Kultur, Gesellschaft und Politik im Wandel – Niedersachsen in der Umbruchszeit 1965-1975

Kultur, Gesellschaft und Politik im Wandel – Niedersachsen in der Umbruchszeit 1965-1975

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.02.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Rund 50 Teilnehmer konnten am 16. Februar 2008 bei der 19. Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Historischen Museum Hannover begrüßt werden. Die Tagung widmete sich dem Thema „Kultur, Gesellschaft und Politik im Wandel – Niedersachsen in der Umbruchszeit 1965-1975“. Die Dokumentation der Vorträge erfolgt anhand der von den Referenten dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Abstracts.

THOMAS ETZEMÜLLER (Oldenburg) gab unter dem Titel „Kein Riss in der Geschichte“ zur Einführung in die Thematik einen historischen Abriss. Nach wie vor gilt „1968“ vielen Beobachtern als eine klare Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, als Übergang von der „restaurativen“ Adenauer-Zeit zu einer liberalen westlichen Demokratie. In der Forschung gewinnt dagegen ein neues Bild Konturen. Zum ersten gerät die Phase von den (späten) 1950er-Jahren bis weit in die 1970er-Jahre als eine Einheit in den Blick. In diesen Jahren durchliefen die westlichen Gesellschaften die fundamentale Transformation zu dem, was uns heute als moderne, liberal-demokratische Konsumgesellschaft so geläufig ist. Dieser Wandel kann nicht unterschätzt werden, und es gibt gute Gründe, „1968” als integralen Teil dieser Transformation zu deuten.
Zum zweiten wird der transnationale Charakter der 68er-Ereignisse anders diskutiert. Sie werden nicht mehr als eine — wenn auch gescheiterte — globale Revolution beschrieben, sondern als ein transnationales Kommunikationsereignis untersucht. Interessant ist die Frage, wie die einzelnen 68er-Bewegungen einen transnationalen Handlungszusammenhang bildeten, während sie gleichzeitig durch nationale Besonderheiten geprägt waren. „1968” wird also analysiert als Teil eines Strukturwandels in der westlichen Welt, als Katalysator, der diesen Wandel vorantreiben half, und zugleich als Chiffre, diesen Wandel zu deuten; und in dieser Perspektive erscheint „1968“ weniger als spezifisch bundesdeutsche Zäsur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbrüche in der gesamten westlichen Welt.

RAJAH SCHEEPERS (Berlin/Hannover) stellte in ihrem Vortrag „Umbrüche in den Konzeptionen von Mütterlichkeit in der weiblichen Diakonie in den 1960er-Jahren“ die Weichenstellungen und Herausforderungen für die evangelische Kirche nach 1945 fokussiert auf die langen 1960er-Jahre mit Blick auf die Geschlechterpolitik dar. Wurde Frauen noch vor Beginn der Reformbemühungen die Möglichkeit einer Vereinbarkeit von Familie und entlohnter Berufstätigkeit verweigert, indem in der Kirche tätige Frauen, sei es als Diakonisse, Gemeindehelferin oder Vikarin (später Pfarrerin), ihr Amt verloren, sobald sie heirateten und/oder Mutter wurden, setzte hier ein Wandlungsprozess ein, der schließlich zur vollen Gleichstellung der Frau im (Pfarr-)Amt führte.
Scheepers stellte dar, wie die evangelische Kirche versuchte, diesen Prozess aufzuhalten. Als Beispiel wählte sie die Diakonissen, die die Ambivalenz zwischen „mütterlich-sein“ und untersagter Mutterschaft verdeutlichen: Sie lebten im Mutterhaus, sollten ein mütterliches Wesen haben, während sie aber gleichzeitig qua Amt nie biologische Mutter werden durften. Anhand der Schwesternschaft des Diakonissen-Mutterhauses der Henriettenstiftung in Hannover zeigte Scheepers eine gendered society, in der nur für das eine Geschlecht galt: entweder Hingabe an die geistige Familie oder an eine eigene Familie. Dabei konnte sie auf die Personalakten der Schwestern, lebensgeschichtliche Interviews und bisher unveröffentlichte Archivalien der Stiftung zurückgreifen.
Die skizzierte Gegenüberstellung büßte nach 1945 zunehmend an Plausibilität ein, als berufstätige Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft tätig werden konnten, ohne dafür den Preis der Ehe- und Kinderlosigkeit zahlen zu müssen. Die Mutterhausdiakonie war durch diese Entwicklungen einem starken Zwang zur Modernisierung ausgesetzt. Tatsächlich kam es Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre zu tief greifenden Reformen, die allerdings zu spät erfolgten, als dass sie die Erosion der Mutterhausdiakonie hätten aufhalten können.

ANNA BERLIT-SCHWIGON (Minden) setzte sich mit der „Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Hannover“ auseinander. Ausgehend von der Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Entwicklungen der späten 1960er-Jahre, gemeinhin zusammengefasst unter der Chiffre 1968, konkret vor Ort, also regionalhistorisch zu erforschen, schilderte Berlit-Schwigon die im Rahmen ihrer Magisterarbeit bearbeitete Studentenbewegung in Hannover. Hannover stellte, vor allem aufgrund der verstärkt ingenieurswissenschaftlichen Orientierung der Hochschule, im Vergleich zu den Epizentren der Revolte, Frankfurt am Main und West-Berlin, zunächst eher die politische Provinz dar. Ab Juni 1967, konkret nach dem Tod des gebürtigen Hannoveraners Benno Ohnesorg, wurden allerdings in der niedersächsischen Hauptstadt für die bundesweite Studentenbewegung typische sozialistische Gruppen (Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS), Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB)) und der Club Voltaire aktiv, die in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und der Hochschulpolitik wesentliche Proteststrukturen wie sit-ins und Demonstrationen etablierten. Inhaltlich setzten sich die Aktivisten mit den Notstandsgesetzen, dem Vietnamkrieg bzw. der Rolle weiterer Staaten der Peripherie und mit der Rolle tendenziöser Massenmedien in der Öffentlichkeit auseinander.
Der Höhepunkt der Aktionen vor Ort war ohne Zweifel die bundesweit bekannte Rote-Punkt-Aktion im Juni 1969, eine fantasievolle Kampagne der Studentenbewegung gegen eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr, die durch die solidarische Organisation des Rote-Punkt-Verkehrs nahezu aller hannoverscher Bürger auch nach der Einstellung des Nahverkehrs das erwartete Chaos nicht ausbrechen ließ. Der Protest in Hannover war sicher weniger laut als in West-Berlin, aber genauso effektiv: die damaligen Veränderungen in Richtung Demokratisierung haben Hannover bis heute geprägt.

WOLF-DIETER MECHLER (Hannover) ging dem Verhältnis von „Außerparlamentarischen Aktionen und Stadtentwicklung“ nach. Die außerparlamentarische Opposition endete nicht mit Auflösung des SDS 1970, sondern besetzte neue Themen und verlegte die Aktionsfelder in den kommunalen Sektor. Gleichzeitig blieben die politischen Rahmenbedingungen in der Stadt Hannover mit einer SPD-Alleinregierung konstant. Gewohnt, Fortschritte der Stadtentwicklung im Rathaus zu planen und in der Stadtgesellschaft umzusetzen, hatte die Stadtpolitik große Schwierigkeiten, von Teilen der Einwohnerschaft formulierte Bedürfnisse und Ansprüche zu akzeptieren. Hausbesetzungen gegen spekulativen Leerstand und geplanten Abriss, die Forderungen nach unabhängigen Jugendzentren und einer anderen Linie bei der begonnenen Sanierungspolitik im Stadtteil Linden führten zu außerparlamentarischen Aktionen mit Rechtsbrüchen und praktizierten Elementen von direkter Demokratie.
Besonderes Gewicht hatte die Auseinandersetzung um die Sanierung in Linden-Süd zwischen 1972 und 1974. Die Stadtpolitik musste lernen, dass die Renovierung und Erhöhung des vorhandenen Wohnwerts unter Beibehaltung der Miet- und Mieterstrukturen vor Abriss und Neubau und den damit verbundenen sozialen Veränderungen der Bewohnerschaft und des gesamten Stadtteils im allgemeinen Interesse lag und deshalb eine Korrektur der Stadtentwicklungsplanung unumgänglich wurde. Dass mit Hausbesetzern Mietverträge geschlossen wurden, unabhängige Jugendzentren nach einiger Zeit öffentlich gefördert wurden und die Sanierung sogar zum Modell für Europa avancierte, zeigt den Einfluss, den außerparlamentarische Aktionen auf die Stadtentwicklung in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre ausübten und beweist zugleich die Lernfähigkeit des politischen Systems.

MANFRED GRIEGER (Wolfsburg) thematisierte in seinem Vortrag „Von Nordhoff zu Schmücker: Der neue Geist aus Produktinnovation und Mitbestimmungsmodernisierung im Volkswagenwerk 1968-1976“ den Übergang des Symbolunternehmens des deutschen Wirtschaftswunders in die sozialliberale Modernität der mittleren Bundesrepublik. Am Beispiel des Volkswagenwerks prüfte Grieger anhand der ersten Äußerungen der zwischen 1968 und 1975 in rascher Folge wechselnden Vorstandsvorsitzenden vor dem Vorstand, dem Aufsichtsrat, vor den Betriebsräten und Leitenden Angestellten, vor der Belegschaft und zu den Aktionären das von den französischen Sozialwissenschaftlern Luc Boltanski und Ève Chiapello entwickelte Theorem, wonach zwischen 1960 und 1990 der „neue Geist“ zur Neuerfindung des Kapitalismus durch Übergang zum Netzwerkkapitalismus geführt habe.
Der Tod Heinrich Nordhoffs machte im April 1968 den Weg frei für eine Erneuerung der Modellpalette und zur Überwindung des betrieblichen Sozialpaternalismus. Allerdings führte kein gerader Weg vom Käfer-Zeitalter in die Golf-Ära. Kurt Lotz war die Haltung seines Vorgängers Nordhoff gleichsam zur zweiten Haut geworden, so dass der ambivalenten Erneuerung zwischen 1968 und 1971 ein hohes Erstarrungspotential inne wohnte. Rudolf Leiding, der Lotz 1971 ablöste, brachte dem Unternehmen beschleunigt ein neues Modellprogramm mit wassergekühlten Motoren und Vorderradantrieb, ohne dass der Präsentation von Passat 1973 und Scirocco und Golf 1974 eine innovative Anpassung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen an das sozialliberale Zeitalter gefolgt wäre. Es war Toni Schmücker nach 1975 vorbehalten, die technische Modernisierung durch eine Erweiterung der Mitbestimmung zu flankieren. Er wusste die Schrumpfung des Unternehmens und den damit verbundenen Arbeitsplatzabbau durch eine gezielte Einbindung der Arbeitnehmervertreter und die IG Metall konsensual abzusichern.
Ein komplexes Zusammenspiel von retardierenden und innovativen Momenten machte Mitte der 1970er-Jahre aus dem Volkswagenwerk ein modernisiertes multinationales Unternehmen, das für den erfolgreichen Rheinischen Kapitalismus stand. Im Zeichen des Golf gelang durch erweiterte Mitbestimmung ein neuer Sozialkompromiss, der unternehmerische Verantwortung und die vordringliche soziale Sicherung der Inlandsbelegschaft zum gemeinsamen Anliegen machte. Damit öffneten sich die Belegschaftsvertreter einer ökonomischen Logik, die Beschäftigungssicherung durch Unternehmenswachstum und internationale Konkurrenzfähigkeit versprach. Auf der anderen Seite legten die Unternehmensleitungen seit den Mittsiebzigern ihre mentalen Vorbehalte gegen eine weit reichende Partizipation von Arbeitnehmervertretern ab. Im Ergebnis gewann das Unternehmen neben den Produktivitätsvorteilen der deutschen Mitbestimmung auch die Unterstützung großer Teile der Belegschaft für die stetig erforderlichen Anpassungsmaßnahmen.

CORNELIA RAUH-KÜHNE (Hannover) fragte in ihrem Kommentar, wie die Konstruktion von „1968“ zustande kommen konnte, wenn die Vorträge doch so höchst vielfältige Aspekte aufgezeigt haben. 1968 war eben nicht nur das Jahr der Studentenproteste in Berlin und Frankfurt oder des gesellschaftlichen Aufbruchs, es war auch das Jahr des Todes von Heinrich Nordhoff und der Reformbestrebungen des Kaiserswerther Verbands. Offensichtlich ist das Bild der gesellschaftlichen Veränderungen sehr stark von der medialen Vermittlung bestimmt, die Ende der 1960er-Jahre einen Bedeutungswandel durchmachte. Die Wahrnehmung des Wandlungsprozesses wurde davon wesentlich geprägt. Stärker noch als in den Vorträgen sollte der sozialökonomische Wandel ins Gesamtblickfeld einbezogen werden. Rauh-Kühne stellte die Frage: Inwieweit spielte die Erfahrung eines als kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwungs erlebten Fortschritts und gleichzeitig die Befürchtung, dass dieses Wirtschaftswunder ein Ende finden könnte, für die Motivierung des Protestes eine wichtige Rolle?

Indem sich die Tagung Aspekten einer Umbruchzeit abseits jener Zentren zuwandte, die gemeinhin mit „1968“ in Verbindung gebracht werden, gelang es, den Blick für die Vielfältigkeit der gesellschaftlichen Ereignisse zu erweitern. Ein Gesamtbild konnte so nicht vermittelt werden – das wollte die Tagung auch nicht – aber fruchtbare Anregungen für weitere Fragestellungen wurden sichtbar.

Konferenzübersicht:

Thomas Etzemüller (Oldenburg): Kein Riss in der Geschichte. Historische Skizze als einführender Beitrag
Rajah Scheepers (Berlin/Hannover): Umbrüche in den Konzeptionen von Mütterlichkeit in der weiblichen Diakonie in den 1960er-Jahren
Anna Berlit-Schwigon (Minden): Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Hannover
Wolf-Dieter Mechler (Hannover): Außerparlamentarische Aktionen und Stadtentwicklung
Manfred Grieger (Wolfsburg): Von Nordhoff zu Schmücker – Der neue Geist aus Produktinnovation und Mitbestimmungsmodernisierung im Volkswagenwerg 1968-1976
Cornelia Rauh-Kühne (Hannover): Kommentar