Staging Festivity. Figurationen des Theatralen

Staging Festivity. Figurationen des Theatralen

Organisatoren
BMBF-Forschungsverbund „Theater und Fest in Europa“, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.03.2008 - 08.08.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Becker, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin; Anna Littmann, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin Email:

Die Verbindung von Theater und Fest in Europa zeichnet sich durch eine lange und wirkungsmächtige Tradition aus, innerhalb derer Kultur, Politik, Ökonomie und Religion interagieren. Die Erforschung dieser Tradition eröffnet neue Perspektiven auf Fest und Theater als Institutionen des öffentlichen Lebens, die Identitäten und Gemeinschaften hervorbringen, reflektieren oder auch hinterfragen. Wie war es um das Verhältnis von theatralen Darbietungen und Festen, Theater und Festlichkeit in den Jahrhunderten vom antiken Theater bis zu den Theaterfestivals der Gegenwart bestellt? Welche besondere Sprengkraft bezieht das Theater aus seiner Allianz mit dem Fest? Das sind nur einige der Fragen, denen die Tagung „Staging Festivity. Figurationen des Theatralen in Europa“ vom 6. bis 8. März 2008 nachging. Der interdisziplinäre Forschungsverbund „Theater und Fest in Europa“ der Freien Universität Berlin – gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung – hatte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland geladen, um von ihnen Anstöße für die Erforschung des Verhältnisses und der wechselseitigen Beeinflussung von Theater und Fest zu erhalten.

Die Tagung begann mit einer Sektion zum Thema Sakralität. Feste, so liest man häufig, stellen eine Unterbrechung des Alltäglichen dar, die eine Erfahrung des ganz Anderen ermöglicht, die Raum und Zeit in ihrer gewöhnlichen Determiniertheit transzendiert und als heilig ausweist und die nicht zuletzt Transgressionen und Tabubrüche legitimiert. Vor dem Hintergrund dieser Forschungsposition wurde gefragt, ob und wie das Theater – zumal als Teil eines Festes oder Festivals – die Dimension des Sakralen behandelt.

Der erste Referent der Sektion, JOHN SCHEID (Paris), befasste sich in seinem Vortrag mit der Bedeutung von „Theater und Spielen im Rahmen der Ludi Saeculares von 17 vor und 204 nach Christus”. Anhand von verschiedenen Quellen wie Festprotokollen, literarischen Zeugnissen und Münzen untersuchte der Alt- und Religionshistoriker, die um Christi Geburt neu- bzw. wiederentstehenden römischen Ludi Saeculares (Generationsspiele). Diese nach dem römischen Bürgerkrieg durch Kaiser Augustus und Agrippa ins Leben gerufenen Spiele wurden veranstaltet, um den Anbruch eines neuen Jahrhunderts und die Erfolge der römischen Republik auch rituell zu begehen und zu manifestieren. Scheid arbeitete den wesentlichen Zusammenhang zwischen Ritual und Theater bei den römischen Ludi heraus, die einerseits in der Tradition der Rituale von Opfer und Orakel verhaftet waren und anderseits auch durch Theateraufführungen und sportliche Wettbewerbe charakterisiert wurden.

Dem im vorangegangen Beitrag aufgenommenen Faden der Untersuchung sakraler Feierlichkeiten folgte auch KATRIN KRÖLL (Berlin/Freiburg) in ihrem Vortrag „Die mittelalterlichen Verkehrungsfeste junger Kleriker im Spannungsfeld von Liturgie, Kirchenpolitik und weltlicher Macht“. Sie setzte sich aus theaterwissenschaftlicher Perspektive mit Festen junger Kleriker auseinander, die in der Weihnachtszeit für einen Tag den Gottesdienst eigenverantwortlich gestalteten und hohe kirchliche Ämter übernahmen. Seit dem 17. Jahrhundert und bis heute bewertet die Forschung diese hierarchieverkehrenden Feste als ein Relikt der antiken Saturnalien und Kalendenfeste und somit als eine heidnisch-kirchenfremde Tradition, die mit der – als Theaterklamauk interpretierten – Wahl von Kinder- und Narrenbischöfen den Gottesdienst parodiert habe. Kröll wies mittels eines großen, bei der Theoriebildung bisher unberücksichtigten Quellenkorpus (Gottesdienstordnungen, Rechnungsbüchern, Kapitelsprotokollen und Schatzkammerverzeichnissen) nach, dass die sakralen Handlungen nicht parodiert, sondern mit besonderer Feierlichkeit gestaltet wurden.

Der Kunsthistoriker JOSEPH IMORDE (Rom/Berlin) befasste sich in seinem Vortrag „Rom im Heiligen Jahr 1600. Sakralität, Medialität, Öffentlichkeit im eucharistischen Kult“ mit religiösen Festen unter der Ägide des Papstes Clemens VIII. In seinem Beitrag veranschaulichte Imorde anhand von historischen Ereignissen, wie sehr die Eucharistie und damit die inszenierte "Heiligkeit" in theatraler und performativer Zurichtung als Medium für die öffentlich wirksame Vermittlung genutzt wurde. Die Verbannung weltlicher theatraler Darbietungen machte den sakralen Inszenierungen im Heiligen Jahr 1600 Platz, denn wie wohl in keinem Jubeljahr zuvor beförderte und inszenierte Clemens VIII. aus politischen wie aus persönlichen Gründen die unerschöpfliche Ausübung des eucharistischen Kultes. Imorde zufolge bemühte sich Clemens VIII. darum, der breiten Öffentlichkeit den Anschein seiner Erwähltheit zu vermitteln. Über diese Verbindung von Ritualität und Theatralität hinaus legte Imorde anschaulich dar, dass das z.B. das performative Weinen Clemens VIII. über die eigentliche geistliche Funktion hinaus eine weitere kirchenpolitische Dimension hatte, die in der öffentlich sichtbaren Verteidigung des von protestantischer Seite angegriffenen Gnadenverhaltens (Buße) der katholischen Kirche bestand.

Zum Abschluss des ersten Konferenztages eröffnete sich durch den Vortrag von NATASCHA SIOUZOULI (Berlin) „Sakralität und Sakralisierung im Kontext europäischer Theaterfestivals“ eine weitere aufschlussreiche Perspektive auf das Thema Sakralität. Siouzouli konstatierte, dass die Gegenwart der modernen Theaterfestivals Europas essentiell von ihrer realen bzw. von einer konstruierten Vergangenheit bestimmt sei. Diese spezifische Verhaftung in Traditionen, beispielsweise durch die Proklamation von Gründungsmythen bzw. ideologischen Leitfragen, beobachtete die Theaterwissenschaftlerin auf modernen Theaterfestivals in Epidaurus und in Avignon. Dabei wurde augenfällig, dass jeweils der Rekurs auf die Vergangenheit wesentlich durch das Heilige oder durch religiöse Rituale mitbestimmt ist. Beispielsweise liegt durch den Einsatz eines historisch oder religiös aufgeladenen Raumes ein Theaterraum vor, in dessen Mitte sich erst die transformatorische Kraft der Theatergemeinschaft manifestieren kann. Siouzouli führte diese Verwendung von Dispositiven der Sakralität und/oder Techniken der Sakralisierung auf modernen Theaterfestivals auf ein Bedürfnis der Festivalinitiatoren und Besucher nach einer vermittelbaren Tradition zurück, an dessen Ende die ewige Suche nach einer idealen, heiligen Festgemeinde steht.

Gegenstand des zweiten Konferenztages war das Verhältnis von Theater und Fest im Zeichen von Medialität. Einerseits wurden die spezifischen Formen der Medialität und Bildlichkeit betrachtet, die durch theatrale Feste und festliche Theateraufführungen hervorgebracht werden. Andererseits standen im Mittelpunkt der Beiträge Fragen danach, wie und auf welche Weise bestimmte mediale Strategien Aspekte des Festgeschehens inszenieren und reflektieren: die Masse, Monumentalität oder Macht, aber auch Exzess, Freude oder Sakralität.

Den zweiten Tag der Konferenz eröffnete die Archäologin CORNELIA ISLER-KERÉNYI (Zürich) mit einem Vortrag über den Patron des antiken Theaters: über „Dionysos am Parthenon“ auf der Athener Akropolis. Isler-Kerényi ging der Frage nach, wie und warum in Skulptur, Vasenmalerei und auf Münzen im 5. Jh. vor Chr. aus dem älteren, kämpferischen Dionysos ein junger, athletischer, aber friedfertiger Mann wurde. Erstmals wurde der so genannte „neue“ Dionysos nämlich auf dem Ostfries des Parthenon (erbaut 447-432 v. Chr.) als liegender Jüngling dargestellt. Aus der Perspektive der Schau und des Schauens näherte sich Isler-Kerényi der sich wandelnden Dionysos-Ikonografie. Dionysos’ ostentativer Blick im Fries ist auf „sein“ Theater am Fuße des Tempels gerichtet, er ist bei der im selben Fries dargestellten Athena-Geburt anwesend und nicht in die kämpferischen Szenen des Frieses verwickelt. Die Archäologin interpretierte diesen „neuen“ Dionysos vor dem Hintergrund der historischen Situation der Entstehungszeit als Friedensgott, dessen prominente Position im Parthenonfries die Pax Atheniensis besiegeln soll: Dionysos, an einem derartig repräsentativen Gebäude auf der Akropolis, wird zum Inbegriff und Mittler der nach den Perserkriegen neu angebrochenen friedfertigen Ära Athens.

Auch der nächste Beitrag beschäftigte sich mit der griechischen Antike. Die Altphilologin FROMA ZEITLIN (Princeton) unterzog in „Troy and Tragedy: The Conscience of Hellas“ die griechischen Tragödien, die sich mit Troja und dem trojanischen Krieg beschäftigen, einer Revision. Zeitlin betonte dabei, dass die mit einer Katastrophe endenden Tragödien gerade nicht in Athen spielten, Athen also kein tragischer Ort sei. Während Theben als schattenhaftes Selbst, als tragischer Doppelgänger Athens fungiere, sei Troja nicht lediglich ein anderer Ort, sondern – aufgrund seiner völligen Zerstörung durch die Griechen – ein Nicht-Ort. Troja, argumentierte Zeitlin, sei das Gewissen Griechenlands, ein Ort, an dem die für die griechische Kultur so wichtigen Gegensätze von Griechen und Barbaren, Mann und Frau, Freund und Feind in besonders radikaler Weise verhandelt werden. Zeitlin ging es dabei weniger um die Einbettung der Tragödien in ihren historischen, politischen und sozialen Kontext, sondern um die Kreativität des Tragikers, diese Themen und Muster immer wieder neu zu strukturieren und zu deuten und damit schließlich um die Freiheiten beziehungsweise Einschränkungen der griechischen Tragödie.

Der nachfolgende Beitrag „Hören, Gehen und Sehen – Schrift, Raum und Bild. Zur Medialität des geistlichen Spiels“ des Mainzer Theaterwissenschaftlers FRIEDEMANN KREUDER (Mainz) vertiefte die mediale Perspektive des vorherigen Vortrags. Kreuder untersuchte anhand der wenigen überlieferten Bühnenpläne der Passionsspiele von Alsfeld (1501), Bozen (1514) und Luzern (1470 und 1583) die Funktion und Bedeutung von Raum als mediale Komponente einer Aufführung im Rahmen eines Festes. Methodisch rekurrierte er dabei auf die aktuelle Theoriebildung zum Raum und legte dar, welche neuen Perspektiven und Erkenntnisse damit im Hinblick auf seinen Untersuchungsgegenstand, die Simultanbühne des geistlichen Spiels, zu erlangen sind. Er betrachtete den Bühnenraum hinsichtlich seines symbolischen Gehalts, aber auch unter Berücksichtigung seiner bildlichen und sinnlichen, akustischen, visuellen und physiologischen Wirkung. Häufig wurde für die Aufführung des geistlichen Spiels der Marktplatz der betreffenden Stadt zu einer Simultanbühne umgestaltet, auf der die einzelnen Stationen der Heilsgeschichte räumlich gegliedert werden konnten; der öffentliche Raum wurde auf diese Weise zu einem mnemotechnischen Medium umfunktioniert.

Die Kunsthistorikerin ALICE JARRAD (Cambridge) befasste sich in ihrem Vortrag „The Materiality of Marvel” mit dem florentinischen und römischen Operntheater im 16. Jahrhundert. Als Ausgangspunkt ihrer Erläuterungen führt Jarrad den bekannten Bericht von Plinius d. Ä. (23-79 n. Chr.) über einen künstlerischen Wettstreit zwischen den Malern Zeuxis und Parrhasios an. In der durch die Kunsttheoretiker der Renaissance stark rezipierten Geschichte geht es um die detailgetreue und täuschendechte Darstellung der Wirklichkeit in Bildern. Das Phänomen des Erstaunens, das durch das Betrachten eines Bildes ausgelöst wird, findet Jarrad auch in der römischen und florentinischen Theaterpraxis der Zeit wieder. Ausstattung und Aufführungen sind voller Elemente, die darauf ausgelegt sind perspektivische Illusion vorzutäuschen und visuelle Effekte durch den Einbezug von Maschinen entstehen zu lassen.

MARTIN BAUMEISTER (München) beschäftigte sich in „Theater und Metropolenkultur um 1900“ gleichsam mit der Vorgeschichte zu seiner Habilitationsschrift „Kriegstheater“, in der er Kriegserfahrung, Propaganda und Selbstmobilisierung der deutschen Gesellschaft anhand des Berliner Theaters untersucht hatte. Der Historiker zeigte, wie sich das theatrale Angebot der Hauptstadt in der Zeit des Kaiserreichs zu einem Massenmarkt ausweitete und wie sich das Medium Theater vor diesem Hintergrund veränderte. Um sich dem komplexen und sich ständig wandelnden Berliner Unterhaltungsmarkt nähern zu können, illustrierte Baumeister seine Ausführungen anhand von Einzelbeispielen (u. a. Walhalla-Theater). Er beschrieb das Theater als „Seismograph und Spiegel“ der Transformation des städtischen Lebens, aber auch als Akteur in einem intermedialen Austauschprozess, der an der Entstehung eines neuen städtischen Publikums beteiligt war.

Während sich Baumeister auf das Theater als Institution und Medium konzentriert hatte, untersuchte der Historiker TOBIAS BECKER (Berlin) in „Staging Modernity. Populäres Theater in Berlin und London um 1900“ das Geschehen auf der Bühne. Becker ging der Frage nach, wie die drei um 1900 wohl populärsten Bühnengenres Revue, Operette und Musical Comedy die Moderne – verstanden nicht als künstlerische Bewegung, sondern als transnationaler, soziokultureller Transformationsprozess – inszenierten. Becker untersuchte den Umgang des populären Theaters mit der Moderne anhand der Inszenierung von Technik (Flugzeug und Schreibmaschine), Massenkonsum (Warenhaus und Werbung) und neuen Geschlechterrollen. Auf dieser Grundlage argumentierte er, dass das populäre Theater, sich selbst als modern verstehend, die Moderne überwiegend positiv porträtiert habe. Dadurch habe das Theater, Beckers Deutung zufolge, Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen vermittelt und somit einen Beitrag zur gesellschaftlichen und individuellen Anpassung an die Moderne, zur „inneren Modernisierung“ geleistet.

Beendet wurde die Sektion durch einen Vortrag des Theaterwissenschaftlers HENRI SCHOENMAKERS (Erlangen/Nürnberg), der unter dem Titel „Das Medium ist die Massage“ theoretische Überlegungen zu Medialität, Theater und Fest anstellte. Schoenmakers betonte die Notwendigkeit körperlicher Anwesenheit für die Herstellung eines Festes. Während Filmvorführungen auf Festen eher unüblich seien, ließen sich doch viele Beispiele für die enge Verbindung von Festen mit Theater, Opern- oder Tanzaufführungen finden. Schoenmakers erklärte dies durch den live-Charakter, der sowohl Theater als auch Fest auszeichne, und durch den sich das Theater besonders als Bestandteil von Festen eigne. Anhand von verschiedenen historischen Beispielen machte der Theaterwissenschaftler deutlich, dass gerade diese Beziehung besonders fruchtbar und spannungsreich sei. Er kam zu dem Schluss, dass die Medien, je mehr sie sich zur „emotionalen Massage“ eigneten, umso besser geeignet seien sich mit Festen zu verbinden.

Am letzten Tag der Konferenz wurde die Verbindung von Theater und Fest unter dem Gesichtspunkt ihrer Öffentlichkeit betrachtet. Denn Öffentlichkeit ist sowohl für Theateraufführungen, als auch für Feste konstitutiv. Diskutiert wurde, wie und in welcher Form rückwirkend auch Theater und Fest spezifische öffentliche Räume kreieren und wie demzufolge die Entstehung sozialer und politischer Gemeinschaften beeinflusst wird. Dabei wurde auch die Gegenüberstellung von Öffentlichkeit und Privatheit, wie sie sich in der Sphäre von Familie, Verein oder Adelshof antreffen lässt, in den Vorträgen der Sektion nicht vernachlässigt.

Eröffnet wurde die Sektion von dem Theaterwissenschaftler STEFAN HULFELD (Wien), der sich in seinem Beitrag „Imaginäre Öffentlichkeit. Die Theaterfeste der Medici“, dem vermeintlich öffentlichen und repräsentativen Raum florentinischer Theaterpraxis von 1539 bis 1589 widmete. In einem Spannungsbogen, ausgehend von frühneuzeitlichen Reflexionen über den idealen Baukörper für Fest und Spiele nach dem Vorbild Antike, vertrat Hulfeld die provokative These, dass in der frühen Neuzeit das Ideal einer egalitären Öffentlichkeit in der Form eines gesellschaftlich zentralen und jedem offen stehenden Fest- und Theaterraums nie realisiert werden konnte. Lediglich im privaten Rahmen, wie bei den Festen der Medici in Florenz und später an einigen Höfen konnten Theaterräume in Form eines antikisierenden Theatrums verwirklicht werden. Diese Räume standen jedoch keinesfalls einer großen Öffentlichkeit zur Verfügung, sondern waren einigen wenigen Privilegierten vorbehalten.

Kaum ein Genre hat im Paris des 19. Jahrhunderts eine so große Öffentlichkeit mobilisiert wie das der Revue. Ihr ging der Historiker CHRISTOPHE CHARLE (Paris) in seinem Vortrag „Un genre paradoxal, les revues d’actualités à Paris, 1852-1912“ nach. Für Charle stellt die Revue deswegen ein „paradoxes Genre“ dar, weil sie zum einen von kommerziellen Theatern gespielt wurde, die sich an ein Massenpublikum wandten, zum anderen aber durch ihre satirische Stoßrichtung einkalkulierte, einen Teil des Publikums zu brüskieren. Obwohl die Revue ständig sowohl durch die Zensur als auch durch ihre – gerade im Vergleich zu ihrer begrenzten Laufzeit – hohen Kosten für Ausstattung bedroht war, gewann sie, wie Charle mit Hilfe einer Fülle von historischen Zeugnissen (Bilder, Theatertexte, Statistiken, Zeitungsberichte) überzeugend demonstrierte, im Laufe des 19. Jahrhunderts kontinuierlich an Popularität.

Blieb bei Charle das Publikum eher abstrakt, so zeigte der britische Theaterhistoriker JIM DAVIS (Warwick) in seinem Vortrag „Redefining the Nineteenth Century London Theatre Public: Questions of Evidence and Interpretation“ auf, wie sich das Londoner Theaterpublikum im 19. Jahrhundert veränderte und mit Hilfe welcher Methoden und Quellen es sich erforschen lässt. Davis argumentierte, dass sich durch die genaue Untersuchung einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen (Spielpläne, Programmhefte, Gerichtsverfahren, Fahrpläne, Demographie usw.) viele generalisierende Theorien über das Theaterpublikum entkräften lassen. Er bezog dabei Position gegen eine auf das Theater übertragene Lesart Michel Foucaults, die komplexe Entwicklungen auf simplifizierende Stichworte wie Disziplinierung und Zivilisierung reduzieren will. Generalisierungen müssten vielmehr sehr viel vorsichtiger als bisher vorgenommen und die ganze Breite der Überlieferung berücksichtigt werden. Von dem Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts lasse sich, wenn überhaupt nur sehr bedingt reden.

Der Theaterwissenschaftler PLATON MAVROMOUSTAKOS (Athen) lenkte den Blick auf die Rezeption der antiken Tragödien im Griechenland des 20. Jahrhunderts. Sein Beitrag „Ancient Greek Drama as a National Issue – Reactions of Reviewers and the Public to Performances of Ancient Greek Drama after 1970“ setzte ein mit der Aufhebung der Exklusivität des griechischen Nationaltheaters in den 1970er Jahren, die eine Öffnung und Pluralisierung der Theaterfestival bewirken sollte. Wie Mavromoustakos zeigte, rief diese Öffnung jedoch den Widerstand der Kritiker auf den Plan, die besonders seit den 1990er Jahren eine engstirnige Kampagne gegen ästhetische Experimente – in ihren Augen „beleidigende Aufführungen“ – führten.

Den Schlusspunkt der Tagung setzte der Historiker ACHATZ VON MÜLLER (Basel) mit einem fulminanten Rundumschlag: „Eine symbolische Öffentlichkeit des Schreckens. Was haben vormoderne Tierhinrichtungen, Otto Muehls Theater, Aldo Moro und Abu Ghraib miteinander zu tun?“ Müller verglich interkulturell und diachron die Theatralität stellvertretender Grausamkeiten in ihren scheinbar segregierten Räumen. Durch die Kombination von auf den ersten Blick vollkommenen unverbundenen Ereignissen und Bildern brachte Müller den Betrachter dazu, seine Blickkonventionen zu hinterfragen. Die anschließende, teilweise sehr emotionale Diskussion zeigte, dass ihm diese Provokation gelungen war.

Leider kann hier nicht auf die sehr lebhaften Diskussionen unter Beteiligung vieler weiterer Gäste eingegangen werden. Besonders positiv anzumerken ist jedoch, dass ein intensiver und fruchtbarer Austausch über die Grenzen der verschiedenen Disziplinen und einzelnen Epochen, Regionen oder Gegenstände hinweg geführt wurde. Dass es diese gewollte und gelungene Pluralität nicht gestattete, das Verhältnis von Theater und Fest auf eine einfache Formel herunter zu brechen, muss als ein Vorteil gewertet werden. Indem die Konferenz diese Beziehung in einer beeindruckenden Breite ausleuchtete – ohne jedoch ihre ganze Komplexität erfassen zu können – zeigte sie, welches Potential in der kombinierten Untersuchung von Theater und Fest liegt. Für deren zukünftige Erforschung trug „Staging Festivity“ durch die Diskussion der verschiedenen Fragen, Probleme, Lösungsansätze und Methoden maßgeblich bei. Derzeit arbeitet der Forschungsverbund „Theater und Fest in Europa“ an einer Publikation, die die Ergebnisse der Tagung zusammenfasst und die Vorträge in ausführlicher Form präsentiert.

Konferenzübersicht:

I. Sakralität

John Scheid (Paris): „Theater und Spiele im Rahmen der Ludi Saeculares von 17 vor und 204 nach Christus“

Katrin Kröll (Berlin/Freiburg): „Die mittelalterlichen Verkehrungsfeste junger Kleriker im Spannungsfeld von Liturgie, Kirchenpolitik und weltlicher Macht“

Joseph Imorde (Rom/Berlin): „Rom im Heiligen Jahr 1600. Sakralität, Medialität, Öffentlichkeit im eucharistischen Kult“

Natascha Siouzouli (Berlin): „Sakralität und Sakralisierung im Kontext internationaler Theaterfestivals“

II. Medialität

Cornelia Isler-Kerényi (Zürich): „Dionysos am Parthenon“

Froma I. Zeitlin (Princeton): „Troy and Tragedy: The Conscience of Hellas“

Friedemann Kreuder (Mainz): „Hören, Gehen und Sehen – Schrift, Raum und Bild. Zur Medialität des geistlichen Spiels“

Alice Jarrard (Cambridge, MA): „The Materiality of Marvel. Opera Theater in Seventeenth-Century Florence and Rome“

Martin Baumeister (München): „Theater und Metropolenkultur um 1900“

Tobias Becker (Berlin): „Staging Modernity. Populäres Theater um 1900 – Berlin und London im Vergleich“

Henri Schoenmakers (Erlangen/Nürnberg): „Das Medium ist die Massage: Medialität, Theater und Fest“

III. Öffentlichkeit

Stefan Hulfeld (Wien): „Imaginäre Öffentlichkeit. Die Theaterfeste der Medici“

Christophe Charle (Paris): „Culture théâtrale et culture médiatique, la vogue des revues et spectacles d’actualité à la fin du XIXe siècle“

Jim Davis (Warwick): „Redefining the Nineteenth-Century London Theatre Public: Questions of Evidence and Interpretation“

Platon Mavromoustakos (Athen): „Ancient Greek Drama as a National Issue - Reactions of Reviewers and the Public to Performances of Ancient Greek Drama after 1970“

Achatz von Müller (Basel): „Eine symbolische Öffentlichkeit des Schreckens. Was haben vormoderne Tierhinrichtungen, Otto Muehls Theater, Aldo Moro und Abu Ghraib miteinander zu tun?“

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