Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter

Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter

Organisatoren
DFG-Schwerpunktprogramm 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“
Ort
Villigst/Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.03.2008 - 02.04.2008
Von
Tim Geelhaar, Lehrstuhl Mittelalterliche Geschichte I, HU Berlin; Verena Türck, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Mit der International Spring School präsentierte sich das DFG-Schwerpunktprogramm 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ (im Weiteren: SPP) erstmals einem breiteren Publikum. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2004 bewilligt, nahm es 2005 seine Arbeit auf. Derzeit umfasst das SPP 22 Einzelprojekte mit Bearbeitern und Bearbeiterinnen aus 12 verschiedenen Disziplinen und von 14 deutschen Universitäten. Grundidee des SPP war es, nicht von dem Europa einer lateinisch-christlichen Einheitskultur auszugehen, sondern vielmehr auf Grundlage der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam nach der Dialektik von Integrations- und Desintegrationsprozessen in Europa zu fragen.
Die International Spring School fand zur Mitte der sechsjährigen Laufzeit des SPP statt. Ihr Ziel war es, einerseits unter Bezug auf den ersten Ergebnisband1 eine Zwischenbilanz der bisherigen Arbeit zu ziehen, andererseits unter Mitwirkung einer Reihe internationaler, namhafter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Stand der Dinge zu diskutieren sowie neue Impulse für die zweite Hälfte der Laufzeit zu gewinnen. Hierzu waren knapp 30 Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Disziplinen eingeladen, die in ihren Vorträgen und Workshops die verschiedenen Regionen und Kulturen des mittelalterlichen Europas perspektivenreich behandelten. Dementsprechend war die Spring School in sich abwechselnde Vortrags- und Workshopabschnitte eingeteilt worden.

BERND SCHNEIDMÜLLER (Geschichte, Heidelberg), einer der beiden Sprecher des SPP, eröffnete die International Spring School mit einem Referat über Konzept und Ziele des Forschungsvorhabens. Es sei als Antwort auf den Wandel der modernen Kulturwissenschaften initiiert worden und versuche für die Mediävistik eine Antwort auf die neuen Tendenzen zur Europäisierung und Internationalisierung der Wissenschaften. Hieraus ergäben sich Fragen nach der Einheit Europas und der gemeinschaftsstiftenden Funktion der Religionen. Als die drei Pfeiler des SPP benannte Bernd Schneidmüller die Transdisziplinarität, also die über Interdisziplinarität hinausgehende Integration von Themen, Methoden und Fragestellungen der beteiligten Fächer, die Transkulturalität, die die Geschichte Europas als Epoche permanenten Austauschs begreife, und das Ende der Geradlinigkeit im historischen Verständnis durch das Wechselverhältnis von Integration und Desintegration.

In zweistündigen Workshops stellten anschließend die drei transdisziplinären SPP-Foren ihre jeweilige Arbeitsweise und ihre Forschungsergebnisse zur Diskussion. Das übergreifende Thema des Arbeitsforums A lautete „Wahrnehmung von Differenz – Differenz der Wahrnehmung“; Arbeitsforum B präsentierte „Kontakt und Austausch zwischen Kulturen im europäischen Mittelalter“, Arbeitsforum C die „Gewalt im Kontext der Kulturen“.

In seinem Vortrag mit dem Titel „L’anthropologie historique du Moyen Âge (perspectives et méthodes)“ griff JEAN-CLAUDE SCHMITT (Geschichte, Paris) die Transdisziplinarität des SPP auf. Er skizzierte die Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft durch ihre Öffnung hin zu anderen Disziplinen und Methoden wie der Soziologie Max Webers, der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss und zuletzt der historischen Anthropologie von Clifford Geertz und Jack Goody. Als Beispiele für Themen der historischen Anthropologie ging Schmitt auf die Arbeiten zu Verwandtschaft und Mythen ein. Ziel müsse die Relativierung des im Christentum wurzelnden Superioritätsgedankens sein.

ISRAEL YUVAL (Jüdische Studien, Jerusalem) wies in seinem Vortrag zum Thema „Wie ‚christlich’ waren die Juden Europas im Mittelalter?“ auf die Bestrebungen der aschkenasischen Juden hin, christliche Kultur zu übernehmen, und beschrieb das Phänomen des Jesus-Neides, welcher sich in der Stilisierung Isaaks zu einer Art „jüdischem Jesus“ im Talmud ausdrücke. Daneben zeigte Yuval die gegenseitige Abhängigkeit von Judentum und Christentum im Spannungsfeld von Integration und Desintegration in Europa auf. So sei der reale Einfluss der Juden im Laufe des Mittelalters immer schwächer geworden, gleichzeitig hätten beide Schwesterreligionen im Ringen um das gemeinsame Erbe die Marginalität des Judentums verkannt. Das Judentum habe in ständigem Kontakt mit dem Christentum als Gegenbild zum Christentum oder als Feindbild durch das Anderssein für das Christentum gelebt.

ROBERT OUSTERHOUT (Byzantinische Kunstgeschichte, Philadelphia) plädierte in seinem Vortrag zu „Architecture and Cultural Identity in the Eastern Mediterranean“ für eine Einbeziehung der Architekturgeschichte in die Erforschung kultureller Beziehungen, da Gebäude alternative Geschichten zu erzählen wüssten und die textuelle Überlieferung ergänzen und korrigieren könnten. Die Kreuzfahrerarchitektur im Heiligen Land zeige, dass die Übernahme eines Baustils wie des Kreuzgewölbes nicht unmittelbar die Übernahme von Bautechniken bedeutet habe. Die Umsetzung eines patronalen Willens sei wesentlich durch die Bauleute und deren kulturelle Prägungen mitbestimmt worden; auch ein Wechsel der politischen Vorherrschaft habe die Weiterführung von Baupraktiken nicht direkt berührt. Multilinguale Gesellschaften wie in Palermo hätten durch die Einbindung verschiedener Gruppen von Bauleuten zu einem „multiarchitectural design“ geführt.

Einen ganz anderen Ansatz verfolgte EDUARDO MANZANO MORENO (Islamwissenschaften, Madrid) in seinem Vortrag „Did Religions Coexist Peacefully in Medieval Spain?”, indem er über die Situation des Historikers zwischen Forschung und gegenwärtiger Politik reflektierte. So würde heute von Politikern gerne Spanien im Mittelalter als ein Beispiel für das friedliche Zusammenleben von Islam und Christentum herangezogen. Tatsächlich hätten die Religionen im mittelalterlichen Spanien nie friedlich koexistiert, auch sei der Islam des Mittelalters von dem heutigen Islam zu unterscheiden. Manzano Moreno plädierte dafür, sich in den Geschichtswissenschaften nicht dem politischen Druck zu beugen und die Geschichte für die Bürger (Citizens) zu schreiben.

GABOR KLANICZAY (Geschichte, Budapest) setzte sich („Mendicant Orders in East-Central Europe and the integration of cultures“) mit der These auseinander, die Bettelorden hätten die Urbanisierung Ungarns vorangetrieben, und bedachte die Rolle der Bettelorden als Integrationsfaktor Ungarns nach Westeuropa. Die These sei nicht zu halten, da die ungarischen Könige die Mendikanten in bestehende Städte gerufen hätten. Die Bettelorden hätten vielmehr durch die Adaption der aus dem Westen herrührenden dynastischen Heiligenverehrung (hl. Elisabeth, hl. Hedwig von Schlesien und die hl. Margarete von Ungarn) die ungarischen Könige an den Westen herangeführt. Die Verehrung der hl. Margarete in Italien sei gleichzeitig Beleg für den Erfolg der Westanbindung.

SVERRE BAGGE (Geschichte, Bergen: „The Integration of Scandinavia into Western Christendom“) stellte die enge Verbindung zwischen der Christianisierung und der „Staatsbildung“ in Skandinavien vor. So seien die Grenzen der im 11. Jahrhundert entstandenen Königtümer Dänemark, Norwegen/Island und Schweden auch entlang der Grenzen der Bistümer entstanden. Daneben hätten die kirchlichen Verwaltungsstrukturen der Bistümer als Modell für die Organisation der Königreiche gedient.

CHRISTIAN KIENING (Literaturwissenschaft, Zürich) näherte sich in seinem Abendvortrag „Christologische Medialität und religiöse Differenz“ der Dialektik von Integration und Desintegration in Bezug auf das Verhältnis von Juden und Christen an. Er bezog eine an Christus entwickelte „Mediologie“ der Vormoderne auf das Donaueschinger Passionsspiel und erkannte die wichtige Funktion des Judentums als Folie christlichen Denkens.

Das Referat von JOHN TOLAN (Geschichte, Nantes) mit dem Titel „The Legal Status of Religious Minorities in the Medieval Mediterranean World: A Comparative Study” stellte die Situation der im Königreich Sizilien lebenden Muslime im 12. Jahrhundert der Situation der lateinischen Christen im Heiligen Land im 13. Jahrhundert gegenüber. Demnach sei es Muslimen zwar verboten gewesen, in „nichtgläubigen“ Gebieten zu leben, jedoch hätten sie bei fehlender Alternative nicht ihre Integrität verloren; vielmehr sollten sie zum Beispiel in Sizilien bleiben, um den islamischen Einfluss zu sichern. Den Christen im Heiligen Land sei es erlaubt gewesen, mit zum Islam konvertierten Ehepartnern oder anderen Familienmitgliedern weiter zusammenzuleben. Tolan warnte vor jeglicher Generalisierung und verklärten Sicht auf die „Toleranz“ zwischen Christen und Muslimen, vielmehr müsse immer die spezifische Situation beim Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen beachtet werden.

Die Direktorin der Gennadius Library of the American School of Classical Studies in Athen, MARIA GEORGOPOULOU (Kunstgeschichte, Athen), beschrieb „Refashioning Byzantium in Thirteenth-Century Venice“, und legte dar, wie Venedig nach dem Fall Konstantinopels 1204 nicht nur Kunst aus Byzanz importiert und den byzantinischen Stil übernommen habe. Vielmehr habe sich in Venedig die Bildsprache in byzantinischer Manier verändert. Außerdem sei es auch zur Verlagerung von byzantinischen Produktionsstätten nach Venedig gekommen. Diese Prozesse sprächen dafür, dass das ehemals periphere Venedig bewusst Nachfolgerin Konstantinopels in der Mittelmeerwelt werden wollte.

Zwischen den einzelnen Plenarvorträgen erörterten die in- und ausländischen Experten Themen und Fragestellungen aus der eigenen Forschung in je zweistündigen Workshops.

Zum Abschluss nutzte MICHAEL BORGOLTE als einer der beiden Sprecher des SPP die Gelegenheit zur kritischen Bilanz wie auch für einen Blick in Zukunft. Die Dialektik von Integration und Desintegration sei noch längst nicht erschöpfend untersucht; die These vom Fehlen einer Einheitskultur Europas habe sich noch nicht in der Wissenschaft durchgesetzt. Außerdem müsse der Tendenz vorgebeugt werden, Regionen ihrer herrschenden Religion gemäß einander gegenüberzustellen; solche Konstrukte einheitlicher Kulturzonen führten in Aporien. Hingegen habe sich der Ansatz eines monotheistischen Mittelalters als erfolgreich erwiesen, der erstens eine Abgrenzung zur Antike ermögliche und zweitens auf eine generelle Gemeinsamkeit der Menschen im Mittelalter verweise. So produktiv die Konzentration auf den Monotheismus auch sei – war doch in ihm zwischen Anhängern der verschiedenen Monotheismen sowohl Konflikt als auch Verständigung angelegt –, gelte es diesen Aspekt um innerreligiöse Konflikte zu erweitern, da auch Häresien dem Religionstyp des Monotheismus entsprächen und ebenfalls zu Integration und Desintegration geführt hätten. Darüber hinaus müsse über eine Erweiterung des Untersuchungsraumes um Nordafrika und Vorderasien nachgedacht werden: Es ließe sich fragen, ob es nicht eine monotheistische Weltzone vom Atlantik bis Indien gegeben habe.
Als weiterführenden Ansatz, der aus Konzeption und Ergebnissen des SPP resultiert, präsentierte Michael Borgolte das Konzept der religiösen Räume. Darunter seien Räume zu verstehen, die sich als Produkte sozialer Begegnung vorwiegend religiöser Prägung konstituieren. Im Sinne des spatial turn seien sie nicht essentiatialisch als „objektive“ geographische Gebilde mit festen Grenzen aufzufassen. Beispiele für Beziehungsnetze dieser Art seien liturgische Prozessionen, Kreuzzüge, Gelehrtenreisen, die sich mit räumlichen Netzwerken anderer Art, etwa denen des Handels, überlagerten.

Plenarvorträge und Workshops passten sich gut in die Thematik des SPP ein und boten eine wertvolle Grundlage zu angeregten Diskussionen, in denen es immer wieder auch um grundsätzliche Methodenfragen und Begrifflichkeiten ging. Insgesamt gelang es den Veranstaltern, ein eindrucksvolles Spektrum an aktuellen Forschungen zu den drei monotheistischen Religionen und zum Konzept eines von Integration und Desintegration geprägten europäischen Mittelalters aus interdisziplinärer und internationaler Perspektive der Fachöffentlichkeit zu präsentieren.

Die Veranstalter werden die Vorträge in einem Sammelband veröffentlichen.

Kurzübersicht:

Plenarvorträge:

Jean-Claude Schmidt (Paris): „L'Anthropologie historique du Moyen Âge (Perspectives et méthodes)“
Israel Yuval (Jerusalem): „Wie ‚christlich’ waren die Juden Europas im Mittelalter?“
Robert Ousterhout (Philadelphia): „Architecture and Cultural Identity in the Eastern Mediterranean“
Eduardo M. Moreno (Madrid): „Did religions coexist peacefully in Medieval Spain?“
Gábor Klaniczay (Budapest): „The medicant orders in East-Central Europe and the integration of cultures“
Sverre Bagge (Bergen): „The integration of Scandinavia into Western Christendom“
Christian Kiening (Zürich): „Medialität in mediävistischer Perspektive“
John Tolan (Nantes): „The legal status of religious minorities in the medieval Mediterranean world: a comparative study“
Maria Georgopoulou (Athen): „Refashioning Byzantium in thirteenth-century Venice“

Workshops:

Nora Berend (Cambridge): „The concept of Christendom: a rhetoric of integration or disintegration?“
Corinna Bottiglieri (Salerno): „Kulturzentren, Buchproduktion und Literatur im Süditalien zwischen Langobarden Normannen.“
Krijnie Ciggaar (Leiden) / Dorothea Weltecke (Konstanz): „New texts and manuscripts from eastern mediterranean. Publication, translation, interpretation.“
Wolfram Drews (Bonn) / Almut Höfert (Basel): „Sakralmonarchie im transkulturellen Vergleich.“
Ásdís Egilsdóttir (Reykjavík): „Saints, Books and Textual Culture in Medieval Iceland.“
Kurt Villads Jensen (Odense) / Kirsi Salonen (Rom): „Integration and disintegration through crusading.“
Benjamin Kedar / Cyril Aslanov (Jerusalem): „Problems in the Study of Transcultural Borrowing in the Frankish Levant.“
Karin Krause (Basel) / Gia Toussaint (Hamburg): „Transfer und Rezeption von Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge.“
Hartmut Kugler (Erlangen): „Romanisch-germanischer Literaturtransfer.“
Svetlana Luchitskaya (Moskau): „Christian-Muslim Perceptions in the epoch of the Crusades (narrative and visual sources).“
Ilgvars Misans (Riga): „Handel und konfessionelle Ost-West-Konfrontation: Verbindende und trennende Faktoren in der Begegnung der hansischen und russischen Kaufleute im Mittelalter.“
Apostolos Spanos (Kristiansand) / Nektarios Zarras (Athen): „Representations of emperors and royals as saints in Byzantine textual and visual sources.“
D. Fairchild Ruggles (Illinois, USA): „Women in medieval Islamic Mediterranean society: exchange, difference and continuity.“

Anmerkung:
1 Borgolte, Michael; Schiel, Juliane; Schneidmüller, Bernd; Seitz, Annette (Hrsg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, Berlin 2008.

Kontakt

Prof. Dr. Michael Borgolte
Humboldt-Universität
Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter
Unter den Linden 6
10099 Berlin
Tel. 030/20932233

E-Mail: borgoltem@geschichte.hu-berlin.de

http://www.spp1173.uni-hd.de/spring_school_08.html
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