Das Fremde der eigenen Kultur. Mittelalter im Stummfilm

Das Fremde der eigenen Kultur. Mittelalter im Stummfilm

Organisatoren
DFG-Graduiertenkolleg „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“
Ort
Rostock
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.01.2008 - 26.01.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Nicole K. Konopka, Europäische Ethnologie; Ronald Richardt, Germanistische Mediävistik, Universität Rostock

Unter dem Titel „Das Fremde der eigenen Kultur – Mittelalter im Stummfilm“ fand am 25. und 26. Januar 2008 das dritte Symposium des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“ an der Universität Rostock statt. Die Veranstalter stellten sich damit der Herausforderung, Konzeptionen des Kulturkontakts nicht nur auf synchroner, sondern auch auf diachroner Ebene zu erproben. Dabei galt es, einen hermeneutischen Zweischritt über die Vermittlungsstufen der Stummfilmzeit und –kultur des frühen 20. Jahrhunderts hinweg zur mittelalterlichen Kultur zu vollziehen, wie GESA MACKENTHUN (Rostock), Sprecherin des gastgebenden Graduiertenkollegs, eingangs herausstellte. Durch das Ensemble Hunnenblut wurde zudem anlässlich des Symposiums Die Nibelungen. Eine Fantasie für Salon=Orchester von Jans Joseph Vieth nach Motiven von Gottfried Huppertz‘ Filmmusik zu Fritz Langs Film „Die Nibelungen“ wieder aufgeführt.

Im Eröffnungsvortrag unterstrich CHRISTIAN KIENING (Zürich) den Zusammenhang von Fremdheitsdarstellung und Stummfilm. Er wies darauf hin, dass die Macht des Kinematographen in der Zeit des Frühen Films durch die Vergegenwärtigung von zeitlich oder räumlich Entferntem erwiesen werden sollte, und erklärte damit die Dominanz der frühzeitig etablierten exotischen und historischen Sujets. In diesem Kontext sei auch Manfred Noas Nathan-Film von 1920 anzusiedeln. Das Mittelalter-Ambiente auf orientalischem Terrain diene hier der Erzeugung einer doppelten Fremdheit, die auf eine Dezentrierung des westlichen Denkens abziele und so die Frage aufwerfe: „Wer sind hier eigentlich die Fremden?“. Die ins detailliert gezeichnete jüdische Leben einfallenden Christen erscheinen nämlich „eigentümlich fremd als selbstgefällige, schematisch urteilende Patriarchen“. Im Zentrum des Films stehe die Ringparabel, die bei Noa nicht nur eine religions-, sondern auch eine menschheitsgeschichtliche Utopie darstellt. Mit dieser Utopie wandten sich Noa und der ebenfalls jüdische Produzent des Films gegen den zunehmend antisemitischen Kontext der 1920er Jahre, doch konnte sie aufgrund massiver Repressalien der Nationalsozialisten kaum Wirkung entfalten.

Die Darstellung des Fremden im Film der Weimarer Republik untersuchte WOLFGANG KABATEK (Berlin) in seinem Vortrag „Lektüren am Menschen – Aspekte medientechnisch generierten Körperwissens von Alterität“. Die Ambivalenzen innerhalb nationaler Selbstbilder als Symbole gradueller Verfremdung führte Kabatek auf die emotionale Verunsicherung des Unbehaustseins während der Weimarer Republik zurück. Demnach sei das Mittelalter in dieser allumfassenden Krise zum idealisierten Bezugspunkt eines Bedürfnisses nach Einheitskultur und Ordnung. Das Profil einer nationalen Identität sei dabei durch explizit nationale Themen und Bilder geformt und zum Allgemeinbild des Einzelnen instrumentalisiert worden. Die gezielte Suche nach nationaltypischen Sujets habe der permanenten Modellierung des nationalen Zugehörigkeitsgefühls unter Rückgriff auf bekannte Modelle und Symbole gedient. Am Beispiel der Physiognomie demonstrierte Kabatek, wie sich das Lesbarkeitsbegehren der Zeit in einem Vermessungswahn der Wissenschaft spiegelte.

Der Musikwissenschaftler und Komponist RAINER FABICH (Weilheim) widmete sich in seinem Vortrag „Die Nibelungen – Eine Filmpartitur aus der Stummfilmzeit“ der auditiven Seite des Langschen Filmes. Fabich betonte die Ähnlichkeit von Film und Musik als „verlaufende Künste“, da sie sich sukzessive verändern. Ebenso wie die Bildsprache nutze die Musik Leitmotive, darüber hinaus aber auch musikalische Deskriptionen und Musikszenen, die die filmische Darbietung begleiten und ergänzen. Im Gegensatz zur Bildsprache, die durch den technischen Fortschritt und einen veränderten visuellen Anspruch des Publikums weniger nachvollziehbar geworden wäre, sei die Filmmusik ein universeller Vermittler, wie in der anschließenden Diskussion deutlich wurde. Obgleich es bezüglich des Abstraktionsgrades der Musik im Rahmen der Debatte durchaus unterschiedliche Meinungen gab, bestand doch allgemeiner Konsens über den immensen Einfluss der Filmmusik auf ein Medium, dessen Titel – Stummfilm – im Grunde irreführend ist.

In ihrem Vortrag „Zur Mittelalter-Rezeption in Fritz Langs Die Nibelungen“ kombinierten FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL und HARTMUT MÖLLER (beide Rostock) Bild- und Musikanalyse. Holznagel baute seine Ausführungen zum Mittelalter im Stummfilm auf der Überlegung auf, dass Fritz Langs Nibelungenlied-Film mittels unvertrauter Zeichen einen Eindruck von Fremdheit erzeugen und zugleich Zeichen liefern musste, die vom Stummfilm-Publikum decodierbar waren. Die Beibehaltung der meisten Körperzeichen des mittelalterlichen Textes sei aufgrund ihrer irreduziblen Historizität unmöglich gewesen. Unter Rückgriff auf sehr verschiedene Quellen kam es daher im Film zur „Erfindung einer neuen Kunstwelt“ mit mittelalterlichem Anstrich. Die Zusammenführung der diversen Zeichenreservoire sei Lang durch ein semiotisches Verfahren geglückt, für das Holznagel das Konzept der „Superzeichen“ einführte. Darunter seien hochgradig ikonische Zeichen zu verstehen, die ein Setting bilden, das einen als mittelalterlich geltenden imaginären Raum definiert. In diesem Bezugsrahmen würden dann auch die anderen Zeichen als mittelalterlich umcodiert.
Hartmut Möller wandte dieses Erklärungsmodell auch auf die Filmmusik an. Da die musikalischen Zeichensysteme des Mittelalters zur Zeit der Filmentstehung weitestgehend unbekannt gewesen seien, wären gängige musikalische Zeichen (Exotik, diatonische, chromatische, Ganzton-Tongeschlechter etc.) aufgegriffen worden, die Fremdheit vermittelten und zugleich decodierbar waren. So fungierten leere Quinten als Superzeichen für das Archaische und erzeugten den Effekt des Mittelalterlichen. Auch auf dieser Ebene ist also ein Dialog zwischen Körperzeichen und musikalischen Elementen zu konstatieren. Für Huppertz‘ Filmmusik sei zudem eine decodierbare Differenz charakteristisch, etwa bei der Fragmentierung von Akkorden der Leitthemen, durch die ein Reichtum je individueller Varianten erzielt wird, oder bei der Bildung neuer semantischer Einheiten durch die freie Kombination verschiedener Leitthemen.
Die von den Vortragenden betonten Resemantisierungsprozesse – exemplarisch dargestellt anhand der Kulturbegegnung zwischen Kriemhild und Etzel – wurden von anderen Diskussionsteilnehmern in den historischen und ästhetischen Kontext von Imperialismus und Modernismus gestellt. Langs Kunstwerk, so wurde vorgeschlagen, könne auch analog zum Geschichts- und Exotismusdiskurs führender Modernisten wie Joseph Conrad gelesen werden. So könne argumentiert werden, dass Lang aus dem fragmentarischen und hybriden Zeichenrepertoire vergangener und fremder Kulturen eine eigene „Theorie“ des Zusammenlebens der Kulturen entwickelt, die überkommene Herrschaftshierarchien potentiell in Frage stellt.

Das Symposium bot die seltene Gelegenheit, den Zusammenhang von Fremdheitsdarstellungen und Stummfilm ausführlich zu diskutieren. An verschiedenen Beispielen wurde deutlich, dass der sich etablierende Frühe Film seine Leistungsfähigkeit durch die Überwindung historischer wie geographischer Distanzen bewies. Fremde Kulturen und das Fremde der eigenen Kultur beherrschten daher die Leinwand. Der Anspruch des Mediums auf Authentizität und Unmittelbarkeit wurde zur kreativen Herausforderung, indem es mit mangelndem Kenntnisstand (z.B. über mittelalterliche Musik) sowie mit der Erwartungshaltung und den Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums in Konflikt geriet. Daher inszenierte der Stummfilm letztlich eine eigene Kunstwelt, und erfand so sein eigenes Mittelalter.

Konferenzübersicht:

Christian Kiening (Zürich): Ein Medium erfindet sich seine Klassiker. Zur „Nathan“-
Verfilmung von Manfred Noa (1920)

Wolfgang Kabatek (Berlin): Lektüren am Menschen. Aspekte medientechnisch generierten
Körperwissens von Alterität

Rainer Fabich (Weilheim): Die Nibelungen - Eine Filmmusikpartitur aus der Stummfilmzeit

Die Nibelungen. Eine Fantasie für Salon=Orchester (1925). Von Jans Joseph Vieth nach Motiven von Gottfried Huppertz, aufgeführt durch das Ensemble Hunnenblut (HMT, Rostock).

Franz-Josef Holznagel und Hartmut Möller (Rostock): Körperzeichen zwischen Mittelalter
und Moderne. Zur Mittelalter-Rezeption in Fritz Langs „Die Nibelungen“


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