Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er- bis 1950er-Jahre

Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er- bis 1950er-Jahre

Organisatoren
Thomas Etzemüller, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Kronberg im Taunus
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.04.2008 - 12.04.2008
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Von
Martin Kindtner, Universität Tübingen

Die erste Hälfte des „kurzen“ zwanzigsten Jahrhunderts war vielfach geprägt durch die Erfahrung eines Verlustes von Ordnung und sozialer Kohäsion. In Reaktion auf diese Folgen der stürmisch voranschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung entwickelten sich in Europa verschiedene Ordnungspraktiken, die basierend auf wissenschaftlicher Expertise der Atomisierung der Gesellschaft entgegentreten und unter Anwendung sozialtechnischer Verfahren aufs Neue „Gemeinschaft“ stiften wollten. Die terroristischen Ordnungsentwürfe des Nationalsozialismus und Stalinismus stellen dabei in ihrer Absolutheit nur die augenfälligsten Extreme dar. Mit den alltäglicheren, weiter verbreiteten Formen von Ordnungsdenken und Ordnungspraxis in Nord- und Westeuropa beschäftigt sich ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstütztes Forschungsprojekt unter der Leitung von Thomas Etzemüller an der Universität Oldenburg, dessen erste Ergebnisse nun im Rahmen eines Workshops vorgestellt und diskutiert wurden.

Der Eröffnungsvortrag von ANSELM DOERING-MANTEUFFEL (Tübingen) situierte das Thema der Tagung im breiteren Kontext der Ordnungsparadigmen des zwanzigsten Jahrhunderts. Er skizzierte ein Ablaufmodell in drei sich teilweise überlappende Phasen, dem die verschiedenen Versuche, Ordnung als solche zu denken, zugeordnet werden können. Die erste Phase zwischen 1870 und 1940 sei bestimmt durch die Erschöpfung der liberalen Ideologie eines „Fortschritts mit humanem Maß“, die vor dem Hintergrund des aufkommenden Anti-Historismus zunehmend von einer negativen Einschätzung der historischen Prozessualität abgelöst wurde. Der Wunsch, aus dem „Zug der Zeit“ auszusteigen, weckte die Sehnsucht nach einer „neuen, ewigen Ordnung“, die von den entstehenden totalitären Systemen aufgegriffen wurde. Beginnend mit den 1930er-Jahren entwickelte sich ein zweites Ordnungsparadigma, das basierend auf dem Leitbegriff der „Modernisierung“ und unter den Auspizien des Fordismus erneut eine positive Aufladung der geschichtlichen Verlaufsform etablierte. Zweckrationale Planung gestaltete den Fortschritt als technokratisches Projekt innerhalb eines verbindlichen Rahmens, der eine feste soziale Ordnung garantieren sollte. Die zunehmende Erosion dieses Rahmens und der Wegfall der materiellen Grundlagen des fordistischen Gesellschaftsmodells im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre leitete schließlich zu einer dritten Phase des Ordnungsdenkens über, die Doering-Manteuffel unter Bezug auf Zygmunt Baumans „flüchtige Moderne“ und Manuel Castells „Netzwerkgesellschaft“ charakterisierte. Feste gesellschaftliche Strukturen werden entriegelt, individuelle Spielräume nehmen zu, während gesellschaftliche Ligaturen an Kraft verlieren. In Perspektive auf die Prozessualität von Geschichte zeichne sich diese Phase durch ein Schwinden der Zukunft hin auf das „hic et nunc“ aus, eine Entwicklung, die am Kollaps der Fortschrittssemantik aufgezeigt werden könne.

In der folgenden Diskussion fand das Modell der drei Phasen viel Zustimmung, jedoch wurde sowohl auf seinen vergleichsweise statischen Charakter, als auch auf seine möglicherweise regional begrenzte Reichweite hingewiesen. Zudem wurde angemerkt, dass diese Ordnungsparadigmen nicht nur in den Köpfen und Büchern, sondern auch in fixen, sozialwissenschaftlich beschreibbaren Strukturen ihren Niederschlag fanden. Besonders dieser letzte Aspekt, die Frage nach den komplexen Interaktionen von Ideen und sozialen Strukturen, sollte im Verlauf der Tagung immer wieder thematisiert und auch kontrovers diskutiert werden.

Der erste Teil der Tagung begann mit einer Vorstellung des Oldenburger Forschungsprojekts „Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne“ durch THOMAS ETZEMÜLLER. Neben Kulturpessimismus und Avant-Garde stellte das „social engineering“ eine dritte, wirkmächtige Reaktion auf die Herausforderung der industriellen Moderne dar. Im Versuch, deren Nebenfolgen zu überwinden, wandte es technisch-wissenschaftliche Mittel an, die selbst als spezifisch modern gelten können. Unabhängig von konkreten politischen Systemen entwickelte das social engineering im Rahmen der „ersten Moderne“ zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1960er-Jahren seine Wirksamkeit im gesamten europäisch-amerikanischen Raum. In drei Teilprojekten werden Manifestationen dieser Sozialtechniken in Deutschland, Großbritannien und Schweden mit Blick auf die Ordnung des Wohn-, des Verkehrs- und des Fabrikraums untersucht. Dabei gilt die Aufmerksamkeit besonders den „Experten der zweiten und dritten Reihe“ in den zahllosen Funktions- und Planungsämtern. Ihr Ordnungsdenken war geprägt von der Wahrnehmung der dringenden Notwendigkeit, aber auch der Möglichkeit, des Eingriffs in gesellschaftliche Prozesse, um der zunehmenden Atomisierung des Sozialen Einhalt zu gebieten und eine neue, organisch gedachte Reintegration als „Gemeinschaft“ zu gewährleisten. Der Zugriff auf den Gesellschaftskörper erfolgte durch konkrete technische und bio-politische Maßnahmen, die besonders durch Verfahren der Raumordnung einen – in der Terminologie Michel Foucaults – „normalisierenden“ Effekt auf das Individuum und die Bildung gesellschaftlicher Gruppen ausüben sollten. Das Projekt konzentriert sich stärker auf die positiven, „hegenden“ Formen des social engineering als auf seine in den letzten Jahren häufiger untersuchten eliminatorischen Extreme. Primärer Gegenstand der Untersuchung sind nicht die Akteure oder die Realisierungsformen dieser Ordnungstechniken, sondern der Diskurs des social engineering selbst. Besonders diese bewusste Konzentration auf den Diskurs an sich sollte, wie sich bei der nun folgenden Präsentation der drei Teilprojekte zeigte, einen Ansatzpunkt für verschiedene methodische Einwände bieten.

Das erste Teilprojekt zu Formen des Ordnungsdenkens im Industrieraum wurde von TIMO LUKS vorgestellt. Anhand der deutschen und britischen Automobilindustrie der Jahre 1920 bis 1950 untersucht er in seiner Dissertation, wie der Industriebetrieb als Interventionsfeld mit Blick auf die Gesamtgesellschaft konstituiert wurde. Das zeitgenössische Ordnungsdenken, so Luks, stelle einen Bezug zwischen Produktionsorganisation und -technik, betrieblich-sozialer Ordnung und, von dieser Mikroebene ausgehend, einen ordnenden Zugriff auf die Gesellschaft als Ganzes her. Dem Betrieb wurde dabei die Aufgabe eines Ortes der sozialen Re-Integration zugewiesen. Gemäß dem Produktionsregime der fordistischen „mass and flow production“ wurden Maschinen zu „Maschinengruppen“ verkettet, die nicht nur eine fließende Produktion gewährleisten mussten, sondern auch gemeinsam mit den sie bedienenden Arbeitern organische, für den Menschen überschaubare Einheiten repräsentieren sollten: „statt des Chaos ein Kosmos der Fertigung“. Der Topos der „Gruppe“ sei dabei auf enge Weise verbunden mit den Konzepten des „menschlichen Maß“ und der „Gemeinschaft“. Als wichtigstes Mittel zur Bildung dieser organischen Einheit galt die An-Ordnung von Mensch und Maschine im Raum, das „layout“ der Produktion. Hier waren die Übergänge zwischen Produktions- und Sozialtechnik fließend, wie Luks überzeugend am sich entwickelnden Berufsbild der innerbetrieblichen Sozialexperten zeigen konnte.

In seinem Kommentar hob THOMAS WELSKOPP (Bielefeld) hervor, dass ein Betrieb in seiner Praxis hingegen immer als ein komplexes, nicht unilateral steuerbares Gebilde gesehen werden müsse. Auch leisten verschiedene Gruppen im Betrieb zentralen Ordnungsansprüchen Widerstand, die letztlich ohnehin dem Problem der „Unzugänglichkeit“ der einzelnen Arbeit an sich gegenüberstehen. Viele der in diesem Kontext entstandenen Ordnungsversuche blieben daher kontradiktorisch, nicht durchsetzbar und stellten Erzsatzkonstruktionen für eine niemals vollkommen etablierbare Steuerung der Arbeit dar. Die Frage nach dem Verhältnis von Diskurs und Praxis wurde auch in der folgenden Diskussion thematisiert, da sie sich nicht nur auf Ebene der Verwirklichung von Planungen manifestiere, sondern ebenso in der Frage nach dem Ort des Diskurses selbst und nach der prekären Position des sich etablierenden „Experten“. Durch deren „Verortung“ besteht die Möglichkeit zur Ergänzung der Diskursebene durch eine wissenssoziologische Rückbindung, die jedoch, wie aus der Projektgruppe angemerkt wurde, letztlich auf ein anderes Erkenntnisinteresse verweise.

ANETTE SCHLIMM präsentierte mit ihrem Vortrag zur „Ordnung des Verkehrsraums“ ein zweites Teilprojekt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs war eine dynamische technische Entwicklung des Verkehrswesens zu beobachten, die als nicht mehr steuerbar wahrgenommen wurde. Neue, konkurrierende und individuelle Verkehrsmittel und
-bedürfnisse stellten zunehmend die etablierten Standards von Eisenbahn und Schifffahrt in Frage. Diese Veränderungen wurden in ihrer Gesamtheit als „Verkehrskrise“, als zunehmendes Ungleichgewicht des Verkehrswesens wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund etablierte sich zu Beginn der 1920er-Jahre die Gruppe der professionellen Verkehrsexperten. Als ihr Leitbegriff galt die „Verkehrseinheit“, eine planerisch-koordinierende Perspektive auf den Verkehr als „Ganzes“ in seiner gesellschaftlichen Funktion. Damit sollte eine Basis für die Formulierung rationaler verkehrspolitischer Handlungsanweisungen geschaffen werden. Die „Verkehrseinheit“ markierte Mittel und Ziel der Verkehrswissenschaft: Es galt nicht nur, durch kooperatives Verhalten innerhalb des Verkehrs Gemeinschaft herzustellen, auch sollte der Verkehr selbst auf höherer Ebene als Mittel zur Herstellung von Gemeinschaft dienen. Als Medium von Verbindung und Ausgleich sollte er Ungleichgewichte der Raumentwicklung (wie den sich verschärfenden Gegensatz von Stadt und Land) korrigieren und zu einer organischen Integration der Nation als Ganzes beitragen. Die Verkehrsplanung zielte, so Schlimm, auf eine „Vermittlung von Statik und Dynamik“. Als spezifische Form des social engineerings sollte sie „räumliche Verwerfungen“ innerhalb der Gesellschaft überbrücken.

Wie schon vor ihm Thomas Welskopp stellte auch DIRK VAN LAAK (Giessen) in seinem Kommentar die Differenz zwischen Ordnungsdiskurs und Praxisebene heraus. Der Verkehr sei, besonders seit der massenhaften Verbreitung des Automobils, geprägt durch die Eigenwilligkeit des Nutzerverhaltens. Da er auf das Ordnungsparadigma einer fluiden Ordnung verweise, entziehe er sich in seiner rationalen wie irrationalen Eigendynamik dem planenden Globalzugriff. Von der Zwischenkriegszeit bis zur Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre sei ein Scheitern all jener technokratischen Ordnungsentwürfe zu verbuchen, die vor der Vielgestaltigkeit des Verkehrs kapitulieren mussten. Der Verkehr und seine Experten seien also zweierlei, stünden jedoch in einem komplexen Reflexionsverhältnis, das immer mitzudenken sei.

Das letzte Oldenburger Teilprojekt zur Ordnung des Wohnraums stellte DAVID KUCHENBUCH vor. Am Beispiel des Topos vom „menschlichen Maßstab“ im Diskurs der Architekten und Stadtplaner in Deutschland und Schweden verdeutlichte er zentrale Thesen der Projektgruppe. In Abgrenzung von der funktionalistisch durchrationalisierten Minimalportionierung des Wohnstandards „für das Existenzminimum“ wurde ab Mitte der 1930er-Jahre die Forderung erhoben, die „Raumdimension des Sozialen“ erneut in den Blick zu nehmen. Die Zeilenbauweise wurde zum Sinnbild gesellschaftlicher Zersplitterung und „anonymer Vermassung“. Architekten wie Uno Åhrén strebten nach einer „Humanisierung“ des Wohnraumes durch eine Bebauung, die sich an gesellschaftlicher Gruppenbildung orientierte und das Raumerlebnis der Bewohner auf ein menschlich-überschaubares Maß beschränkte. Dadurch sollte der nachbarschaftlich-familiäre Umgang gefördert und „Wohn-Gemeinschaft“ geschaffen werden. Je nach politischem System manifestierte sich diese Normalisierungstechnik der „beglückten Einordnung“ in Form der „Ortsgruppe als Siedlungszelle“ (NS-Deutschland) oder als „grannskap“ (Nachbarschaft) im demokratischen Schweden. Beide Entwürfe zielten jedoch gleichermaßen auf die Herstellung vermeintlich natürlicher, organischer Einheiten. Deren am Nutzerverhalten orientierter Maßstab sollte aus den immer stärker verfeinerten Vermessungs- und Erhebungsverfahren der Sozial- und Bevölkerungswissenschaft gewonnen werden. Der Topos des „menschlichen Maßstabs“ überdauerte das Kriegsende und wurde in Deutschland, unter explizitem Rekurs auf Schweden, unter demokratischen Vorzeichen wiederaufgegriffen. Erst das kybernetische Planungsparadigma der 1960er-Jahre öffnete den Diskurs für neue Leitmetaphern, die den „menschlichen Maßstab“ ablösten.

ADELHEID VON SALDERN (Hannover) plädierte in ihrem Kommentar dafür, auch den Funktionalismus der 1920er-Jahre, der sowohl gemäßigte als auch rigide Formen ausbildete, differenziert zu betrachten. Der Begriff des „menschlichen Maß“ könne nur bedingt als Unterscheidungskriterium zum Organizismus gelten, da auch die frühen Funktionalisten „kommunikationsfreundliche“, überschaubare Siedlungen schaffen wollten und letztlich beide Schulen Gefahr liefen, in ihrem Glauben an Mach- und Planbarkeit das „menschliche Maß“ zu überschreiten. Innerhalb der beiden gemeinsamen Ansprüche des social engineering gelte es, Differenzen und Schnittmengen herauszuarbeiten und Topoi wie das „menschliche Maß“ jeweils konkret zu historisieren.

Im zweiten Teil der Tagung setzte sich eine Reihe auswärtiger Referenten in Vorträgen zu Raumplanung, Gemeinschaftsdenken und Ordnungspraktiken mit den Konzeptionen der Oldenburger Projektgruppe auseinander. Aus der Perspektive ihrer eigenen Arbeitszusammenhänge schärften sie das theoretische und methodische Profil des Projekts und markierten dessen zeitliche wie räumliche Reichweite. Diese kritische Bezugnahme gewährleistete eine ungewohnt hohe thematische Kohärenz der Vorträge.

Den Anfang machte ARIANE LEENDERTZ (München) mit einem Überblick über die Entwicklung des raumplanerischen Denkens in Deutschland zwischen 1920 und 1970.1 Auch sie konstatierte im Denken der Raumplaner die Diagnose einer zu behebenden Fehlentwicklung und Disharmonie, die durch planerische Intervention auszugleichen sei. Dieser Kerngedanke des „Ausgleichs“ stellte eine Konstante des Raumplanungsdiskurses im ganzen Untersuchungszeitraum dar. Jedoch betonte Leendertz gegenüber den Projekten aus Oldenburg stärker die kontextgebundenen Veränderungen in den inhaltlichen Zielvorstellungen und hinsichtlich der Reichweite des gesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs der beteiligten Experten, die sie an Beispielen aus der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik verdeutlichte.

In ihrem Doppelvortrag sondierten SABINE DWOROG (Giessen) und SILKE MENDE (Tübingen) anhand zweier Beispiele aus den 1970er-Jahren die Residuen von organischem Gemeinschaftsdenken und social engineering jenseits des Untersuchungszeitraums des Oldenburger Projekts. Die Entstehung der „grünen Bewegung“ und die Auseinandersetzungen um den Ausbau des Frankfurter Flughafens zeigten neben den Verschiebungen der „ordnungsstiftenden Konstellationen“ auch die aufkommende „gesellschaftliche Opposition“ gegen sozialtechnische Zugriffsversuche demokratisch wenig legitimierter Expertengruppen. Auf Ebene des Diskurses konnten Dworog und Mende hingegen auf zahlreiche Topoi (Organizität, Krisis, „menschliches Maß“, usw.) aus dem Ordnungsdenken der 1920er- bis 1950er-Jahre verweisen, die teils in ähnlicher, teils in abgewandelter Weise wieder in Erscheinung traten, sowohl bei den Planern als auch bei ihren Gegnern. Abermals ist eine Wahrnehmung der Desintegration gesellschaftlicher Strukturen zu diagnostizieren, doch die Reproblematisierung der Moderne erfolgte in den 1970er-Jahren unter gänzlich anderen Vorzeichen, nicht zuletzt auch, da sowohl Luftfahrt als auch Umwelt rein nationalstaatlichen Ordnungspraktiken letztlich entzogen waren.

Mit der „Progressive Era“ nahm NADINE KLOPFER (Berlin) einen Zeitraum vor den 1920er-Jahren in den Blick. Sie zeigte am Beispiel von lokalen Initiativen in New Orleans, dass Kernelemente des Ordnungsdenkens bereits um die Jahrhundertwende in den USA wirkmächtig waren. Träger der Kampagnen für eine saubere, wohlgeordnete Stadt waren auf Ebene der konkreten Praxis jedoch zunächst Privatpersonen und Verbände aus der weißen, protestantischen Mittelschicht. Sie präfigurierten die Diskurse und Topoi der Hygiene, der Funktionalität und des reibungslosen Fließens, vor deren Hintergrund sich die Figur des Stadtplaners als Experte herausbilden konnte. Auch im impliziten Zusammendenken von städtischer Gemeinschaft und Raumordnung (Topos „municipal house“) nahmen sie ein Hauptmerkmal des social engineering vorweg. Diese Überlegungen leiteten in der Diskussion zur zentralen Frage über, wo genau, auch in Bezug auf das Oldenburger Projekt, die zeitlichen Grenzen des Konzepts „social engineering“ zu ziehen wären.

Durch eine Erkrankung des Referenten musste der Vortrag von MICHAEL HOCHGESCHWENDER (München) leider entfallen. An dessen Stelle demonstrierte Thomas Etzemüller nochmals die Mikrotechniken des social engineering am konkreten Beispiel der schwedischen Sozialexperten und -politiker Gunnar und Alva Myrdal.2

Zum Abschluss der Tagung stellten der Osteuropahistoriker KLAUS GESTWA und die Sinologin SUSANNE STEIN (beide Tübingen) die Frage nach dem Geltungsbereich des Ordnungsdenkens außerhalb der westlich-transatlantischen Sphäre. Gestwa betonte das ungebrochene und affirmative Verhältnis des Sowjetkommunismus zur Moderne. Im Gegensatz zum westlichen Ordnungsdenken fänden sich folglich keine Versuche, eine zerfallende Gesellschaft im Sinne einer organischen Gemeinschaft zu restituieren. Vielmehr stand der Topos des „Aufbaus“ im Zentrum: des Aufbaus einer genuin neuen, sozialistischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine einzigartige Politik des schrankenlosen social engineering, die nicht auf gesellschaftliche Stabilisierung, sondern auf revolutionäres Voranschreiten und enthemmte Modernisierung ausgerichtet war. Diesen Diskurs durchziehe, so Gestwa, sowohl die Wirtschaftspläne als auch die stalinistische Propaganda mit ihrer Leitmetapher der „Großbaustelle“. Auch in der Repräsentationstopographie des Parks wurden die Sowjetgemeinschaft und der „neue Mensch“ räumlich visualisiert und dadurch vom „Gärtnerstaat“ sozialtechnisch geschaffen.

Einen vergleichbaren „Aufbau“-Diskurs diagnostizierte Susanne Stein für die 1950er-Jahre in China. Auch dort fungierte das Bauwesen als Leitmetapher für einen gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozess, der „Konsumentenstädte“ zu „Produktionsstädten“ umgestalten sollte. Diese sollten sich an einem Leitbild des organischen Ineinandergreifens von Lebensbedürfnissen der Werktätigen und Erfordernissen der Produktion orientieren. Zunehmend verschob sich jedoch die Gewichtung hin zu einem „Primat der Produktion“, die Konformität zur staatlichen Wirtschaftsplanung gewann Überhand gegenüber Vorstellungen von Harmonie und Ausgleich. Dennoch blieben organische Metaphern im Planungsdiskurs weiterhin präsent und verbanden sich bruchlos mit mechanistischen Vorstellungen, was Stein am Beispiel der modularen Grundeinheit des Wohngebiets, des „jiefang“, aufzeigte. Vergleichbar mit den sozialtechnischen Vorstellungen des westlichen Ordnungsdenkens verband eine „jiefang“ ästhetische, gesellschaftliche und politische Ordnungsansprüche und kann daher durchaus als eine Variante des social engineering begriffen werden.

In seinem Gesamtkommentar verwies LUTZ RAPHAEL (Trier) auf theoretisch-methodische Ansätze für einen Brückenschlag zwischen der Ebene des Diskurses und der Ebene der gesellschaftlichen Praxis, deren Gegensätzlichkeit im Verlauf der Tagung fortwährend thematisiert worden war. Der Diskurs, so Raphael, verweise immer auf seine ursprünglichen Kommunikationszusammenhänge. Er sei nicht losgelöst von seinem sozialen Ort und seiner historischen Zeit zu betrachten. In Bezug auf das Oldenburger Projekt bedeute dies, dass etwa die Rolle der Experten als Vertreter sich erst allmählich konstituierender Disziplinen und Professionen stärker zu berücksichtigen wäre. Dies gelte ferner für die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung dieser Jahrzehnte oder, so nicht mit einem Idealtyp gearbeitet werden soll, für die nationalgeschichtlichen Rahmenbedingungen, in denen sich der Ordnungsdiskurs entwickelte. Das social engineering selbst stelle keine statische Formation dar, sondern ein Ensemble von Einzelelementen, die sich in bestimmten kontextuellen Konfigurationen zu einem spezifischen Ordnungsdenken verdichteten. Mit diesen Schlussüberlegungen plädierte Raphael energisch für eine Rückbindung der Diskurse und ihrer Sprecher an die Entwicklungen einer Gesellschaft, deren Dynamik und Konflikte sich immer auf der Ebene der Ideen widerspiegelt. Diese zentrale methodische Problematik betrifft nicht nur die Oldenburger Forschungsgruppe. So verwies Thomas Etzemüller in der abschließenden Diskussion zu recht auf die allgemeine Schwierigkeit, eine solche Rückbindung zu realisieren, ohne den Diskurs als eigentlichen Gegenstand des Erkenntnisinteresses aus den Augen zu verlieren.

Über eine reine Projektvorstellung hinausgehend realisierte die Tagung in Kronberg einen anregenden Dialog ideen- und sozialgeschichtlicher Positionen, der immer wieder übergreifende methodische- und theoretische Fragen aufwarf. Durch ständige kritische Bezugnahme der Referate auf den Oldenburger Ansatz konnten Potentiale, aber auch Grenzen des Gesamtprojekts sichtbar gemacht und die Möglichkeit zu einer durchgängig konstruktiven Auseinandersetzung genutzt werden. Und diese erscheint weiterhin notwendig, da die grundlegenden Fragen nach dem komplexen Interaktionsverhältnis von Ideen, Diskursen und gesellschaftlichen Praktiken nur in einem offenen Dialog methodisch unterschiedlich orientierter Historiker/innen angegangen werden können.

Ein Tagungsband ist in Vorbereitung und soll im Lauf des nächsten Jahres erscheinen.

Kurzübersicht:

Anselm Doering-Manteuffel: Konturen des 20. Jahrhunderts.

Thomas Etzemüller: Social engineering im 20. Jahrhundert. Eine Rahmenskizze.

Timo Luks: Die „Nachbarschaft von Mensch und Maschine“. Ordnungsdenken und Industriearbeit in Deutschland und Großbritannien, 1920er- bis 1950er-Jahre; kommentiert von Thomas Welskopp.

Anette Schlimm: Die Ordnung des Verkehrsraums; kommentiert von Dirk van Laak.

David Kuchenbuch: Auf der Suche nach dem „menschlichen Maß“. Ordnungsdenken und Ordnungspraktiken in Architektur und Stadtplanung – Deutschland und Schweden, 1920er- bis 1950er-Jahre; kommentiert von Adelheid von Saldern.

Ariane Leendertz: Koordinaten raumplanerischen Denkens in Deutschland 1920 bis 1970.

Sabine Dworog / Silke Mende: Residuen des Gemeinschaftsdenkens in den 1970er-Jahren? Kontinuitäten, Umbrüche, veränderte Bezugsgrößen.

Nadine Klopfer: „Clean Up“. Stadtplanung und Stadtvisionen in New Orleans, 1880er- bis 1920er-Jahre.

Klaus Gestwa: Vom „Aufbau des Sozialismus“ zum „entfaltenden Aufbau des Kommunismus“. Sowjetisches social engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928-1964.

Susanne Stein: „Aufbau und Ordnung“. Städtebauliche Leitbilder im Neuen China 1949-1959

Lutz Raphael: Gesamtkommentar.

Anmerkungen:
1 Leendertz, Ariane, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008 (i. E.).
2 Vgl.: Etzemüller, Thomas, Die Romantik des Reißbretts. Social engineering und demokratische Volksgemeinschaft in Schweden: Das Beispiel Alva und Gunnar Myrdal (1930-1960), in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 445-466.