Massentötungen durch Giftgas in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung

Massentötungen durch Giftgas in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung

Organisatoren
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Institut für Zeitgeschichte, Wien
Ort
Oranienburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.05.2008 - 18.05.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Irmer, Berlin

Mit der internationalen wissenschaftlichen Tagung sollte 25 Jahre nach dem Erscheinen des von den KZ-Überlebenden Eugen Kogon und Hermann Langbein sowie dem damaligen Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg, Adalbert Rückerl, herausgegeben Standardwerks "Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas" eine Zwischenbilanz der historischen Forschung gezogen werden. Unter den Teilnehmern befand sich auch der Mauthausen-Überlebende Pierre Serge Choumoff, der zur Gruppe der 21 Autoren des Bandes gehörte. Ein weiteres Ziel der Tagung war es, wie es in der Ankündigung hieß, „Intentionen und Strukturen der revisionistischen Kampagnen im internationalen Vergleich aufzuzeigen und Gegenstrategien zu entwickeln“.

Die auf Initiative der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und des Wiener Instituts für Zeitgeschichte organisierte dreitägige Tagung wurde in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und dem Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, der Fondation pour la Mémoire de la Déportation, Paris und dem österreichischen Bundesministerium für Inneres durchgeführt. In sechs Panels bot das ambitionierte Tagungsprogramm einen sehr guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und ihre offenen Fragen. Beim Blick auf die Mord-Methoden wurde ein Bogen geschlagen von den Tötungsanstalten der Euthanasie-„Aktion T 4“ über Vernichtungslager wie Chelmo, der „Aktion Reinhardt“ und von Auschwitz bis hin zur Rolle, die Gasmorde in den Konzentrationslagern im Altreich einnahmen. Außerdem wurden technische und pharmakologische Aspekte des Massenmords behandelt. Die Tagungsbeiträge werden in einem Sammelband veröffentlicht.

Das große Interesse an den Themen der Tagung verdeutlichten auch die mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie anderen Interessierten, die an der Eröffnungsveranstaltung im Auditorium der Französischen Botschaft am Pariser Platz teilnahmen.

In seinem Eröffnungsvortrag stellte RICHARD J. EVANS (Cambridge) auf der Grundlage eines Vergleichs unter anderem zur Verfolgungspraxis der Sowjetunion gegenüber nationalen Minderheiten bis 1939 heraus, dass die Einzigartigkeit des Holocaust vor allem in dem einzigartigen Judenhass zu sehen sei. Der spezifische NS-Antisemitismus, Juden zum Weltfeind zu erklären, führte zu der den Massenmord kennzeichnenden sadistischen Gewalttätigkeit, die alle Methoden des Tötens miteinander verbindet. Evans warnte jedoch vor einer Verengung des Blicks auf Massentötungen durch Giftgas, die aufgrund ihrer Einzigartigkeit die Aufmerksamkeit der Nachwelt auf sich ziehen. Die Rede von der „fabrikmäßigen Massenvernichtung“ oder „Todesfabriken“ sei irreführend, weil diese Methode des Massenmords nur eine Methode des Mordens und die Vernichtung nicht etwas Mechanisches war. Sie war brutal und die Tötungsmethoden waren alles andere als technisch hochentwickelt oder reibungslos. Der Massenmord war kein unpersönlicher Vorgang, sondern die Erfüllung eines lang gehegten Judenhasses.

MOSHE ZIMMERMANN (Jerusalem) befasste sich in seinem Auftaktvortrag mit der Bedeutung, die der Massenmord durch Giftgas in der Wahrnehmung jüdischer Überlebender in Israel einnimmt. Dabei zeigte er auf, dass im kollektiven Bewusstsein von Juden die Verbrennung und nicht Vergasung für das Einzigartige der Shoah und alle Tötungsmethoden verbindend steht. Dennoch sind, wie er anhand von verschiedenen Beispielen aus politischen Auseinandersetzungen deutlich machte, Traumata im Zusammenhang mit Giftgas tief verankert und jederzeit abrufbar.

Im ersten Panel über den Forschungsstand wiesen BERTRAND PERZ (Wien) und GÜNTER MORSCH (Oranienburg) unter anderem auf die Versäumnisse der historischen Forschung hin, die sich erst seit der Öffnung der sowjetischen Archive verstärkt mit der Untersuchung der Tötungsverfahren befasse. Bis dahin kamen Anstöße vor allem von Nicht-Historikern wie Ernst Klee. Perz erinnerte auch an die Verdienste des verstorbenen französischen Forschers und Außenseiters Jean-Claude Pressac.

Die Geschichte von Tötungsanstalten der „Aktion T4“ wie Grafeneck, Pirna Sonnenstein, Hartheim und Bernburg standen im Mittelpunkt der Beiträge des zweiten Panels. ASTRID LEY (Oranienburg) stellte heraus, dass eine „Probevergasung“ mit Kohlenmonoxid in Brandenburg/Havel für die Auswahl der Tötungsmethode der „Euthanasie“-Morde von zentraler Bedeutung war. DIETMAR SCHULZE (Frankfurt am Main) wies auf den Transfer von Personal der „Aktion T 4“ in die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ hin. Allein in den Tötungsanstalten Pirna und Bernburg waren etwa 105 bzw. 130 Personen an den jeweiligen Mordaktionen beteiligt, von denen eine noch unbekannte Anzahl dann in den Vernichtungslagern im Osten eingesetzt wurde.

Die Beiträge des dritten Panels befassten sich mit technischen und pharmakologischen Aspekten des Massenmords mit Giftgas. Es machte die Bedeutung des interdisziplinären Austausches der historischen Forschung mit den Technik- und Naturwissenschaften deutlich. Anhand einer detaillierten Analyse der Wirkungsweise von Kohlenmonoxid und Zyklon B zeigte etwa ACHIM TRUNK (Köln), dass die Analyse der pharmakologischen und toxikologischen Grundlagen der Giftgasmorde neben der Auseinandersetzung mit Holocaust-Leugnern auch Informationen über Motivation der Täter und eine Annäherung an die Leiden der Opfern liefern kann. UDO WIESMANN (Berlin) verdeutlichte in einem verfahrenstechnischen Vergleich der anfangs in Holzbaracken und später in Steingebäuden errichteten Gaskammern der „Aktion Reinhardt“, wie versucht wurde, die Mordmethoden zu effektivieren. CLAUDIA THEUNE-VOGT (Wien) befasste sich anhand von Grabungsbeispielen an historischen Orten in Dachau, Sachsenhausen, Sobibor und Belzec mit den Möglichkeiten und Grenzen der archäologischen Forschung. Wichtig wären gezielte Forschungsgrabungen an historischen Orten, die nicht so stark überbaut seien.

Zum Auftakt des vierten Panels stellte PETER KLEIN (Hamburg) seine neuesten Forschungen zur Massentötung durch Giftgas im Vernichtungslager Chelmno vor. Klein datiert den Entscheidungsprozess zum Einsatz von Giftgas und zeigte, wie sich dort eine lokale Initiative mit der Zustimmung Hitlers gegen die Planung zentraler Instanzen durchsetzte. In einer Bilanz der Forschung über die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ wies DIETER POHL (München) daraufhin, dass die jüngere Forschung den Kenntnisstand zwar nicht grundsätzlich verändere, aber wichtige neue Einzelheiten liefere. Lange war beispielsweise unbekannt, dass es in den Vernichtungslagern mehrere Revolten gab. MICHAEL THAD ALLEN (Atlanta) plädierte dafür, Auschwitz anders als bei den Studien von Christopher Browning, Götz Aly und Peter Longerich stärker als „Zentralinstitution des Holocaust“ im Prozess der Massenvernichtung in den 1940er-Jahren zu betrachten. TOMASZ KRANZ (Lublin) wies auf Zusammenhänge zur den „Euthanasie-Morden“ hin. Bei den zwei mit Kohlenmonoxid bzw. Zyklon B betriebenen Gaskammern des KZ Majdanek wurden Gasflaschen verwendet, die aus dem Bestand der „Aktion T 4“ stammten.

Die Beiträge des fünften Panels befassten sich mit Gaskammern in den Konzentrationslagern auf dem Gebiet des Altreichs, in Stutthof und Natzweiler. Deutlich wurde, dass auch in den meisten dieser Lager mit Giftgas gemordet wurde, aber in einem weitaus geringeren Umfang als im besetzten Osteuropa. Im Altreich erfolgte der Einsatz von Giftgas auch teilweise zu „Testzwecken“ wie in Sachsenhausen oder für die naturwissenschaftliche Kampfstoff-Forschung wie im Fall von Natzweiler. In Neuengamme wurden zweimal sowjetische Kriegsgefangene in einem Bunker mit Zyklon B erstickt. Auffällig in Mauthausen, so BERTRAND PERZ und FLORIAN FREUND (beide Wien), seien ein sehr früher Einsatz von Zyklon B und ein Nebeneinander verschiedener Tötungsmethoden mit einem Gaswagen und einer Gaskammer. Anfang 1945 sollten außerdem zwei Großkrematorien aus Auschwitz nach Mauthausen verlegt werden. Möglicherweise habe es sich bei Gaskammer in der „Station Z“ auf dem so genannten Industriehof des KZ Sachsenhausen um eine Modellanlage gehandelt, eine „Gaskammer der dritten Generation“, mit der versucht worden sei, Zyklon B aus Patentschutzgründen zu ersetzen, so GÜNTER MORSCH (Oranienburg). In der Gaskammer des KZ Ravensbrück seien BERNHARD STREBEL (Hannover) zufolge Anfang 1945 schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Menschen ermordet worden.

In Panel 6 analysierte ROBERT JAN VAN PELT (Ontario) die Strategien von Holocaust-Leugnern und zeigte vor dem Hintergrund von bisherigen Erfahrungen erfolgreiche, offensive Wege zu ihrer Bekämpfung auf. „We are under attack“, so van Pelt. Holocaust-Leugner griffen weniger die Fakten an, sondern versuchten vielmehr, einzelne Beweise anzuzweifeln, um so das Ganze in Frage zustellen. Dagegen könnten Historiker auch die Forschungen im Detail setzen. Eine neue Aufgabe stelle außerdem die Auseinandersetzung mit der Holocaust-Leugnung im Nahen Osten dar.

In der die Tagung abschließenden Podiumsdiskussion zu internationalen Tendenzen der Holocaust-Leugnung, gut und gerne Thema für eine eigene wissenschaftliche Konferenz, vermittelten die Diskutanten einen Einblick über aktuelle Entwicklungen in West- und Osteuropa, Nordamerika und dem Nahen Osten. Betont wurde dabei unter anderem, dass Antisemitismus in allen politischen Lagern von links bis rechts feststellbar sei. Außerdem wurde deutlich, dass es bei dem international auftretenden Phänomen der Holocaust-Leugnung nationale Unterschiede gibt.

In seinem Abschlussstatement schloss sich REINHARD RÜRUP (Berlin) der Auffassung von Richard Evans an, dass die Auseinandersetzung mit Holocaust-Leugnern auch weiterhin keine allgemeine Aufgabe der Wissenschaft sein kann. Dennoch seien Spezialisten notwendig. Holocaust-Leugnung und Antisemitismus könne die Wissenschaft am besten den Nährboden entziehen, indem sie zur Stabilisierung einer liberalen Demokratie beiträgt.

Es ist ein Verdienst der Konferenz und ihrer Organisatoren, das Thema der Massentötung mit Giftgas durch eine gebündelte Zusammensicht der verschiedenen Mordaktionen stärker in den Fokus des wissenschaftlichen Diskurses gerückt zu haben. Deutlich wurde, dass es nicht darum gehen kann, sich mit dem Thema hauptsächlich im Rahmen eines Abwehrkampfes gegen Holocaust-Leugner zu befassen. Vielmehr müssen auch die Formen des Massenmords als ein zentrales Wesensmerkmal des Nationalsozialismus und seines spezifischen Vernichtungswillens betracht werden. Sie geben zudem Aufschluss über die Entscheidungsprozesse, die in Auschwitz mündeten. Die auf der Konferenz stark vertretene jüngere Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kann sich dem Thema der Methoden des Massenmords offenbar etwas unbefangener nähern.

Kurzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Richard Evans: Die Einzigartigkeit der "Endlösung"

Auftaktvortrag
Moshe Zimmermann: Massenmord durch Giftgas in der Wahrnehmung von Überlebenden

Panel 1: Massenmord durch Giftgas. Zum Forschungsstand
Referenten: Günter Morsch, Bertrand Perz

Panel 2: Die Tötungsanstalten der "Aktion T4"
Astrid Ley: Massentötung durch Kohlenmonoxyd. Die "Erfindung" einer Massentötungstechnik: Die "Probevergasung" in Brandenburg/Havel
Thomas Stöckle: Planung und Aufbau des frühen Vernichtungszentrums in Grafeneck - Der Aufbau einer Vernichtungsanstalt. Versuch einer Chronologie
Boris Böhm: Errichtung und Demontage der Vernichtungsanlagen auf dem Sonnenstein und die Wahrnehmung der "Aktion 14f13“ durch KZ-Häftlinge Pirna Sonnenstein
Florian Schwanninger: Grabungen und Funde am authentischen Ort Schloß Hartheim
Ute Hoffmann: Die Bauarchäologie der Vernichtungsanlage in der Tötungsanstalt Bernburg
Dietmar Schulze: Der Personaltransfer von der „Aktion T 4“ in die Vernichtungslager im Osten

Panel 3: Massenmorde durch Giftgas. Technische und pharmakologische Aspekte
Achim Trunk: Zur Toxikologie der nationalsozialistischen Massenmorde mit Giftgas
Udo Wiesmann: Technische Aspekte der Massenvernichtung von Menschen in Gaskammern nationalsozialistischer Konzentrationslager
Claudia Theune-Vogt: Gewalt und Tod in Konzentrationslagern. Möglichkeiten und Grenzen
archäologischer Quellen in der Forschung

Panel 4: Massenmord durch Gas in den Vernichtungslagern
Peter Klein: Massentötung durch Giftgas im Vernichtungslager Chelmno
Dieter Pohl: Massentötungen durch Giftgas im Rahmen der "Aktion Reinhardt"
Michael Allen: Das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau
Tomasz Kranz: Zur Vernichtung durch Giftgas im Konzentrationslager Majdanek

Panel 5: Gaskammern in den Konzentrationslagern auf dem Gebiet des "Altreichs", in Stutthof und Natzweiler
Bertrand Perz/Florian Freund: KZ Mauthausen
Günter Morsch: Massentötungen durch Giftgas im Konzentrationslager Sachsenhausen
Bernhard Strebel: Die Gaskammer im Konzentrationslager Ravensbrück Anfang 1945
Reimer Möller: KZ Neuengamme
Marek Orski: KZ Stutthof
Barbara Distel: KZ Dachau
Florian Schmaltz: Die Gaskammer im KZ Struthof-Natzweiler: Eine Experimentalanlage der Vernichtungswissenschaft?

Abendveranstaltung: Der Umgang der Medien mit dem Thema Massenmord durch Gas im Nationalsozialismus an Film-Beispielen
mit Gertrud Koch (Berlin) und Loretta Walz (Moderation)

Panel 6: Die "Gaskammer-Lüge" in der internationalen revisionistischen Propaganda
Referent: Robert Jan van Pelt

Podiumsdiskussion: Die "Gaskammer-Lüge" in der internationalen revisionistischen Propaganda mit: Brigitte Bailer-Gailanda, Serge Choumoff, Hajo Funke, Therkel Straede, Moshe Zimmermann, Thomas Skelton-Robinson, András Kovács und Frank Jansen (Moderation)
Abschlussstatement: Reinhard Rürup (Berlin)


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