend analysierte, war bekanntermaßen Miroslav Hroch. Mit der Rezeption von seinem Werk in Nordost- respektive West- und Südwesteuropa beschäftigten sich die Beiträge von JÖRG HACKMANN (Greifswald/Chicago) und XOSÉ MANOEL NÚÑEZ (Santiago de Compostela)
Hackmann erörterte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Historiographie für die Nation im Falle Estlands, wo der Historiker und Politiker Mart Laar Hroch gleichsam auf den Kopf gestellt habe. Núñez verwies vor allem auf die sozialhistorisch-empirische Fundierung von Hrochs Arbeiten. Obwohl Hroch in Westeuropa nur begrenzt und teilweise nur indirekt rezipiert worden sei, habe er doch entscheidende Impulse gegeben, sowohl in Bezug auf Methoden und theoretische Modelle zur Untersuchung ethno-politischer Mobilisierung, als auch hinsichtlich einer stärker komparativen Forschung.

JOEP LEERSEN (Amsterdam) beschrieb die seit den 1930er-Jahren vor allem in London konzentrierten Nationalismusforscher als enge Diskurs- und Kommunikationsgemeinschaft. Er verwies dabei auch auf persönliche Verbindungen und biographische Involviertheit wie Exil- und Diasporaerfahrungen oder die Teilnahme an der Pariser Friedenskonferenz im Falle von Toynbee, Carr und Macartney.

Mit dem Politikwissenschaftler und Nationalismusforscher Karl W. Deutsch befasste sich SIEGFRIED WEICHLEIN (Fribourg). Dessen modernisierungstheoretischer Neuansatz habe eine kopernikanische Wende in der Nationalismusforschung bedeutet – eine analytische Wendung gegen den Essentialismus des Nationalen.8 Zwar sei der auf mathematische Modulierung ausgerichtete Deutsch mit seiner Emphase von 1953 tot, doch biete er nach wie vor viel versprechende Anknüpfungspunkte. So bleibe die Feststellung der Wichtigkeit des nationalen Erfahrungsraumes und der Bedeutung sozialer Kommunikation. Die Schwachstelle sei sicherlich, dass nach Deutsch erfolgreiche Nationalstaatsbildung an die Verknüpfung von sozialer Kommunikation und Assimilation gekoppelt ist. In Verbindung mit konfliktorientierten Ansätzen, die auch die Möglichkeit der Integration über Konflikte und wachsendes gesamtgesellschaftliches Bewusstsein miteinbeziehen, sei die Beschäftigung mit Deutsch aber nach wie vor lohnend.

In Form des Beitrags von HANS-JÜRGEN PUHLE (Frankfurt am Main) erhielt Hroch schließlich noch eine verdiente Laudatio. Puhle lobte Hrochs große Sorgfalt, Offenheit und Balance sowie seine klare Begrifflichkeit. Als dessen drei wichtigste Einflusslinien nannte er die Historiographie im Anschluss an Meinecke, die Tradition marxistischer Theorie und Historie, nicht zuletzt von Otto Bauer, und Karl Deutsch. Angesichts Hrochs jüngerer Arbeiten äußerte Puhle jedoch auch die leise Befürchtung einer „Anthony D. Smithisierung“.
Als ein Desiderat bezeichnete er eine weitere Verfeinerung und Systematisierung der gekreuzten Entwicklungssequenzen zur Typologisierung der Nationalbewegungen, eventuell auch deren Ausweitung auf die außereuropäische Welt. Bedenkenswert sei zudem, systematischer danach zu fragen, was und wie Nationalbewegungen voneinander lernen. Des Weiteren erscheine es lohnend, die Erkenntnisse über die modernen Nationsbildungen in Europa in breiter konzipierte gesellschaftstheoretische Ansätze zur Erklärung der unterschiedlichen Entwicklungswege von Gesellschaften und Staaten in die Moderne und deren Folgen einzuordnen. An Hroch gerichtet äußerte er wie anschließend auch Jiri KOŘALKA den Wunsch, er möge seine „Angst vor Phase C“ (Kořalka) überwinden, zu deren Erforschung er Dank seiner Analysefähigkeit sicherlich einiges beitragen könnte.

Auf dem abschließenden Podium, bestehend aus Jürgen Kocka, John Breuilly, Michael G. Müller, Xosé Manoel Núñez und Miroslav Hroch, herrschte Einigkeit darüber, dass es nach wie vor einen großen Bedarf an vergleichenden Untersuchungen zu Nationalismen in Ost- und Westeuropa sowie zu außereuropäischen Nationalismen gebe. Breuilly plädierte an die Historiker, keine Meistererzählungen mehr zu schreiben („we don’t have to spin fairy stories anymore“), sondern die existierende Komplexität aufzuzeigen und globale Zusammenhänge zu berücksichtigen. Müller warf die Frage auf, inwieweit es eines neuen Instrumentariums bedürfe, um die Scheinbarkeit des Postnationalen und die neue Ära des zwanghaften Erinnerns im nationalen Kontext zu erklären.

Das Schlusswort blieb dem Jubilar vorbehalten, der sich dankbar und zu weiteren Forschungen angeregt zeigte. Hroch reflektierte über die Entstehung der Vorkämpfer9 und stellte dabei heraus, dass es ihm nicht um die Entwicklung einer Theorie gegangen, sondern führ ihn immer der Vergleich das Zentrale gewesen sei. Daher habe er es lange Zeit als frustrierend empfunden, auf sein Modell reduziert zu werden. Für die Zukunft forderte Hroch dazu auf, kein Nebeneinander-Erzählen sondern tatsächlich vergleichende Untersuchungen zumindest in Bezug auf Europa zu betreiben sowie die Grenzen der Zunft zu durchbrechen und mehr Risiken einzugehen.

Auch wenn dieses „Modernistentreffen“, wie Weichlein scherzhaft aber nicht unzutreffend die Tagung charakterisierte10, die Vorgabe einer Historisierung der Nationalismusforschung nur bedingt einlöste, so brachte es doch einige interessante Erkenntnisse zu Tage, insbesondere im Hinblick auf die nationale Geschichtsschreibung im östlichen Europa. Deutlich wurde zudem, dass die Erforschung der nach wie vor sehr aktuellen Themen Nation und Nationalismus noch lange nicht abgeschlossen ist. In Hinblick auf das Tagungsthema bleibt festzuhalten, dass eine weitergehende Historisierung dieses Forschungszweiges und seiner maßgeblichen Akteure sich als aufschlussreich erweisen dürfte. Es ist das Verdienst der Organisatoren der Tagung hierzu einen Anstoß gegeben zu haben.

Kurzübersicht:

27. März 2008

Abendvortrag: John Breuilly (London): Constructing Nationalism as an Historical Subject
Empfang

28. März 2008

Sektion 1
Georg Christoph Berger Waldenegg (Heidelberg): Nationalismusforschung und ihr Einfluss auf „nationale Meistererzählungen“ nach 1945. Die Bundesrepublik Deutschland und Österreich im Vergleich
Andrzej Michalczyk (Erfurt): Oberschlesien in der deutschen und polnischen Nationalismusforschung
Moderation/Kommentar: Philipp Ther (Florenz)

Sektion 2
Stephanie Zloch (Berlin)
Gibt es einen spezifisch „osteuropäischen Nationalismus“? Zur Persistenz einer Interpretationsfigur in Ost und West
Joep Leerssen (Amsterdam): Nationalismusstudien zwischen historischer Soziologie und Ideengeschichte: Zwei Stimmen aus Prag (Hans Kohn und Miroslav Hroch)
Moderation/Kommentar: Andreas Kappeler (Wien)

Sektion 3
Maciej Górny (Warschau/Berlin): Nation-Building in Marxist Historical Narratives in East Central Europe in the 1950’s
Michal Kopecek (Prag): Historical Studies of Nation-Building and the Concept of Socialist Patriotism in East Central Europe 1956-1970
Michael Vorísek (Prag/Florenz): Nation, Ethnicity, and the 1960’s Sociology in the Soviet Bloc
Moderation/Kommentar: Peter Bugge (Aarhus)

Sektion 4
Ulf Brunnbauer (Berlin): Geschichtsschreibung zu Nation-Building in Jugoslawien
Cristina Petrescu (Bukarest): Historiography of Nation-Building in Romania 1945-1958
Moderation/Kommentar: Árpád von Klimó (Potsdam)

29. März 2008

Sektion 5
Stefan Troebst (Leipzig): Ernest Renan Revisited
Stefan Berger (Manchester): What is a Western Nation? Some Reflections on Recent Historiographical Trends in Britain and Germany from 1945 to the Present
Moderation/Kommentar: Bo Stråth (Helsinki),

Sektion 6
Siegfried Weichlein (Fribourg): Soziale Kommunikation: Karl Deutsch und die Folgen
Martin Schulze Wessel (München): Der Stellenwert der Religion in der historischen Nationalismusforschung
Moderation/Kommentar: Thomas Mergel (Berlin)

Sektion 7
Jörg Hackmann (Greifswald/Chicago): Das Paradigma der „kleinen Nation“ – Miroslav Hroch und die historische Nationalismusforschung in Nordosteuropa
Xosé Manoel Núñez (Santiago de Compostela): Miroslav Hroch's Concept of Nation-Building and Western European Research on Minority Nationalisms
Moderation/Kommentar: Otto Dann (Köln)

Sektion 8
Christian Koller (Zürich): Historische Nationalismusforschung und Begriffsgeschichte – „Nation“ und „Nationalismus“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“
Hans-Jürgen Puhle (Frankfurt/Main): Miroslav Hroch im Kontext der Theorien über den Nationalismus
Moderation/Kommentar: Michael G. Müller (Halle)

Abschlussdiskussion:
Moderation: Jürgen Kocka (Berlin)
Miroslav Hroch (Prag)
John Breuilly (London)
Michael G. Müller (Halle)
Xosé Manoel Núñez (Santiago de Compostela)

Anmerkungen:
1 Deutsch, Karl W., Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundations of Nationality, Cambridge/Mass. 1953; Lemberg, Eugen, Nationalismus, 2 Bde., Reinbek 1964; Hroch, Miroslav, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegungen der kleinen Völker Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968. Einer der ersten, der Nationalismus als eigenständiges Forschungsobjekt untersuchte war Hayes, Carlton J. H., Essays on Nationalism, New York 1926.
2 Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revised and extended edition, London und New York 1991; Gellner, Ernest, Nations and Nationalism, Oxford 1983; Hobsbawm, Eric; Ranger, Terence (eds.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Vgl. außerdem Breuilly selbst: Breuilly, John, Nationalism and the State, Manchester 1982.
3 Für das Phasenmodell vgl. Hroch, Miroslav, Social Preconditions of National Revival in Europe, Camebridge 1985.
4 Vgl. Kohn, Hans, The Idea of Nationalism. A Study in Its Origins and Background, New York 1944.
5 Vgl. Kohn, Hans, The Age of Nationalism. The First Era of Global History, New York 1962.
6 Vgl. Snyder, Louis L., The Meaning of Nationalism, New Brunswick 1954.
7 Vgl. u.a. Gellner, Ernest, Nationalism, London 1997.
8 Siehe Anmerkung 1.
9 Siehe Anmerkung 1.
10 So blieben neure, insbesondere postmodernistische Ansätze weitestgehend unberücksichtigt. Siehe hierfür u.a. Billig, Michael, Banal Nationalism, London 1995; Brubaker, Rogers, Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1996 und Ethnicity without Groups, Cambridge 2004 sowie Calhoun, Craig, Nationalism, Buckingham 1997. Dagegen wurde die Gefahr der „dekonstruktivistischen Auflösung unserer Gegenstände“ beschworen.


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