„Wegsperren. Exklusionsmechanismen als gesellschaftliche Konfliktlösung“. Historische, soziologische und psychiatrische Aspekte

„Wegsperren. Exklusionsmechanismen als gesellschaftliche Konfliktlösung“. Historische, soziologische und psychiatrische Aspekte

Organisatoren
Landeskrankenhaus Moringen und KZ-Gedenkstätte Moringen in Kooperation mit dem VNB - Landeseinrichtung der Erwachsenbildung
Ort
Moringen
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.04.2008 - 26.04.2008
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Von
Susanne Ude-Koeller, Ethik und Geschichte der Medizin, Universitaet Goettingen

„Wegsperren. Exklusionsmechanismen als gesellschaftliche Konfliktlösung“ lautete der programmatische Titel einer interdisziplinär ausgerichteten Tagung, in deren Mittelpunkt historische, soziologische und psychiatrische Aspekte des „Wegsperrens“ standen. Als gemeinsame Veranstaltung der KZ-Gedenkstätte Moringen (DIETMAR SEDLACZEK) und des Landeskrankenhauses (LKH) Moringen (MARTIN SCHOTT) konzipiert, setzte die Tagung vom 25. und 26. April 2008 die Reihe erfolgreicher Kooperationen zwischen der KZ-Gedenkstätte und dem LKH Moringen fort. Moderiert wurde die Tagung von RENÉ MOUNAJED (Institut für Didaktik der Geschichte der Universität Göttingen und zugleich Vorstandsmitglied des Trägervereins der KZ-Gedenkstätte Moringen) und DIRK HESSE (Stellvertretender Ärztlicher Direktor des LKH Moringen). Moringen versteht sich als „Lernort“, und dies völlig zu recht wie die programmatisch und in der Durchführung äußerst gelungene Veranstaltung zeigt.

Die Beiträge, denen sich jeweils eine lebhafte Diskussion anschloss, griffen historische und aktuelle Rahmenbedingungen und Motive der Praxis des „Wegsperrens“ auf. Mit dem heutigen Landeskrankenhaus für forensische Psychiatrie war ein Tagungsort gewählt, dessen Topographie für die Vergangenheit auf eine lange und „effiziente“ Tradition des „Ausstoßens“ aus sozialen, rassischen oder politischen Gründen verweist. Dies wurde während der Führung zur Geschichte der Moringer Konzentrationslager, die unter der fachkundigen Leitung von DIETMAR SEDLACZEK, Leiter der KZ-Gedenkstätte Moringen, den klug gewählten Abschluss der Tagung bildete, noch einmal besonders deutlich.

Die Kontinuitätslinien der Exklusion aufgreifend, erläuterte Sedlaczek in seiner Begrüßung die Gebäudegeschichte des heutigen Landeskrankenhauses. 1738 als Waisenhaus gegründet, wurde die Einrichtung später als Arbeits- und Werkhaus genutzt. Während der NS-Zeit war Moringen als Männer-, Frauen- und Jugend-KZ Teil des umfassenden nationalsozialistischen Lagersystems. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fungierte Moringen als Auffanglager für „displaced persons“ aus Polen. Das am gleichen Ort eingerichtete Landeskrankenhaus Moringen ist heute als forensisch-psychiatrisches Krankenhaus für die Behandlung gerichtlich untergebrachter Patienten zuständig.

Angesichts der Schwierigkeit, auf Devianz mit Toleranz und Teilhabe zu reagieren, scheint vielerorts Ausgrenzung bis hin zum „Wegsperren“ immer noch eine vermeintliche einfache und rasche Lösung komplexer Konflikte und Dilemmata zu sein. Daher setzte sich die Tagungsprogrammatik, so Sedlaczek, auch mit Geschichte und Gegenwart des „Wegsperrens“ auseinander.

Aktuelle Beispiele gegenwärtiger Dehumanisierungsprozesse standen auch im Mittelpunkt der zweiten Begrüßungsansprache des Direktors des LKH, Martin Schott. Öffentliches Nachdenken über ein „bisschen“ Folter zur Rettung von Entführungsopfern oder über das erlaubte Abschießen von Flugzeugen im Rahmen der Terrorabwehr sowie politische Forderungen nach einem „Warnschuss-Arrest“ für Jugendliche scheinen – so Schott – auf eine latente Umdeutung gesellschaftlicher Werte hinzudeuten.

Die letzte Begrüßungsansprache hielt der ehemalige Bürgermeister von Moringen, OTTO GRAEBER. Auch sein Fazit, es müsse doch alles getan werden, damit „nie wieder geschehe, was einst geschah“, verwies noch einmal auf Relevanz und Aktualität des gewählten Tagungsthemas.

Unter den Vortragstitel ’Arbeit macht frei’ stellte WOLFGANG WIPPERMANN (Berlin) Bedingungen und Strukturen des KZ-Systems vor. Ergebnisse der Konzentrationslagerforschung referierend, listete Wippermann erste Konzentrationslager Ende des 19. Jahrhunderts auf, die 1896 von der spanischen Armee auf Kuba und nur zwei Jahre später von den USA auf den Philippinen errichtet worden waren.

Mit dem Instrumentarium der so genannten „Schutzhaft“, die nach dem KZ-Erlass von Hermann Göring vom 16. Juni 1933 in bestimmten KZ abzulegen war, und den Arbeitshäusern, die der Erziehung „arbeitsscheuer“ Personen zur Arbeit durch Arbeit dienen sollten, fokussierte Wippermann auf weitere wesentliche Voraussetzungen des KZ-Systems. Bereits in der frühen Neuzeit war die Exklusion derer, die keine Arbeit nachweisen konnten, behördlicherseits geregelt: „Asozialität“ und „Arbeitsunwilligkeit“ fielen verstärkt in den Zuständigkeitsbereich des Staates.

Nach 1936 entstand ein komplexes Lagersystem von KZ und Arbeitserziehungslagern. Die Internierung in die unterschiedlichen Lagertypen war im NS-Staat unter anderem durch das Gesetz gegen „Gewohnheitsverbrecher“ oder die „Volksschädlingsverordnung“ nahezu unbegrenzt möglich.

Im Anschluss stellte die Historikerin CORNELIA MEYER (Hannover) Geschichte und Disziplinierungsfunktion des Werkhauses Moringen zwischen 1871 und 1944 vor.1 Das Werkhaus Moringen gehörte zu den rund 50 im ausgehenden 19. Jahrhundert existierenden Werkhäusern, in denen „arbeitsscheue“ Angehörige sozialer Randgruppen durch Arbeit erzogen und gebessert werden sollten. Die Vergehen der Korrigenden bestanden zumeist in Prostitution, Bettelei und Landstreicherei.

Bereits der Titel ihres Vortrages über „Abschreckung, Besserung, Unschädlichmachung“ der Randgruppen rekurrierte auf die im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im NS-Staat jeweils zeittypischen Zielvorstellungen und Ideologien des Werkhauses. Die Tatsache, dass im Kaiserreich mehr Wert auf Abschreckung und weniger auf Integration gelegt wurde, verdeutlichte die Referentin unter anderem mit der Amtsenthebung des Ober-Inspektors von Rössing: Öffentliche Kritik an einer vermeintlich zu wenig auf drastische Abschreckung setzenden und zu humanen Behandlung der Korrigenden führte 1881 zu einer Absetzung der damaligen Anstaltsleitung. Möglichkeiten der Hafterleichterungen, Ansätze zur Resozialisierung und pädagogische Überlegungen waren Inhalte des veränderten Anstaltsreglements während der Weimarer Republik. Diesen Bemühungen um Akzeptanz der Hilfebedürftigkeit folgten in der NS-Diktatur einschneidende Verschlechterungen der Lebens- und Haftbedingungen, deren Insassen jetzt vom Zugriff der NS-Eugeniker bedroht waren. Das Postulat Besserung durch Arbeit verlor im Nationalsozialismus an Bedeutung, an Integration der „Asozialen“ und „Volksschädlinge“ waren die Verantwortlichen nicht länger interessiert.

Geschlossene Systeme der Gegenwart waren die Themen der beiden letzten Beiträge des ersten Tagungstages. „Orte des Ausnahmezustandes“ stellte die Soziologin DOREEN MÜLLER (Göttingen) in ihrem Beitrag zur Entwicklung bundesdeutscher Migrant/innenlager vor. In migrationspolitischer Sicht erfüllten diese Lager vor allem Kontroll- und Legitimierungsfunktionen. Seit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahre 1993 gilt der so genannte Sachleistungsvorrang, der die Unterkunft in Gemeinschaftsunterkünften zur Regel macht. Aus dezentralisierten Gemeinschaftsunterkünften in den Kommunen hätte sich, so Müller, zunehmend multifunktionale Großlager entwickelt. Zunächst als Modellprojekt Ende der 1990er-Jahre in einigen Bundesländern initiiert, ist die Unterbringung von Migranten in Abschiebelagern inzwischen im Zuwanderungsgesetz geregelt. In den im offiziellen Sprachgebrauch als „Ausreisezentren“ geführten Einrichtungen sollen Migranten, die nicht abgeschoben werden können, durch eine Kombination von ausländerrechtlicher Beratung und psycho-sozialer Betreuung zur „freiwilligen“ Ausreise überredet werden.

Migranten, die in Abschiebehaft genommen werden, sind im normalen Strafvollzug oder in speziellen Abschiebeanstalten interniert. Laut Schätzungen von Amnesty International sind allein in der Bundesrepublik jährlich 20.000 bis 30.000 Abschiebehäftlinge in Haft. Migrantenlager in der Bundesrepublik sind nicht losgelöst von der migrationspolitischen Entwicklung auf EU-Ebene zu sehen. Zum Ende ihres Beitrags ging die Referentin daher am Beispiel Polens und der Ukraine (Pawshino) auf die Europäisierung des Lagerregimes sowie Beispiele für widerständige Praxen (zum Beispiel Anti-Lager-Aktionen) ein.

Unterschiedliche Aspekte des Strafvollzuges standen im Mittelpunkt der drei Beiträge von TOBIAS MÜLLER-MONNING, GÜNTHER TONDORF (Düsseldorf) und THOMAS HARMS (Göttingen). Die Frage nach der (Un-)vereinbarkeit von Strafvollzug und Menschenwürde bildete den Kern des Beitrages von Müller-Monning. Der Soziologe und Gefängnisseelsorger der Justizvollzugsanstalt Butzbach erläuterte an nationalen und internationalen Beispielen unterschiedliche Haftbedingungen. In Deutschland leben Müller-Monning zufolge 82.000 Menschen als Gefangene. In den existierenden 200 Haftanstalten seien vorwiegend Männer inhaftiert, der Ausländeranteil liege bei 35 Prozent. Bei weltweit steigenden Haftzahlen ist die Ökonomisierung der ’Gefängnisindustrie’ vor allem im europäischen Ausland und in Amerika weit gediehen.

Die hinsichtlich der Umsetzbarkeit lebhaft diskutierte (Auf-)Forderung des Referenten, die Idee des Gefängnisses kritisch zu überdenken und sich von dieser eventuell zumindest gedanklich und sprachlich zu verabschieden, zielt auf mehr als eine Änderung intra muros. Die heftigen Widerstände aber gegen die Aufgabe von Gefängnissen speisten sich möglicherweise aus dem Umstand, dass Gefängnisse als Symbol für die räumliche Verlagerung des „Bösen“ an einen sicheren Ort und durch ihre Separierung in gute und schlechte Bürger sowie ihre Individualisierung der Schuld der allgemeinen Beruhigung und Befriedung dienen. Foucault zufolge kommen Wahnsinn und Delinquenz aber nicht von außen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, so Müller-Monning.

Die szenische Lesung der Schauspielerin KATHARINA MERSCHEL (Deutsches Theater, Göttingen), die aus Briefen der im KZ Moringen als politische Verfolgte inhaftierten Hanna Vogt las, bildete den passenden Rahmen und gelungenen Ausklang des ersten Tagungstags.

In welchem Ausmaß die Medien (erfolgreich?) versuchen, Einfluss auf die Entwicklung des modernen Strafrechts zu nehmen, mögen viele Teilnehmer der Tagung bereits vor dem Beitrag des Strafverteidiger Günter Tondorf geahnt haben. Dennoch erschreckte das Ausmaß der skizzierten, auf die Befindlichkeiten einer in weiten Teilen verunsicherten Bevölkerung setzenden Medienkampagne um die umstrittene Forderung Roland Kochs nach einer Verschärfung des Ausländer- und Jugendstrafrechts, die der Lehrbeauftragte der Universität Köln und Leiter des Kölner Instituts für Konfliktforschung Tondorf nachzeichnete. In Word und Bild wurde in der Öffentlichkeit in einer Allianz aus Politik (Roland Koch), Journalismus (Bildautor Dirk Hoeren) und staatsanwaltlicher „Expertise“ (Oberstaatsanwalt Roman Reusch) die Bedrohung durch „dauerkriminelle Jugendliche“ zum (Wahlkampf-)Thema gemacht. Der Berliner Oberstaatsanwalt Reusch hatte im Dezember 2007 auf einer CSU-nahen Tagung einen Vortrag über den Zusammenhang von „Migration und Kriminalität“ gehalten, über den der Journalist Hoeren anschließend in der Bild am 4. Januar 2008 berichtete. In einem groß aufgemachten Artikel begrüßte Hoeren die Ausführungen des von Amts wegen mit dem Jugendstrafrecht befassten Oberstaatsanwaltes Reusch, der sich unter anderem für eine Reduzierung der Zahl der nicht mehr „integrierbaren“ Ausländer einsetzte. Obwohl die generelle Zuverlässigkeit der von Reusch zugrunde gelegten Daten und Instrumentarien von Kennern bezweifelt wurde – insgesamt habe sich Reusch, so Tondorf, in unhaltbarer Weise zu dem Thema geäußert – stilisierte die Bild Reusch, gegen den zwischenzeitlich ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, zum Protagonisten eines verschärften Jugendstrafrechts.

Dabei verstoßen die Vorschläge der CDU hinsichtlich einer Verschärfung des Jugendstrafrechtes Tondorf zufolge gegen die von den UN verkündeten Mindestgrundsätze, nach denen die stationäre Unterbringung von Jugendlichen immer als das letzte Mittel zu gelten habe. „Hände weg vom Jugendstrafvollzug“, lautete daher nicht nur der Vortragstitel, sondern auch das klare Fazit des Referenten.

Über die Krise des Jugendstrafvollzugs berichtete der Pastor Thomas Harms, der im offenen Jugendvollzug in Göttingen arbeitet. Jugendstrafe dient nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) originär erzieherischen Zwecken. Die Haft ist laut JGG somit Mittel der letzten Wahl. Angesichts dieser gesetzlichen Grundlage stellte sich dem Referent (und Zuhörern) die Frage nach der Sinn- und Ernsthaftigkeit der von Koch und anderen erhobenen Forderung nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts. Sind die gesetzlichen Regelungen in den Ministerien ebenso unbekannt wie die validierten Negativfolgen von Inhaftierungen innerhalb geschlossener Systeme? Im hessischen Butzbach wird mittlerweile mit der Einführung eines so genannten Jugendarrests die Unionsforderung nach einem „Warnschussarrest“ umgesetzt. Für den Referenten entstehen in Butzbach dadurch rechtsfreie Räume, in denen zum Beispiel angeordnete Lockerungsmaßnahmen nicht umgesetzt werden. Positive Ausnahmebeispiele dürften, so das Fazit von Harms, nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gefängnisse als Folie der Abschreckung von der Mehrheit der Gesellschaft gewollt seien.

„Ulrike Meinhof vor den Toren: Braunes Erbe und neue Anfänge in der Jugendhilfe“, so lautete der Titel des Beitrags von PETER KRAHULEC (Fulda). Krahulec, Erziehungswissenschaftler und aktiv in der Gedenkstättenarbeit tätig, skizziert Kontinuitäten und (fehlende) Brüche in der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit. Am Beispiel literarischer, philosophischer und historischer Rezeptionsversuche ging der Referent einleitend auf Versuche des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit ein.

Als Seismographen für gesellschaftliche Kontinuitäts-Befindlichkeiten und Strömungen analysierte Krahulec im folgenden Erziehungsratgeber und ihre „pädagogischen“ Vorgaben. Am Beispiel des Buches „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934) veranschaulichte Krahulec die Stabilität der Käfige der Ideologien und Mentalitäten (Foucault). Als reichseinheitliche Erziehungsideale galten der Verfasserin, Johanna Haara, Härte und Gehorsamspflicht. Zu erreichen waren diese Ziele durch räumliches und emotionales „Kaltstellen“ des Kindes. Mit den anempfohlenen Erziehungsmittel „Wegsperren“ des Kindes sowie Verweigerung des Blick- und Körperkontaktes wurden Methoden propagiert, die durch ihr Vorenthalten des Kontaktes auf emotionale Grundbedürfnisse des Menschen abzielen.

Im zweiten Teil seines Vortrags beschrieb Krahulec die Zustände in der nordhessischen Erziehungsanstalt Breitenau. Verantwortlich für die Unmenschlichkeit der „Fürsorgeerziehung“ der dort in den 1950er- und 1960er-Jahren inhaftierten Mädchen zeichnete die Direktorin Ingeborg Jungermann. Am Umgang mit den Heiminsassen entzündete sich 1969 die von der Journalistin Ulrike Meinhof sowie Andreas Bader und Gudrun Ensslin initiierte „Heimkampagne“. Mit der Existenz der Heime und den dort praktizierten, bis dato nicht sanktionierten Menschenrechtsverletzungen sah Meinhof ihre These vom Fortleben faschistoider Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland bestätigt. Pädagogen und Erziehern komme, so Krahulec am Ende seines Beitrages, eine wesentliche Rolle im Umgang mit der Vergangenheit sowie in Demokratisierungsprozessen zu. Auf den Umgang mit Segregration bezogen, bestünde das Prinzip Hoffnung (Bloch) in der Anerkennung und Inklusion von Differenz.

2006 lieferte der Spiegelautor PETER WENSIERSKI (Hamburg) mit seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ eine Zustandsbeschreibung der Situation westdeutscher Heimkinder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“, so der Untertitel des Buches, war auch Thema seines Tagungsbeitrages. Dabei ging Peter Wensierski der Frage nach, „wie westdeutsche Heimkinder das pädagogische Nachspiel des ‚Dritten Reiches’ erlebten“. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebten Wensierski zufolge nur 10 Prozent aller Kinder in ‚intakten‘ Familien. Um „Zucht“ und „Ordnung“ dennoch garantieren zu können, setzten Politik und Gesellschaft im Kampf gegen „Kinderfehler“ wie Nägelkauen, Bettnässen, Stottern und unangepasstes Äußeres auf die Heimerziehung. In den 1960er-Jahren hielten über 200 Heime, überwiegend in kirchlicher Hand, 200.000 Plätze für „Problemjugendliche“ vor. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1945 und 1975 insgesamt 500.000 bis eine Million Kinder diese Heime durchliefen. Von der evangelischen und katholischen Kirche in Nordwestdeutschland unterhaltene ’Arbeitslager’ setzten Kinder und Jugendliche zum Torfabbau ein. Lückenlose Kontrolle, allgegenwärtige Schikane und Misshandlungen waren in nahezu allen Heimen an der Tagesordnung.

Wie bereits Krahulec ging auch Wensierski auf die Anstalt Breitenau als Ort der Exklusion von Jugendlichen ein. Die erst 1973 geschlossene Breitenauer Anstalt verfügt über eine lange Geschichte des Wegsperrens, schon im 19. Jahrhundert war in dem ehemaligen Benediktinerkloster Breitenau in Guxhagen südlich von Kassel ein Arbeitshaus für Bettler und Landstreicher eingerichtet worden. In der NS-Zeit diente die Einrichtung kurzzeitig als KZ, ab 1940 waren in der früheren Korrektionsanstalt ausländische Zwangsarbeiter sowie deutsche Frauen und Jüdinnen zur „Arbeitserziehung“ eingesperrt. 2

Ab 1950 wurden in dem ehemaligen „Arbeitserziehungslager“ Breitenau „verwahrloste“ Mädchen untergebracht. Die folgenschweren Auswirkungen des „pädagogischen Nachspiels“ der NS-Zeit auf die Heimkinder veranschaulichten die vom Referenten aus seinem Buch „Schläge im Namen des Herren“ exemplarisch ausgewählten Berichte der Breitenauer Fürsorgezöglinge Monika Rode und Helga Weber. In den quälenden Erinnerungen beider Mädchen – ein Gedicht von Erika Rode heißt bezeichnenderweise „Narben“ – spielt der Ort des „Besinnungsstübchen“ im Turm eine zentrale Rolle.3

Die Praxis der Heimerziehung fügt sich nahtlos in das Bild einer Gesellschaft ein, die jegliche Form kindlicher „Abweichung“ und jugendlichen Protestverhaltens auch nach dem Zweiten Weltkrieg streng sanktionierte. Wensierski schloss seinen mit aussagekräftigen Bildern gewinnbringend unterlegten Vortrag mit dem Hinweis auf die Tatsache ab, dass das bereits von Peter Krahulec vorgestellte Machwerk von Johanna Haara in veränderter Form noch 1983 unter dem Titel „Unsere kleinen Kinder“ das letzte Mal verlegt wurde.

Reagiert die Gesellschaft mit ihren Reaktionsmustern „Ausstoßen und entwerten“ wie die Täter? Dieser unbequemen Frage ging der ärztliche Leiter des LKH Moringen Martin Schott nach und stellte, wie schon in seiner Begrüßungsansprache, aktuelle Beispiele in den Mittelpunkt seiner psychoanalytisch orientierten Ausführungen über den Drang, wegzusperren.4 Gesellschaftliche Mythen über psychisch kranke Straftäter speisten sich unter anderem aus einer trotz sinkender Zahlen bei verschiedenen Straftaten steigenden Kriminalitätsfurcht, die durch eine zunehmende mediale Berichterstattung über Straftaten forciert wird. Als neuer „innerer Feind“ scheine der Gewalttäter geeignet, von sozialen Verwerfungen abzulenken. Der Ausbau von Gefängnissen zu Lasten des Offenen Vollzugs oder sozialtherapeutischer Anstalten seien, so Schott, sichtbarer Ausdruck einer Zielvorstellung, die statt auf Resozialisierung auf eine Verschärfung von Strafmaßnahmen und Maßregelvollzug setze. Mit der Forderung nach immer mehr Kontrolle und Überwachung von „Risikogruppen“ näherte sich die Gesellschaft der von David Garland, Professor für Jura und Soziologie an der New Yorker Universität School for Law beschriebenen „kriminalitätsfixierten Kultur“ an. In einer solchen Kultur würden Kontrolle, Restriktion und Regulation zu zentralen Schlüsselbegriffen. 5

Kriminalität und Strafe spielten aber nicht nur im realen Leben eine Rolle, sondern auch in den Phantasien der gesetzestreuen „normalen“ Menschen. Vor allem beim medialen Konsum von Verbrechen würden die unbewusst erfolgte Identifikation mit dem Bösen und die daraus resultierenden Schuldgefühle durch die „gerechte“ Bestrafung des Täters kompensiert. Ängste vor krimineller Bedrohung könnten aber auch eigene Ängste zum Beispiel vor dem Verlust einer gesicherten Existenz oder Umweltgefahren kaschieren.

Der verstärkte Drang nach Strafe könne aber nicht nur einer Verschiebung von Ängsten dienen, sondern möglicherweise auch unbewusst sadistische Wurzeln haben. Während die Entwicklungspsychologie oralen und analen Sadismus als typische Kleinkindphasen kennt, deren aggressive Triebäußerungen später bei normalem Verlauf sublimiert werden, können bei Störungen dieser Entwicklungsphase Zwangshaltungen, neurotische Abwehr und Sadismus in seinen verschiedenen Formen entstehen. In der Forderung nach der Todesstrafe oder dem lebenslangen Wegschließen sieht der Referent schließlich Auswirkungen der von Herbert Marcuse in „Triebstruktur und Gesellschaft“ aufgegriffenen Freudschen Theorie vom Todestrieb. Für Sicherheit vor Therapie sprechen sich mittlerweile nicht nur zahlreiche Bürgerinitiativen aus: Long-Stay-Einrichtungen wie die im holländischen Veldzicht verzichten gänzlich auf Therapie.

Die von einer Teilnehmerin der sich anschließenden Diskussion zitierten Zeilen eines russischen Dichters bildeten – eher ungeplant, aber zutreffend – ein mahnendes Schlusswort der Tagung: Sklaven wollen nicht das Sklavendasein aufgeben, sondern selber Sklaven haben!

Kurzübersicht:

Prof. Dr. Wolfgang Wippermann: „Arbeit macht frei“. Moringen und die Vorläufer und Strukturen des KZ-Systems.

Cornelia Meyer (MA): Abschreckung, Besserung, Unschädlichmachung“. Disziplinierung gesellschaftlicher Randgruppen im Werkhaus Moringen (1871-1944).

Dipl. soz. Doreen Müller: „Orte des Ausnahmezustandes“ – MigrantInnenlager in der Bundesrepublik.

Dr. Tobias Müller-Monning: Strafvollzug und Menschenwürde.
„Ich werde nicht den ersten Stein aufheben“. Briefe von Hanna Vogt aus dem KZ Moringen. Gelesen von der Schauspielerin Katharina Merschel.

Prof. Dr. Günter Tondorf: Hände weg vom Jugendstrafvollzug.

Thomas Harms: Die Krise des Jugendstrafvollzuges.

Prof. Dr. Peter Krahulec: Ulrike Meinhof vor den Toren: Braunes Erbe und neue Anfänge in der Jugendhilfe.

Peter Wensierski: Wie westdeutsche Heimkinder das pädagogische Nachspiel des „Dritten Reiches“ erlebten.

Dr. Martin Schott: Ausstoßen und entwerten – reagiert die Gesellschaft wie die Täter? Gesellschaftliche Mythen über psychisch kranke Straftäter.

Anmerkungen:
1 Vgl. Meyer, Cornelia, Das Werkhaus Moringen. Die Disziplinierung gesellschaftlicher Randgruppen in einer Arbeitsanstalt (1871-1944) (=Moringer Hefte. Veröffentlichungen zur Geschichte des Nationalsozialismus in Südniedersachsen, 1), Moringen 2004.
2 Vgl. Doerry, Martin, Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944, München 2005, S. 164f.
3 Vgl. Wensierski, Peter, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2007, S. 187f.
4 Vgl. Schott, Martin, Sadismus oder Angst. Psychoanalytische Gedanken über den Drang, wegzusperren, in: Rode, Irmgard; Kammeier, Hein; Leipert, Matthias (Hrsg.), Neue Lust auf Strafen. Münster 2005, S. 67-84.
5 Garland, David, Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society. Oxford University Press 2001.


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