Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive: Verflechtung – Gender – Interkulturalität

Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive: Verflechtung – Gender – Interkulturalität

Organisatoren
PD Dr. Hillard von Thiessen, Historisches Seminar, Universität zu Köln; Prof. Dr. Christian Windler, Historisches Institut der Universität Bern
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
13.03.2008 - 16.03.2008
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Von
Andreas Affolter; Tilman Haug; Carine Neuenschwander; Nadir Weber, Historisches Institut, Universität Bern

Vom 13. bis 16. März 2008 fand in Bern die von Christian Windler (Bern) und Hillard von Thiessen (Köln) organisierte Tagung „Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive: Verflechtung – Gender – Interkulturalität“ statt. Hauptanliegen der Tagung war es, Außenbeziehungen in ihrer Entwicklung über einen langen Zeitraum – vom Spätmittelalter bis zum Ende des „langen 19. Jahrhunderts“ – zu verfolgen. Untersucht werden sollte dabei insbesondere das Handeln von Personen und sozialen Gruppen innerhalb von Beziehungen, die sich zwischen verschiedenen Herrschaftsverbänden abspielten. Im Zentrum der Diskussion stand die personale Verflechtung der Akteure. Als innovative Felder in der Untersuchung spielten dann weitergehend die kulturellen Vermittlungs- und Anpassungsleistungen solcher Akteure in der Auseinandersetzung mit dem Anderen und die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Gender in den Außenbeziehungen eine Rolle.

In einem einleitenden Vortrag thematisierte HILLARD VON THIESSEN in Zusammenarbeit mit CHRISTIAN WINDLER die Entwicklungen in der Historiographie der Außenbeziehungen. Über lange Zeiträume von den methodischen Innovationen der historischen Forschung unberührt, habe die Geschichte der Außenbeziehungen seit einigen Jahren eine „Renaissance“ erlebt. Durch Einsatz neuer Ansätze und Methoden sei die post-rankeanische Perspektive überwunden worden. Wichtige Impulse kamen dabei einerseits von dem von der politikwissenschaftlichen Forschung eingeführten Konzept der Transnationalen Beziehungen, andererseits von der politischen Kulturgeschichte sowie der Staatsbildungsforschung. Letztere hat mit der Dekonstruktion des Absolutismusparadigmas auf die Bedeutung von Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen Akteuren hingewiesen.
Durch diese Neuausrichtung müssen die nach von Thiessen bisher geltenden Grundannahmen in Frage gestellt werden. So erscheint die Existenz überzeitlicher Regeln politischen Verhaltens zweifelhaft; Wahrnehmungen und Handlungsrahmen sind vielmehr veränderlich. Nicht die Interaktion von Staatswesen steht im Vordergrund, sondern diejenige bestimmter Akteure, selbst für das 19. und 20. Jahrhundert.
Die Frage nach einer Periodisierung in der Organisation von Außenbeziehungen ist nichtsdestoweniger wichtig. Von Thiessen stellte dabei die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 als Geburtsstunde des modernen Staatensystems – des „Westfälischen Systems“ – in Frage. In der „Mikroperspektive“ habe die Diplomatie vom „type ancien“ weit über den Westfälischen Frieden hinaus weiter bestanden. Statt des Bruchs von 1648 plädierte von Thiessen deshalb für das Konzept einer doppelten Sattelzeit: eine erste um 1500, gekennzeichnet durch die Errichtung ständiger Gesandtschaften, und eine zweite um 1800, die sich durch das Aufkommen der modernen Fachdiplomatie auszeichnete.

Thema der ersten Sektion waren Verflechtung und Netzwerke in Außenbeziehungen. WOLFGANG REINHARD (Freiburg/Erfurt) schlug dabei in seiner Darstellung zu den Außenbeziehungen Roms in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor, auf eine Unterscheidung zwischen Innen- und Außenpolitik zu verzichten. Er entwarf vielmehr ein Modell, gemäß dem sich die römische Politik innerhalb „konzentrischer Kreise“ abspielte. Die bedeutende Rolle der Mikropolitik in der römischen Diplomatie zeige sich im Vergleich der Jurisdiktionskonflikte mit Genua und Venedig. Im Falle Genuas konnte dank intensiver Vernetzung der Konflikt durch „mikropolitisches Krisenmanagement“ beigelegt werden, während der Streit mit Venedig aufgrund des Fehlens derartiger personaler Netzwerke nur unter Mitwirkung von Dritten entschärft werden konnte.
Im zweiten Impulsvortrag setzte sich JOHANNES PAULMANN (Mannheim) mit dem Phänomen des Internationalismus im 19. Jahrhundert auseinander. Als Rahmenbedingungen und Grundlagen des Internationalismus identifizierte er das Kommunikationssystem des 19. Jahrhunderts, den Wandel des europäischen Staatensystems, den Kolonialismus, die Transformation von Staatlichkeit und die Entwicklung der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Der Nationalismus in den europäischen Regierungen habe dabei entsprechende internationale Aktivitäten in vielen Fällen vorangetrieben.

DANIEL SCHLÄPPI (Bern) verdeutlichte am Beispiel der Zuger Familie Zurlauben die schwer aufzulösenden Widersprüche, welche im diplomatischen Terrain tätige Magistraten in der Eidgenossenschaft als Politiker, Soldunternehmer und Angehörige einer weit verzweigten Familiendynastie zu meistern hatten. Um Außenbeziehungen erfolgreich zu unterhalten, mussten die Zurlauben eine Fülle von Informationen einholen und in einem komplexen Geflecht multipler Interdependenzen und widersprüchlicher Interessenlagen den Überblick behalten. Im gleichen geographischen Raum bewegte sich der Vortrag von ANDREAS WÜRGLER (Bern). Personale Verflechtung sei für die diplomatischen Aktivitäten der politischen Akteure der Eidgenossenschaft auch im Bereich der Außenbeziehungen von Bedeutung gewesen. Dabei wurde allerdings immer wieder versucht, die Verflechtung einzelner Protagonisten zu kontrollieren, zum einen durch Normensetzung etwa zur Praxis der Geschenkannahme, zum anderen durch politische Regeln wie dem Erteilen klarer Handlungsinstruktionen oder dem Rotationsprinzip für diplomatische Missionen.
JULIA ZUNCKEL (Genua/Münster) befasste sich in ihrem Referat mit dem Agieren genuesischer Akteure zwischen Wirtschaft und Politik. Laut Zunckel war die Behauptung der republikanischen Unabhängigkeit Genuas hauptsächlich dem konzertierten Zusammenspiel eines ganzen Sets unterschiedlich gelagerter Außenbeziehungen zu verdanken, die in erster Linie als (sozio-)ökonomisches Beziehungskapital begriffen wurden. Die Aktivitäten genuesischer Oligarchen führten dabei zu einer enormen Verdichtung, Verstetigung und Beschleunigung der Zirkulation von Informationen und Ressourcen aller Art, und machten die Akteure zu „global players“. ARNE KARSTEN (Berlin) betrachtete Kardinal Bernardino Spadas Bemühungen, die während seiner diplomatischen Tätigkeit aufgebauten Netzwerke in den Dienst seiner Familie zu stellen. Dank des Einsatzes informell genutzter diplomatischer Beziehungen sei es Spada etwa gelungen, die umstrittene Aufnahme eines seiner Großneffen in den Malteserorden durchzusetzen. Die Aufnahme in den Orden implizierte die offizielle Anerkennung des Adelsstatus der Aufsteigerfamilie der Spada, welchen diese in einer römischen Kapelle auch visuell inszenierte. Die Sektion schloss mit dem Vortrag von CHRISTIAN KÜHNER (Freiburg im Breisgau), der die Verflechtung des europäischen Hochadels im 17. Jahrhundert am Beispiel von Louis de Bourbon, Prinz von Condé, untersuchte. Der Grand Condé unterhielt ein europaweites Korrespondenten- und Agentennetzwerk, das deutliche Züge eines diplomatischen Dienstes trug. Es befand sich damit an der Schnittstelle zwischen „öffentlicher“ Diplomatie und „privater“ Auslandskorrespondenz. Für die Monarchie bedeutete das Netzwerk des Grand Condé Einflussgewinn, es konnte aber auch als Störfaktor wirken. Für den Grand Condé selbst stellte seine Außenverflechtung einen Faktor innenpolitischer Gewichtssteigerung dar.

Für die auf Praxis und Theorie der Diplomatie und die Rollen der Gesandten zielende zweite Sektion wies JEAN-CLAUDE WAQUET (Paris) darauf hin, dass trotz methodischer Neuerungen in der Diplomatiegeschichte der Prozess des Verhandelns („négociation“) selbst, verstanden als interaktive, friedliche und ergebnisoffene Praxis, immer noch wenig beleuchtet sei. Ausgehend von frühneuzeitlichen Abhandlungen formulierte Waquet die These einer eigentlichen „Erfindung“ des Verhandelns als sowohl vom Recht als auch von der bloßen Repräsentation losgelöste Praxis in der Frühen Neuzeit. In akteurszentrierter Perspektive trat so gegen Ende des 16. Jahrhunderts an die Stelle des humanistisch gebildeten „orator“ der frühneuzeitliche „négociateur“. Letzterer wiederum wurde um 1800 von der Figur des modernen Diplomaten abgelöst.
CHRISTINE LEBEAU (Paris) untersuchte die Rolle von Gesandten bei der Generierung eines ökonomischen Staatswissens während der Sattelzeit (1750-1850). Seit dem 18. Jahrhundert vollzog sich im staatlichen Behördenwesen eine doppelte Professionalisierung von Diplomatie einerseits und Finanzadministration andererseits, wobei sich allerdings auch Schnittstellen zwischen diesen beiden Entwicklungen ergaben. Bei der Herausbildung des Staatswissens sei somit ein interpersonelles Netzwerk von Diplomaten und Finanzinspektoren beteiligt gewesen, deren Aktivitäten sich überlappten, bisweilen auch miteinander konkurrierten.

SVEN EXTERNBRINK (Marburg) fragte in seinem Vortrag nach den Berührungspunkten zwischen Diplomatie und Gelehrtenrepublik. Für die Gesandtschaften seit dem 15. Jahrhundert wurde neues Personal benötigt, für welches die humanistischen Gelehrten sich mit ihrem Expertenwissen und Kommunikationsnetzwerk empfahlen. Für die oft bürgerlichen Humanisten habe die Tätigkeit als niedere Gesandte Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs geboten. Nach einem Höhepunkt des Einsatzes von Gelehrten im 17. Jahrhundert verschwand diese Praxis durch die Professionalisierung und „Nationalisierung“ des zusehends exklusiv adligen diplomatischen Korps im 18. Jahrhundert allmählich. Anschließend betrachtete THOMAS WELLER (Münster) die politischen Beziehungen zwischen dem hanseatischen Städtebund und der spanischen Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert. Dabei zeigte sich die Katholische Monarchie vor allem an finanziell-ökonomischen Fragen interessiert, während es ein primäres Anliegen der hanseatischen Gesandten war, im Zeremoniell als Vertreter von „freien Republiken“ behandelt zu werden. Zu diesem Zwecke diente die mit Handelsverträgen und Krediten teuer erkaufte Einrichtung einer ständigen hansischen Gesandtschaft am spanischen Hof. Die Beziehungen zwischen den schließlich doch nicht so ungleichen Partnern beinhalteten den Umtausch von ökonomischem und symbolischem Kapital. MARKUS MÖSSLANG (London) widmete sich der Tätigkeit britischer Diplomaten an deutschen Standorten im Zeitraum von 1815 bis 1914. Die Lebenswelt dieser Gesandten sei geprägt gewesen von einem Einbezug in lokale Netzwerke als Grundlage für die politischen Analysen. Durch das Aufkommen der politischen Presse verloren die regelmäßigen lokalen Lageberichte jedoch für die Ausrichtung der britischen Außenpolitik an Bedeutung. Gerade an den kleineren Missionen in Deutschland zeige sich, dass die diplomatische Praxis im 19. Jahrhundert weniger durch Umstrukturierung und Professionalisierung als durch eine sukzessive Erosion ihrer Gestaltungskraft geprägt sei.

Im dritten, auf den Stellenwert von Gender-Kategorien in frühneuzeitlichen Außenbeziehungen ausgerichteten Teil der Tagung fragte KATRIN KELLER (Wien) nach den diplomatischen Handlungsspielräumen von Frauen in der Frühen Neuzeit. Entgegen bisheriger Forschungstendenzen betonte sie, dass es sich bei weiblicher Einflussnahme in den Außenbeziehungen keineswegs um Ausnahmefälle handelte, sondern vielmehr um ein strukturelles Phänomen frühneuzeitlicher Diplomatie. Frauen benötigten jedoch zu aktivem diplomatischem Handeln ein gut funktionierendes Verhältnis zu ihren Ehepartnern als Legitimationsgrundlage, sowie ein eigenes soziales Netzwerk. Die weibliche Rolle in den Außenbeziehungen sei außerdem dort auf Grenzen gestoßen, wo sie vom Handlungsumfeld nicht akzeptiert wurde. Dies wurde mit der zunehmenden Entpersonalisierung des Fürstenamtes und der sich verstärkenden Dichotomie von öffentlich und privat ab 1650 immer gewichtiger.

MALTE PRIETZEL (Berlin) untersuchte in seinem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen weiblichen Handelns in der Diplomatie bezogen auf die burgundischen Fürstinnen des 15. Jahrhunderts. Weibliche Einflussnahme sei hier stark durch äußere Umstände bedingt gewesen. So war in dynastischen Krisen das diplomatische Handeln der Herzoginnen unerlässlich, während persönliche Lebensumstände, beispielsweise Schwangerschaften, die Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen unmöglich machen konnten. Handlungsspielräume waren zudem nur über eigenständige Personennetze zu erzielen, zumeist über den heimatlichen Hof. Obwohl die Herzoginnen von Burgund so vielfach erhebliche Handlungsmöglichkeiten erlangten, wurden ihre Befugnisse theoretisch stets vom männlichen Fürsten abgeleitet.
CORINA BASTIAN (Bern) betrachtete die Einflussmöglichkeiten und das diplomatische Selbstverständnis der Madame des Ursins. Sowohl hofintern als auch hofextern tätig, war sie die wichtigste Vertraute des spanischen Königspaares während des Spanischen Erbfolgekrieges. Sie bekleidete das Amt der Kammerdame und trat gleichzeitig als informelle Vertreterin Ludwigs XIV. am Madrider Hof auf. In ihrem außenpolitischen Handeln überschritt die Princesse des Ursins zeitgenössische Geschlechtergrenzen, was auch Beobachtern stets bewusst war. Zugleich spielten aber sie und ihre Korrespondenzpartnerin Madame de Maintenon in Selbstdarstellungen durch Bezug auf ihr Geschlecht die eigene Bedeutung herunter. Dies sei üblicherweise dann geschehen, wenn sie ihren Einfluss am Hof nicht nutzen konnten oder wollten. EVA POLLMANN (Bern) setzte sich mit den Handlungsspielräumen der Madame de Pompadour am Hof von Versailles auseinander, mit besonderem Fokus auf den praktischen Bedingungen weiblicher Einflussnahme. Die Bedeutung der Mätresse war in Diplomatenkreisen zwar unumstritten, doch lässt sich zeigen, dass die Darstellung ihrer Person in Korrespondenzen von der jeweiligen Kommunikationsform abhing. Ihre Nichterwähnung in offiziellen Schreiben mache deutlich, dass sie als explizit irregulärer Kanal wahrgenommen worden sei. Auf der anderen Seite erlaubte es gerade das Nebeneinander verschiedener Beziehungs- und Kommunikationsstränge in den frühneuzeitlichen Außenbeziehungen dieser Akteurin überhaupt erst, außenpolitisch zu agieren.

In der vierten Sektion zum Thema Interkulturalität nahm WOLFGANG KAISER (Paris) die Rahmenbedingungen für die christlichen Handelsbeziehungen zu den maghrebinischen Reichen im 16. und 17. Jahrhundert in den Blick. Im Hinblick auf derartige Kontakte erschwerten kulturelle, insbesondere rechtliche Differenzen und Asymmetrien häufig die Kommunikation, so dass man auf transkulturelle Mittler angewiesen war. Letztere konnten oftmals mit vielfältigen Identitäten aufwarten. Auch konnten im Sinne von Kompromissen eine doppelte Interpretation von Verträgen sowie das Aushandeln neutralisierter Orte zwischen den beiden Seiten gepflegt werden.
MARIE KARINE SCHAUB (Paris) betrachtete in ihrem Referat die Beziehungen Frankreichs und Russlands vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. War die Wahrnehmung Russlands auf der französischen Seite im 17. Jahrhundert zumeist durch kulturelle Missverständnisse und eine Überbetonung inkongruenter Normen und Verhaltensstile geprägt, so änderte sich die Situation im 18. Jahrhundert grundlegend. Diplomaten trugen dabei erheblich zu kulturellen Transfers bei, und interkulturelle Missverständnisse kamen seltener vor. Dies ist nach Schaub auch dadurch zu erklären, dass die oft aus dem Hochadel stammenden russischen Diplomaten dieser Phase zumeist mit der französischen Kultur bestens vertraut waren und sie hoch einschätzten. Erst nach 1812 schlug der russische Blick auf Frankreich seinerseits in „okzidentalistische“ Stereotype um. Diese stellten ein „heiliges“ Russland einem vermeintlich dekadenten Frankreich gegenüber, was nun ebenfalls die Kommunikation erschwerte.

Der Vortrag von OLIVER SCHULZ (Düsseldorf) beleuchtete die Aktivitäten französischer Konsuln auf den Kykladen des frühen 19. Jahrhunderts. Dort verfügten solche Konsuln auf der Grundlage weit verzweigter lokaler Netzwerke über recht grosse Handlungsspielräume, vor allem auch in der Protektion der katholischen Minderheit und des lateinischen Klerus. Diese Möglichkeiten verminderten sich mit der Bildung des griechischen Staates. Kaiser und Schulz betonten, dass kein spezifisch mediterranes Transkulturalitätsmodell postuliert werden kann. Vielmehr habe man es mit nebeneinander bestehenden multikulturellen Identitäten und polyzentrischen Orientierungen zu tun. Dies erschwert auch die Übertragung des Reinhardschen Modells der konzentrischen Kreise auf den entsprechenden multikulturellen Kontext. Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Diplomatie fanden in den Beiträgen von ALEXANDER KEESE (Bern) und SUSANNE SCHATTENBERG (Berlin) Beachtung. In den 1830er Jahren handelte Charles Campbell, Gouverneur der britischen Kolonie Sierra Leone, einen regionalen Friedensvertrag zwischen verschiedenen afrikanischen Machthabern aus. Dies gelang ihm, obwohl unterdessen eine zeitgleiche britische Expedition das Klima im Hinblick auf europäisches Prestige geschädigt hatte. Die Vermittlungsleistung kann nach Keese als Meisterwerk einer interkulturellen europäischen „consultant company diplomacy“ gesehen werden, da die europäische Seite durch ihre performative Inszenierung die afrikanischen Gesprächspartner so sehr beeindruckte, dass diese sich zur Annahme der britischen Vorschläge bereit fanden. Schattenbergs Beitrag zum Berliner Kongress von 1878 verwies auf die Grenzen interkultureller Kommunikation unter den Vertretern europäischer Großmächte. Während der Russe Aleksandr M. Gorčakov wegen einer scheinbar übertriebenen Anpassung an als veraltet angesehene diplomatische Formen Befremden auslöste, gab es laut Schattenberg gegenüber den Abgesandten des Osmanischen Reiches ein deutlich orientalistisch geprägtes Ressentiment. Letzteres drängte die Osmanen trotz all ihrer Anpassung an das diplomatische Protokoll in eine deutliche Aussenseiterposition, die einen Verhandlungserfolg für ihre Delegation von Beginn an verbaute.

Die abschließende fünfte Sektion widmete sich der Frage nach den Umbrüchen oder „Sattelzeiten“ der Diplomatie. In diesem Zusammenhang reflektierte HEINZ DUCHHARDT (Mainz) über die historische Bedeutung der Epochengrenze von 1648. Mit dem in den angloamerikanischen Sozialwissenschaften entwickelten Begriff des „Westphalian System“ wird ein bis ins 20. Jahrhundert vorgestelltes System von nach innen und außen vollständig souveränen, untereinander nach den Regeln des Völkerrechts interagierenden staatlichen Entitäten umschrieben. Die historische Betrachtung zeige jedoch die Unzulänglichkeit dieser Denkfigur. Im Inneren waren die frühmodernen Staaten von einer Durchsetzung der Souveränität weit entfernt. De facto wurde das Staatensystem des 18. Jahrhunderts zudem von einer Pentarchie bestimmt, wobei das diplomatische Zeremoniell als Distinktionsverfahren diente. Von einem dauerhaften Gleichgewichtssystem könne für 1648 in jedem Fall keine Rede sein.
MARC BELISSA (Paris) ging der Frage nach, inwieweit sich die Zeitspanne zwischen 1770 und 1800 als „Sattelzeit der Diplomatie“ beschreiben lässt. Seit der Teilung Polens war die diplomatische Praxis der Fürstengesellschaft in die Kritik geraten. Während der Französischen Revolution wurde einer „neuen Diplomatie“ das Wort geredet, die im Dienste des Volkes stehen und allein dem Außenhandel dienen solle. Versuche des Direktoriums, die Republik über die Wiedereinführung des Zeremoniells in der Staatenordnung zu etablieren, stellten keine Kontinuität zum Ancien Régime her. Für Kommentatoren um 1800 war die alte Ordnung vernichtet, deshalb ein neues Gleichgewicht zu finden. Napoleon wurde in der Folge zum Begründer dieser neuen europäischen Staatenordnung stilisiert, die nun erstmals als internationales System begriffen wurde.

In der Schlussdiskussion stieß das Periodisierungsmodell zweier diplomatischer Sattelzeiten um 1500 und um 1800 weitgehend auf Zustimmung. Mit der Etablierung ständiger Gesandtschaften ab dem 15. Jahrhundert bildete sich ein grundlegend verändertes Rollenprofil für die Akteure von Außenbeziehungen aus. Der Friedenskongress in Westfalen brachte zwar neue Maßstäbe als Verhandlungsmodell und als Quelle von Friedenschlüssen, war aber kaum die Geburtsstunde eines neuen Staatensystems. Für die Annahme eines fundamentalen qualitativen Umbruchs um 1800 spricht hingegen neben der Verzahnung mit den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen vor allem auch die veränderte Wahrnehmung der Staatenordnung durch die Akteure selbst. Mehrere Diskussionsbeiträge sprachen sich zudem dafür aus, auch das Epochenjahr 1815 stärker zu gewichten, denn die „Wiener Ordnung“ legte Gesandtenränge erstmals verbindlich fest und fixierte das Protokoll, was wiederum grundlegend neue Anforderungen an das diplomatische Personal stellte. Dies betraf auch den Ausschluss der Frauen aus den Außenbeziehungen durch die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre am Beginn des 19. Jahrhunderts. Als Kontinuitätslinie wurde demgegenüber der vom Spätmittelalter bis ins beginnende 20. Jahrhundert verbindende adlige Lebensstil der Diplomaten herausgestellt. Auch zeigte sich in allen Beiträgen die Bedeutung des „Informellen im Formellen“ für das Funktionieren von Außenbeziehungen.

Konferenzübersicht:

Hillard von Thiessen/Christian Windler, Einleitung: Aussenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive

Sektion I: Verflechtung und Netzwerke
Wolfgang Reinhard, Aussenverflechtung der Zentrale des Kirchenstaats im frühen 17. Jahrhundert
Johannes Paulmann, Reformer und Experten: Grundlagen des Internationalismus im 19. Jahrhundert
Daniel Schläppi, Diplomatie im Spannungsfeld widersprüchlicher Interessen am Beispiel von Zug, einer schweizerischen Landsgemeindedemokratie (17. und 18. Jahrhundert)
Andreas Würgler, Verflechtung und Instruktion: Akteure und Regeln in den Aussenbeziehungen der Alten Eidgenossenschaft
Julia Zunckel, Diplomatische Geschäftsleute - geschäftstüchtige „Diplomaten“. Akteure der genuesischen Aussenbeziehungen in der Frühen Neuzeit zwischen Wirtschaft und Politik
Arne Karsten, Familienbande im Aussendienst: Die diplomatische Tätigkeit des Kardinals Bernardino Spada (1594-1661) im Kontext der Familienpolitik
Christian Kühner, Der Grand Condé als europaweit tätiger Akteur

Sektion II: Praxis und Theorie der Diplomatie und die Rollen der Gesandten
Jean-Claude Waquet, La négociation aux temps modernes: la diplomatie à l'échelle des acteurs
Christine Lebeau, La science des finances au détour des missions. La construction interpersonnelle d'un savoir d'Etat (1750-1850)
Sven Externbrink, Diplomatie und République des Lettres. Von der Ver- zur Entflechtung, ca. 1600-1850
Thomas Weller, Ungleiche Partner. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Hanse und der spanischen Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert
Markus Mösslang, Gestaltungsraum und lokale Lebenswelt – britische Diplomaten in Deutschland, 1815-1914

Sektion III: Gender
Katrin Keller, Mit den Mitteln einer Frau - Weibliche Handlungsspielräume zwischen Zeremoniell und Intrige (ca. 1550-1750)
Malte Prietzel, Fürstliche Diplomatinnen: Die Herzoginnen von Burgund und die burgundische Aussenpolitik
Corina Bastian, Madame des Ursins am Hof Philipps V. von Spanien
Eva Kathrin Pollmann, Madame de Pompadour als aussenpolitische Akteurin

Sektion IV: Interkulturalität
Wolfgang Kaiser, Muslime und Christen in transkulturellen Beziehungen im Mittelmeerraum
Marie-Karine Schaub, Les relations entre la France et la Russie: acteurs de la diplomatie et échanges culturels (XVIIe-XIXe siècles)
Oliver Schulz, Katholische Religion, Außenhandel und auswärtige Herrschaftsrepräsentation: französische Konsuln im Osmanischen Reich im frühen 19. Jahrhundert
Alexander Keese, Gottgesandte Vermittler? „Kriegsmüdigkeit“, „neutrale Diplomatie“ und „Verhandeln mit Primitiven“ während der Campbell-Mission in Sierra Leone, 1835-1840
Susanne Schattenberg, Die Macht des Protokolls und die Ohnmacht der Osmanen: Der Berliner Kongress 1878

Sektion V: Sattelzeit(en) der Diplomatie?
Heinz Duchhardt, Das „Westfälische System“ - Realität und Mythos
Marc Bélissa, Diplomatie des rois, diplomatie des peuples, 1770-1800


Redaktion
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